Kapitel 5

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Ich schließe die Haustür auf. Es ist Nachmittag und ich sehe den bunten Bus von Tante Marla schon vor der Tür stehen. Bei jedem Besuch hat Marla ein Bild mehr auf den Bus gemalt. Sie kommt jedes Mal den Weiten Weg mit dem Auto. Als ich sie zuletzt gesehen habe, war ich vier Jahre alt. Heute habe ich ausnahmsweise mal einen Schlüssel mitgenommen, sicher ist sicher. Ich will mich gerade nach oben schleichen, da laufe ich geradewegs Tante Marla in die Arme. Sie hat einen grünen gefilzten Pulli an. Ihre rote lockere Hose gleicht einem Rock und an den Füßen trägt sie wie immer ihre geliebten braunen Mokassins. Ihre grauen langen Locken hat sie sich mit einem braunen Zopfgummi oben auf ihrem Kopf zu einer Palme zusammengebunden. Sie ist sehr hübsch und ich frage mich wie immer, warum sie sich mit ihrer Kleidung so verdammt hässlich macht. "Hallo Amy", sagt sie plötzlich und reißt mich aus meinen Gedanken, "Gefällt dir etwas an meinem Outfit nicht?" Tante Marla schaut mich fragend an. Sie muss wohl bemerkt haben, wie ich sie gemustert habe. "Alles super", gebe ich schnell zurück und gehe in die Küche. Jetzt wo sie mich gesehen hat, brauche ich mich auch nicht mehr in meinem Zimmer zu verstecken. Ich hänge meine Jacke über den Stuhl und setze mich. Mum verteilt Kuchen. Marla ist die Frau des Bruders meiner Mutter. Ich habe den Bruder von Mum nie kennen gelernt. Er soll irgendwo ganz weit weg leben. Marla ruft öfters an und kommt ungefähr alle fünf Jahre zu Besuch. Eigentlich hasse ich diese Besuche. Ich habe aber so ein komisches Gefühl, dass dieser Besuch anders ist als die tausenden Telefongespräche und der letzte Besuch bei Tante Marla in Chicago.

Marla starrt meinen Arm mit dem außergewöhnlichen Muttermal an. Ich habe es seit ich auserwählt wurde, die Sommerkönigin zu sein. Es sieht anders aus als normale Muttermale, aber doch irgendwie gleich. Es ist schwer zu beschreiben. Ich wühle in meiner Schultasche nach dem Geschenk, dass ich extra noch für Marla besorgen sollte. Während sie ihren Kuchen in Rekordgeschwindigkeit in sich hinein schaufelt, wird mir bewusst, dass ich ihr Geschenk im Bus vergessen habe. Also fange auch ich an, meinen Kuchen zu essen. Tante Marla hat ihren Kuchen schon auf gegessen und blickt jetzt Mum an. Mum nickt und verlässt die Küche. Marla streicht mir über den Kopf. Als Mum aus der Küche verschwunden ist, hat Tante Marla immer noch ihre Hand auf meinem Kopf liegen. "Ein lebendiger Vogel frisst Ameisen, jedoch wenn er stirbt, fressen die Ameisen ihn", sagt sie und schaut mir tief in die Augen. Mum scheint davon nichts mitzubekommen. "Verhältnisse können sich mit der Zeit ändern und das Blatt wird irgendwann gewendet", fährt sie fort, "Unterdrücke, verachte oder verletze niemanden während deiner Lebenszeit, Amy. Vielleicht bist du heute stark, aber vergiss nicht, die Zeit ist immer stärker als du. So wie man aus einem Baum Millionen von Streichhölzern herstellen kann, so braucht man nur ein Streichholz, um Millionen Bäume niederzubrennen." Sie sieht mich mit ihren hellblauen Augen an, die wie Kristalle glänzen und streicht mir über mein blondes Haar. Ich schaue sie fragend an. "Was soll das bedeuten, Tante Marla?", frage ich sie. "Das wirst du noch früh genug erfahren und diese Worte werden dir eine Hilfe sein. Bewahre sie in deinem Herzen und mit der Zeit wirst du sie immer mehr verstehen", antwortet sie und verlässt ebenfalls den Raum.

Verwundert sitze ich vor meinem Kuchen. Was sollte das? Marla hat mir schon immer solche Profezeihungen erzählt, aber noch nie habe ich mich dabei so gefühlt, wie jetzt. Ich schiebe meinen Teller zur Seite. Jetzt ist mir der Appetit vergangen. Ich streiche mit meinen Fingern über das Muttermal und es fängt dabei an golden zu glitzern. Das hat es schon immer getan. Es war somit die erste magische Kraft, die ich selbst entdeckt hatte. Danach kamen die gelbroten Feuerbälle, die ich erschaffen kann und das Feuer, das ich leiten und beherrschen kann. Das allerschönste aber war für mich das Erschaffen von Regenbögen. Jetzt weiß ich so ziemlich alles, was man als Sommerkönigin wissen muss. Oder vielleicht doch nicht? Was Marla gesagt hat, das habe ich nicht verstanden. Weiß sie etwa etwas von meinen magischen Kräften? Weiß sie vielleicht sogar, dass ich die Sommerkönigin bin? Ich will den Dingen auf den Grund gehen und verlasse die Küche. Die Tür vom Wohnzimmer in den Flur ist angelehnt.

"Du darfst ihr nicht helfen, das ist viel zu riskant", höre ich Mum sagen. "Ich kann das arme Mädchen doch nicht hilflos diesem Menschenmörder überlassen", antwortet Marla. "Wenn er erfährt, dass du genau die gleichen Fähigkeiten wie Ethan hast, wird er dich genauso wie ihn mit einem Bann in seinem Wald gefangen halten", antwortet Mum, "Willst du dein ganzes Leben hier wirklich nur für Amy aufs Spiel setzen?" Ich schiebe die Tür einen Spalt weiter auf und sehe Marlas verzweifelten Blick. "Ich würde alles dafür geben um diesem Dämon das Handwerk zu legen", sagt sie. Vor lauter Schreck stolpere ich in den Raum und sehe die erschrockenen Blicke von Mum und Marla. Ich schaue von Mum zu Marla und von Marla zu Mum. "Ihr wusstet die ganze Zeit davon?", frage ich entsetzt, "Ihr wusstet davon und habt mir nie etwas gesagt?" "Amy...", stammelt Mum und will mich beruhigen, doch sie weiß nicht, was sie sagen soll. "Ihr wusstet die ganze Zeit schon davon und habt mir nichts gesagt, nur um selbst nicht in Gefahr zu geraten. Ich habe mich jahrelang damit gequält, es niemandem zu sagen, mit niemandem darüber zu sprechen und alles alleine zu meistern. Nach Crystals Tod war alles für mich vorbei. Ich hatte niemanden mehr, dem ich vertrauen konnte. Nur um selbst nicht so zu leiden, wie ich es schon immer musste, habt ihr mir nichts davon erzählt. Es sollte für immer geheim bleiben, damit ihr wie normale Menschen zu sein scheint. Leider ist euer Plan nicht aufgegangen und ihr werdet schon bald wie "Ethan" gefangen sein? Mum, Marla, wer ist Ethan?", ich blicke sie fragend an. "Amy, Ethan Brown ist mein Bruder", antwortet Mum mit zitternder Stimme.

Ich hätte es wissen müssen. Mr. Brown ist mein Onkel. Er kann seit seiner Geburt wegen irgendeinem Fehler Mr. Shiver als schwarzen Raben und sein Heer, so wie es geschaffen wurde, sehen. Mr. Shiver weiß das und hält ihn deshalb gefangen. Tante Marla hat die gleichen Fähigkeiten, wovon Mr. Shiver aber noch nichts weiß. Ich hätte es wissen müssen. Ihre ständigen Profezeihungen und dieses komische Outfit, ihr merkwürdiges Auto und die ständigen Besuche hätten mich stutzig machen müssen. Wie naiv ich war, zu glauben, dass niemand etwas davon bemerken würde, wie dumm und naiv von mir.

Mittlerweile habe ich mich auf mein Zimmer verbarrikadiert. Ich habe es satt angelogen oder besser gesagt angeschwiegen zu werden. Erst erzählt Mum mir nichts von der Situation mit Dad und jetzt stellt sich heraus, dass sie mir mein Leben lang verheimlicht hat, dass sie mehr über mich weiß als ich selbst. Wieder liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Mr. Brown soll mein Onkel sein? Er war der einzige, dem ich vertrauen konnte und wollte. Mr. Shiver hält ihn gefangen, nur um sich selbst zu schützen. Kein Mensch soll jemals von ihm erfahren. Das war vielleicht auch der Grund, warum ich nie jemandem davon erzählt habe. Mr. Shiver hat mir Angst gemacht. Er hat mich eingeschüchtert und mir immer damit gedroht, mich umzubringen. Mr. Brown hat er gefangen gehalten. Er wollte mir helfen, damit ich nicht so leide, wie er. Jetzt muss ich ihm etwas zurück geben. Ich muss die Winterkönigin finden und Mr. Shiver vernichten. Zusammen sind wir stärker als er. Zusammen werden wir ihn besiegen.

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Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten.
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Aus Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt