Kapitel 2

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Es ist totenstill. Jetzt ist mir ganz und gar nicht mehr kalt. Ich bin stinksauer. Dieser Dämon hat die beste Winterkönigin aller Zeiten qualvoll sterben lassen und jetzt soll ich mich auf den Weg machen und zwischen rund 7,125 Milliarden Menschen diese eine auserwählte Person finden? Es könnte theoretisch jeder sein. Meine Mutter, mein kleiner nerviger Bruder Logan, meine durchgeknallte Englischlehrerin Mrs. Gibson, meine beste Freundin Emma oder irgendein anderer Mensch auf der anderen Seite der Erde. Crystal hatte nach dem Tod der Sommerkönigin mich suchen müssen. Seit ich sie kenne, hat sie nie gegen die Regeln verstoßen. Sie war immer für mich da, wenn ich sie brauchte. Jetzt soll ich etwa so sein wie sie? Ohne Grund hat er sie umgebracht, völlig ohne Grund. Meine Finger beginnen Funken zu sprühen, aus Wut auf Mr. Shiver. Eine perfekte unschuldige Winterkönigin umzubringen ist eine Untat. Plötzlich flammen Stuhl und Seil hell auf und ich sitze auf dem Fußboden. Neben der Asche von Mr. Shivers Umhang liegt jetzt auch die Asche von Stuhl und Seil. Ich stehe auf und klopfe mir den Dreck von der Hose. In der Tür steckt noch immer das Messer, ein einfacher hölzerner Griff und eine scharfe silbern glänzende Klinge. Ich streiche mit meinem Finger über das Holz. Schließlich nehme ich den Griff in die Hand und ziehe das Messer aus der Tür. Es spiegelt das Licht in alle Ecken des Raums und lässt ihn für die kleinsten Sekunden lebendig aussehen. Als ich die klinge berühre zucke ich zusammen und ein Tropfen Blut fällt auf den Fußboden. Ich stecke mir den Finger mit der Schnittwunde in den Mund und verlasse den Raum.

Auf dem Weg zum Ausgang betrachte ich das Messer genauer. Es ist schärfer als jedes superscharfe Küchenmesser. Mir ist sofort klar, dass dieses Messer mit Magie gemacht ist. Es ist keinesfalls ein stinknormales Küchenmesser. Ich lasse es in meine Jackentasche rutschen. "Ms. Collins!" Jemand ruft meinen Namen. Ich drehe mich um und sehe einen Mann mit grauen Haaren und einem schwarzen Frack auf mich zukommen. Erst als er näher kommt erkenne ich ihn. Es ist Mr. Brown. "Schön Sie zu treffen Ms. Collins", sagt er, "Was führt Sie hier her?" "Ich soll die neue Winterkönigin schnellstmöglich finden. Mr. Shiver hat mich herbestellt", antworte ich und bin irgendwie gleichzeitig erleichtert ihn getroffen zu haben. Jemandem davon zu erzählen tut mir irgendwie gut. "War er denn immer noch so schlecht gelaunt?", fragt Mr. Brown. Natürlich war er schlecht gelaunt. Er wollte mich umbringen. "Nein, er war ganz gut drauf", sage ich, denn ich will Mr. Brown nicht beunruhigen. Er macht sich ohnehin schon so viele Sorgen um mich. "Er hat dir eine schwere Aufgabe gegeben. Ich vermute leider, dass er sein Heer auf dich hetzen wird, wenn du das nicht tust", meint Mr. Brown. "Ich werde ihn nicht enttäuschen", sage ich so selbstbewusst wie nur irgendwie möglich, "Auf Wiedersehen. " "Auf Wiedersehen, Ms. Collins", verabschiedet auch er sich von mir und geht über die Marmortreppe zurück in sein Zimmer. Ich ziehe an der knarrenden Tür und steige die Treppen vom Schloss hinab.

Ein schwarzer Rabe fliegt Richtung Schloss und bleibt auf einem Fensterbrett sitzen. Er blickt in meine Richtung und scheint mich gesehen zu haben, denn kurz darauf sitzt er vor mir auf der Treppe. Sein Flügelschlag ist fast lautlos. Im Licht der Sonne sehen seine Federn lila glänzend aus. Ich trete einen Schritt zurück. Vor ihm entsteht eine lilane Rauchwolke. Als sich der Rauch wieder legt, steht Mr. Shiver vor mir. Ich gehe an ihm vorbei und versuche ihn zu ignorieren, doch er verfolgt mich bis ich stehen bleibe. Das Schloss liegt weit hinter mir. Ich wage nicht mich umzudrehen. "Auf Wiedersehen, Ms. Collins ", höre ich Mr. Shivers Stimme.

Ich spüre den Windhauch von leisen Flügelschlägen. Als ich mich umdrehe sehe ich wie sich violetter Rauch am Boden ablegt. Ein schwarzer Rabe fliegt Richtung Schloss und verschwindet in einem offenen Fenster mit violetten Vorhängen.

Was sollte das? Wieso kommt Mr. Shiver einfach nur um sich bei mir zu verabschieden? Ich stehe stocksteif da. Was wollte er von mir? Er kommt nie einfach nur so. Langsam gehe ich weiter Richtung Ausgang. Ich muss jetzt nach Hause. Dieser Wirbelsturm, der Staub und die Asche das alles erinnert mich an Crystals Tod. Er wird mich umbringen. Wenn ich mich nicht beeile, dann wird er mich umbringen. Ich war damals noch klein. Ich war viel zu klein um das alles zu verstehen. Als Crystal gestorben ist war ich erst 8. Ich hätte sie noch so viel Fragen wollen. Mr. Brown hat nach ihrem Tod ihre Aufgabe übernommen. Er war für mich da. Aber mit Crystal kann man niemanden vergleichen. Sie war wundervoll.

Ich erreiche den kleinen Wald, der das magische Schloss und diese komische märchenhafte Welt von meinem ganz normalen Leben trennt. Hier habe ich oft gestanden, als ich mich nicht ins Schloss getraut habe. Ich habe da gestanden und gewartet. Ich habe das Schloss beobachtet und an Crystal gedacht. Ich habe mir immer vorgestellt, was sie getan hätte. Manchmal hatte ich meinen kleinen Notizblock dabei und habe das Schloss abgemalt und mir Wege eingezeichnet, um Zuhause zu überlegen wie man unbemerkt hineinkommen könnte. Das war aber so gut wie unmöglich. Mum hatte immer gedacht, dass dieser Notizblock mein geheimes Tagebuch sei. Ich habe ihr nie etwas davon erzählt. Sie hätte mir sowieso nicht geglaubt. Das alles ist für normale Menschen nur eine große Lichtung mitten im Wald. Das Schloss, die bemalten Wände, der Marmorfußboden und die Diamanten sind für sie unsichtbar. Manchmal wünsche ich mir auch so normal zu sein wie alle anderen. Niemand weiß davon. Ich habe ein riesiges Geheimnis, das ich mit keinem Menschen teilen kann. Bald werde ich nicht mehr alleine sein. Bald sind wir zu zweit. Dann muss ich das Vorbild sein und alles Überlebenswichtige erklären.

Ich verlasse den Wald und laufe über die große Wiese. Von hier aus ist die kleine Stadt schon zu sehen. Auf der Wiese steht eine zugeschneite Holzbank, an die ich mein Fahrrad gelehnt habe. Ich schwinge mich auf das Rad und fahre den gestreuten Weg in Richtung St. Joseph. Mum regt sich immer auf, dass ich im Winter Fahrrad fahre, den ganzen Weg zu laufen wäre mir aber zu weit. Als ich in St. Joseph ankomme, kommt mir Mum mit ihrem Auto entgegen. "Bist du schon wieder mit dem Fahrrad unterwegs? Dabei hatte ich dir doch ausdrücklich gesagt, dass das im Winter viel zu gefährlich ist!", ruft sie aus dem Fenster und hält im Seitenstreifen an. "Ich war nur kurz im Wald. Jetzt bin ich ja wieder da und mir ist nichts passiert", versuche ich sie zu beruhigen. Mum schüttelt verzweifelt den Kopf und fährt ihre Fensterscheibe wieder hoch.

Als ich Zuhause ankomme merke ich, dass ich meinen Schlüssel vergessen habe. Mum holt Logan von seinem Baseballspiel ab und Dad wohnt schon seit über einem Jahr in Chicago. Ich lasse mein Rad vor der Tür stehen und gehe um das Haus herum in den Garten. Von hier aus kann ich mein Zimmerfenster sehen. Und ich habe mich nicht geirrt. Mum hat es wie immer offen gelassen. Also klettere ich am Rankgestell für die Efeupflanze, die rund um unser ganzes Haus wächst, bis zu meinem Zimmerfenster im ersten Stock hoch und gehe übers Fenster in mein Zimmer. Ich schließe das Fenster hinter mir und gehe zu meinem Regal. Meine Jacke lasse ich auf den Boden fallen In einer Schublade krame ich nach dem uralten Müsliriegel und setze mich nachdem ich ihn gefunden habe auf mein Bett. Die Nüsse sind schon zerquetscht und die Schokolade weiß angelaufen, aber ich bin zu faul und zu müde, um in die Küche zu laufen. Nachdem ich fertig bin werfe ich das Papier in den Mülleimer unter meinem Schreibtisch und lege mich auf mein Bett. Von der Müdigkeit überwältigt fallen mir kurz darauf auch schon die Augen zu.

Aus Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt