Kurz darauf klopft es an meiner Zimmertür. "Amy!", höre ich Tante Marlas Stimme aus dem Flur in mein Zimmer rufen. Ich antworte nicht. Sie rüttelt an der Türklinke, unter die ich von der Innenseite einen Stuhl gestellt habe. "Amy mach auf", ruft sie verzweifelt und rüttelt weiter an der Tür, "Du hast keinen Grund, sauer zu sein!" Plötzlich fällt der Stuhl, dessen Lehne unter der Türklinke klemmt, um und gibt Marla den Weg in mein Zimmer frei. Ich springe von meinem Bett und schaue direkt in ihr runzeliges Gesicht. "Ich habe keinen Grund sauer zu sein?", frage ich und schreie sie dabei an, um ihr klar zu machen, dass ich sauer bin, "Ihr lügt mich mein Leben lang an und lasst mich in dem Glauben ich könne mich niemandem anvertrauen, nur damit eure Chance gegen Mr. Shiver nicht sofort gleich null ist und ich habe keinen Grund sauer zu sein?" Sie sieht mir lange tief in die Augen. Ich werde immer wütender, weil sie sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Irgendwann weicht sie meinem Blick aus, geht an mir vorbei und sieht aus dem Fenster in unseren Garten. "Wir wollten dich beschützen, Amy", sagt sie schließlich in einem Ton, den ich noch gar nicht von ihr kenne. Ich antworte nicht. Als Marla sich zu mir dreht, werfe ich ihr einen Bösen Blick zu und laufe aus dem Zimmer. Ich laufe die Treppe herunter und renne durch die Haustür. Eiskalter Wind kommt mir entgegen. Ich beginne zu zittern, renne aber immer schneller.
Der Weg bis zum Wald kommt mir ewig vor. Endlose Straßen und Wegkreuzungen fliegen an mir vorbei. Der kalte Wind schneidet mir in mein Gesicht. Ich richte meine Hand nach vorne. Der kniehohe Schnee bildet eine Gasse, sodass ich hindurch laufen kann. Als ich schließlich den Wald erreiche, renne ich durch das Dickicht in Richtung der Lichtung. Nasse, schneebedeckte Blätter kleben mir im Gesicht. Äste knacken unter meinen Füßen. Meine Hände beginnen zu zittern. Als ich endlich die Lichtung erreiche, sinke ich vor lauter Kälte und Erschöpfung am Boden zusammen. Meine Beine sind weich und ich spüre meine Zehen nicht mehr.
Plötzlich sehe ich ein erschrockenes Gesicht über mir. Es ist Mr. Brown. "Ist alles okay?", fragt er mich, "Was ist passiert?" Ich kann nicht antworten. Meine Zähne schlagen aufeinander und meine Zunge ist wie eingefroren. Mr. Brown nimmt mich auf den Arm. Sein Wintermantel ist dick und warm. Meine Energie ist aufgebraucht. Nicht einmal selbst bewegen kann ich mich. Dieser Winter ist mörderisch. Mr. Brown trägt mich zum Eingang des Schlosses und öffnet die Holztür. Hier ist es auch nicht viel wärmer. Mir fallen vor lauter Erschöpfung die Augen zu. Ich höre seine Schritte auf dem Marmorfußboden. Er trägt mich endlos lange Marmortreppen nach oben und als ich meine Augen öffne stehen wir vor einer kleinen Tür. Ich sehe seine Atemluft, wenn er ausatmet als kleine Wolke vor seinem Mund in die Luft steigen.
Mr. Brown öffnet die kleine schwarze Tür zu seinem Büro. Ich bin zu erschöpft, um den Raum genau wahrnehmen zu können. Er setzt mich auf einer Couch an der Wand des Raumes ab und holt eine Decke aus einem alten Holzschrank. Als er mich zudecket merke ich, wie die Wärme langsam an mir empor steigt. Mr. Brown deckt mich mit einer zweiten Decke zu und ich fühle mich langsam wieder besser. "Wussten Sie auch von all dem mit Marla und meiner Mum?", frage ich schließlich mit zitternder Stimme und versuche den großen Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken. Mr. Brown sieht mich lange an. Er schaut betroffen zu Boden und nickt. "Sind Sie mir jetzt Böse, Amy?", fragt er schließlich. Ich weiß nicht wie ich antworten soll, aber eigentlich kann ich ja nur auf Marla und Mum böse sein. Mr. Brown habe ich noch nie etwas übel genommen. Er hat mir schließlich erst vor ein paar Minuten wieder das Leben gerettet. Immer wenn ich jemanden gebraucht habe, war er da. Er hat mir geholfen und dafür seine Freiheit geopfert. Deshalb kann ich ihm nicht böse sein, das kann ich ihm nicht antun. Also schüttele ich den Kopf. "Ihnen kann ich einfach nicht böse sein. Sie haben so viel für mich getan, Mr. Brown. Im Gegensatz zu Marla haben Sie selbstlos Ihre Freiheit geopfert, um mir zu helfen. Sie waren immer für mich da und deshalb kann ich Ihnen nur danken, Mr. Brown", sage ich schließlich. Er hebt den Kopf und lächelt. Aber dann verfinstert sich seine Miene und er fragt: "Sind Sie deshalb von Zuhause weggelaufen?" Ich sehe ihn nur an. Unsere Blicke treffen sich und er versteht mich sofort ohne Worte. Dann seufzt er und setzt sich zu mir auch die Couch. "Hör mir zu, Amy", sagt er in einem beruhigenden Ton. Ich bin erstaunt, dass er mich plötzlich mit "du" anspricht, sehe dann aber an seinem Gesichtsausdruck, dass er das bewusst getan hat. "Du darfst ihnen nicht böse sein", fährt er schließlich fort, "Sie haben das getan, um dich zu beschützen." "Sie haben mich angelogen, um mich zu beschützen? Das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Mir hat es nichts geholfen. Niemand hat mir geholfen. Niemand hat mich beschützt. Ich war ihm ausgeliefert. Nach Crystals Tod war ich ihm ausgeliefert und nur Sie waren da und sonst niemand", versuche ich mich zu rechtfertigen. Mr. Brown denkt nach. Ich sehe wie er grübelt und über das, was ich gesagt habe nachdenkt. Schließlich verdreht er die Augen und versucht, es mir zu erklären: "Amy, das ist alles ganz anders, als du denkst. Alles passiert aus einem Grund. Menschen ändern sich, damit du lernst, loszulassen. Dinge gehen schief, damit du zu schätzen weißt, wenn es gut läuft. Du glaubst einer Lüge, damit du lernst, nur dir selbst zu vertrauen und manchmal bricht etwas Gutes auseinander, damit etwas Schöneres zusammenkommen kann. Glaub mir, Amy, du wirst den Grund dafür, dass sie es dir nicht erzählen wollten noch früh genug selbst erfahren. Wichtig ist jetzt nur, dass du nicht aufgibst. Du musst die neue Winterkönigin finden, so schnell wie möglich. Je mehr du dich auf die Zeit konzentrierst, auf die Vergangenheit oder die Zukunft, umso mehr verpasst du das Jetzt, das Kostbarste was es gibt. Und jetzt ist nun mal deine Aufgabe das Wichtigste. Ich kann dir nicht dabei helfen, ich sitze hier fest. Geh zu Tante Marla. Ich weiß, dass sie dir helfen kann und wird. Und wenn du die Winterkönigin nicht für Mr. Shiver oder Marla oder deine Mum finden willst, dann tue es für mich und für die ganzen anderen Menschen da draußen, aber ganz besonders für dich. Du merkst selbst wie hart die Winter jetzt geworden sind. Geh zu Marla und findet die Winterkönigin. Ich weiß, dass ihr das gemeinsam schaffen werdet. Ich bin mir ganz sicher."

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Aus Feuer und Eis
FantasyDie sich wiegen, neigen und schauern. Über mystischen Gräbern trauern. Sie schauern: ihre duftenden Seelen Zittern in immerwährendem Leide. Sie weinen: auf ihrem weißen Kleide Schimmern die Tränen wie Juwelen. (Edgar Allan Poe; Das ruhelose Tal) Am...