Kapitel 1

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Mir ist kalt. Ich grabe meine Hände tief in die Taschen meiner Winterjacke. Der Wind bläst mir um die Ohren. Ich ziehe mir meine Fellkaputze weiter ins Gesicht. Die Eiseskälte schneidet mir in die Haut und meine Augen tränen vom kalten Wind. Ich bewege die Finger in meiner Jackentasche, um ein kleines Fünkchen Wärme herbeizuzaubern, stoße dabei jedoch nur an Kaugummipapier und Taschentuchpäckchen. Die Straße ist von Eis übersät, sodass es mir schwer fällt, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne auszurutschen. Der Winter hat die Welt verzaubert. Alles ist weiß, die Bäume tragen weiße Kronen und die Welt scheint nicht aufhören zu können zu glitzern und zu glimmern. Doch hinter dieser unscheinbaren Kulisse steckt etwas, dass es jedes Jahr schafft, mich allein zum Schaudern zu bringen. Wäre ja auch komisch, wenn das bei mir nicht so wäre.

Da sehe ich es schon. Mitten im Glimmern und Glitzern steht das, mit schwarz-grauen Mustern bemalte Schloss. Die Außenwände zeigen schwarze Schnörkel, Tiere, Blumen und Engel bis hin zu Halbmenschen. In den Fenstern ist nichts zu erkennen. Ich erklimme die Stufen, die zum Eingang führen. Hoffnungen, dass es drinnen wärmer sein würde mache ich mir nicht. Eine alte schwarz angestrichene Holztür dient als Eingang. Die Farbe Splitter jedoch schon ab und man kann auf braune Flächen blicken. Die Tür ist wie immer angelehnt. Ich nehme meine halb eingefrorenen Hände aus den Taschen und drücke die Tür am goldenen Türgriff einen Spalt weiter auf, sodass ich hindurch passe. Die Tür knarrt und ächzt. Ich habe mir nicht zu viel versprochen, denn drinnen übersäen Eisblumen und Schneekristalle den Marmorfußboden und die grau gefliesten Wände. Eiszapfen hängen von den goldenen Kronleuchtern an der Decke. Kein Wunder, wenn hier immer die Tür offen steht. Ich trete ein und gehe die langen Gänge entlang, vorbei an Marmortreppen mit goldenen Inschriften neben glänzenden Diamanten. Alles hier scheint wie eingefroren. Ich biege um eine Ecke und gehe zielstrebig dahin, wo man mich hinbestellt hat. Ich klopfe an die einzige braune Tür im Schloss. Auf der goldenen Tafel, die mit Nägeln an der Tür befestigt ist, steht die Inschrift Mr. Shiver. Ganz schön gruselig dieser Name. Er beschreibt den Dämon aber nur annähernd, denn was sich hinter dieser Tür verbirgt, ist mehr als gruselig und mehr, als nur ein Alptraum. Und wie immer, wenn ich vor dieser Tür stehe frage ich mich: Warum bin ich hier? Und wie immer weiß ich, dass er mich sonst umgebracht hätte. Er hätte mich gefunden. Er hätte abermillionen von Schattenjägern und anderen blutrünstigen Monstern erschaffen und sie auf mich gehetzt. Sie hätten mich gefunden. Für gewöhnliche Menschen unsichtbar wären sie hinter mir her gewesen. Da komme ich lieber aus freien Stücken, auch wenn dieser Ort mehr als gruselig ist.

Gespannt, was Mr. Shiver mir zu sagen hat, betrete ich den Raum. In der Mitte des Raumes steht ein großer Schreibtisch, davor zwei klapprige Holzstühle. Hinter dem Schreibtisch sind ein großer Ledersessel und zwei Fenster. Ansonsten wirkt der Raum sehr dunkel und abweisend. Die Fenster stehen offen und die langen, schweren, dunkellilanen Vorhänge wehen im Wind. Ich zittere aus Angst, aber vor allem vor Kälte. Der Raum wirkt verlassen, so als wäre nie jemand hier gewesen, aber mir ist klar, dass Mr. Shiver hier ist. Er tut das nur, weil er will, dass ich gehe, damit er seine Schattenjäger auf mich hetzen kann, denn er liebt es, mich zu verfolgen.

"Mr. Shiver?", rufe ich in den Raum, bekomme jedoch keine Antwort. Doch so leicht gebe ich nicht auf. "Sir?", rufe ich nochmals, in der Hoffnung auf eine Antwort, "Sie hatten mich gebeten, zu Ihnen zu kommen." Jetzt tritt er hinter einem der wehenden Vorhänge hervor, so als hätte er die ganze Zeit schon da gestanden. Seine Augen sind zwei große, schwarze Punkte, sein Gesicht ist kreidebleich, eine Nase besitzt er nicht und seine roten Lippen, die wie geschminkt aussehen, grinsen ein überdimensional breites Grinsen. Er trägt einen schwarzen Kaputzenumhang, der ihm bis zu den Füßen geht. Beim Gehen sieht es so aus, als würde er über den Boden schweben, dennoch hört man seine Schritte auf dem Marmorfußboden klacken. "Natürlich hatte ich das", antwortet er und grinst noch breiter. "Setzen Sie sich doch, Ms. Collins", bietet er mir an, während er sich in seinem Ledersessel sinken lässt. Ich bleibe stehen und rühre die beiden klapprigen Holzstühle vor dem großen Schreibtisch nicht an. "Also", beginne ich mit zitternder Stimme, "was wollen Sie, Sir?" Er sieht mich lange an. Dann sagt er: "Dass Sie sich das nicht selbst denken können." "Sagen Sie es mir, Mr. Shiver", sage ich und versuche so etwas aus ihm herauszubekommen. Alles muss man ihnen aus der Nase ziehen, diesen Dämonen. Jedes einzelne Wort muss man ihnen von den Lippen lesen.

"Die Winter werden immer kälter", fängt er endlich an, "Für mich ist das nicht sehr erfreulich." "Dagegen kann ich aber leider nichts tun", erwidere ich etwas wütend, weil er so unwissend tut, "Ich leide genauso, wie Sie darunter, Mr. Shiver. Der Sommer fehlt mir besonders jetzt sehr. Den Winter zu gestalten, das ist aber die Aufgabe der Winterkönigin." "Womit wir schon beim Thema wären", sagt er, "setzen Sie sich doch Ms. Collins." Ich weiß, dass er etwas vor hat, dass er irgendetwas plant, weshalb ich mich unbedingt setzen soll. Ich bin wütend auf ihn - wann war ich das noch nicht? - und will ihm beweisen, dass ich keine Angst vor ihm habe, also setze ich mich. "Besorgen Sie mir die Winterkönigin. Die alte ist gestorben", sagt Mr. Shiver und sieht mich mit einem durchdringenden Blick an. Er hat sie umgebracht, die alte Winterkönigin. Sie war wunderbar. Seit sie nicht mehr da ist sind die Winter mörderisch geworden. Seither gibt es viel zu viel Schnee und es ist viel zu kalt. Die Winter selbst sind an die Übermacht gekommen. Jemand muss sie bändigen und das kann nun mal nur die Winterkönigin. Ich weiß, dass ich die einzige bin, die die neu bestimmte Winterkönigin aufsuchen kann, denn nur ich bin halb Mensch und halb Wesen und Mr. Shiver und sein Heer aus sonderbaren Kreaturen sind für normale Menschen, und vorerst auch für die neue Winterkönigin, unsichtbar, ich sehe aber nicht ein, dass ich für seine Fehler hinhalten muss. Er hat Crystal umgebracht, einfach so. Sie war wundervoll. Die Winterkönigin zu finden ist nich einfach und ich werde immer wütender.

"Was passiert, wenn ich das nicht tue?", frage ich ihn, verschränke meine Arme vor der Brust und sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er lehnt sich vor und stützt den Kopf auf seinen Händen auf. Mr. Shiver blickt mich an, so wie er es immer tut, wenn er genervt ist. Für kurze Zeit scheint es so, als würde er lächeln. Das Lächeln verschwindet kurz darauf aber wieder. Dann erhebt er sich. Gespannt, was jetzt passiert, betrachte ich ihn. Er fängt an sich zu drehen, immer schneller und schneller. Sein Umhang fliegt um ihn herum. Der Umhang sprüht Staub und Asche. Ja, für einen Moment sieht es so aus, als würde sein Umhang Staub und Asche sprühen. Schließlich verwandelt er sich in einen einzigen Wirbelsturm aus Staub und Asche. Er kommt immer weiter auf mich zu. Der Wirbelsturm tost und dröhnt in meinen Ohren, doch trotzdem höre ich, seine Schritte. Mr. Shiver hat sich in einen ohrenbetäubenden Wirbelsturm verwandelt, der mit klackenden Schritten immer weiter auf mich zukommt. Jetzt steht er direkt vor mir. Wenn ich jetzt etwas sagen, oder einfach nur schreien würde, dann könnte ich mein eigenes Wort nicht verstehen, aber er kommt noch näher. Der Staub kratzt fürchterlich in meiner Nase. Meine Augen tränen von der Asche. Nun sitze ich mitten im Wirbelsturm. Kurz darauf weicht er auch schon wieder zurück. Ich merke, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Ich bin mit Armen und Beinen an den Stuhl gefesselt. Mein Ohr wird dem Krach des Wirbelsturms nicht mehr lange standhalten können.

Ich kann mich gerade noch rechtzeitig ducken, denn plötzlich schießt ein Messer, mit langer Klinge, aus dem Wirbelsturm, haarscharf an meinem Kopf vorbei und bleibt mit einem Knall in der Holztür hinter mir stecken. "Jetzt wissen Sie, was Ihnen bevorsteht, wenn Sie die Winterkönigin nicht besorgen, Amy Collins", höre ich Mr. Shivers Stimme. Ein Rabe fliegt aus dem Wirbelsturm. Der tosende Lärm hört schlagartig auf und Asche und Staub fallen leblos zu Boden, als wenn sie nie in Bewegung gewesen wären. Der Rabe verschwindet mit kräftigen Flügelschlägen aus dem Fenster.

Aus Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt