Kapitel 4

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Als wir nach weiteren drei Stunden in die Mensa gehen treffen wir auf Maggie. Sie läuft mit ihren zwei besten Freundinnen direkt auf uns zu. Alle tragen ihre rosane Tasche über dem Arm und sind total überschminkt. "Ich hol' mir mal was zu Essen", sagt John und steuert auf die Essensausgabe zu. Das macht er nur um Maggie nicht begegnen zu müssen. "Ach was? Du hier?", sagt Maggie und sieht mich mit einem hochnäsigen Blick an, "Ich dachte du wärst krank." Ich versuche sie zu ignorieren und ziehe Emma in Johns Richtung. Maggie sieht ihre Freundinnen an und alle fangen an in einem hochnäsigen Ton zu lachen. Emma verdreht die Augen und wir gehen zum Essen. Als wir einen Sitzplatz suchen fällt mir an der Pinnwand ein gelbgrüner Zettel auf. Ich stelle mein Tablett an einen Platz und gehe zur Pinnwand. Ganz oben auf dem Zettel steht die Überschrift: Frankreichaustausch. Das ist meine Chance. Auf einem Austausch könnte ich mehr Leute kennenlernen und so vielleicht diesen einen Menschen finden. Im Frühling geht's Los. Ich packe mein Handy aus und fotografiere den Zettel ab.

"Du willst beim Austausch mitmachen?", fragt mich John, als ich wiederkomme. "Das ist doch gar nicht dein Ding", meint Emma. Die beiden haben mich beobachtet als ich den Zettel abfotografiert habe. "Sowas hab ich noch nie gemacht", versuche ich sie davon zu überzeugen, "Ist doch vielleicht gar nicht so schlecht." Wenn die wüssten...

In der Mittagsschule fällt es mir schwer die Augen offen zu halten. Alles was unser Geschichtslehrer sagt kommt mir vor wie ein Wasserfall an Informationen. Irgendjemand von ganz hinten wirft ein Papierkügelchen nach vorne, doch unser Lehrer scheint das nicht bemerkt zu haben. Hoffentlich erlaubt Mum mir den Austausch. Ich stütze meinen Kopf auf meinem Arm auf. Dieses Schuljahr habe ich mich in Geschichte so gut wie nie gemeldet. Das liegt daran, dass ich erstens zu faul und meist zu müde bin meinen Arm zu heben und dass ich zweitens höchstwahrscheinlich eh nichts mehr von dem kapiere, was Mr. Wilson mich fragt. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn ich ein ganz normaler Mensch wäre und nichts von dieser anderen Welt wissen würde. Dann hätte ich mich jetzt aber auch nicht gemeldet.

Als ich nach Hause komme, halte ich Mum mein Handy hin. "Was ist das?", fragt sie und kneift die Augen zusammen, um den Bildschirm besser sehen zu können. "Ein Anmeldeformular für den Frankreichaustausch", antworte ich ihr. Sie legt das Handtuch, das sie gerade in den Händen hält beiseite und nimmt mir das Handy aus der Hand. Mit gekrauster Stirn betrachtet sie den Bildschirm. Es sieht aus als würde sie nachdenken. Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen und beiße auf meine Unterlippe. Mum schaut mich an. Ich schaue mit meinem süßesten Blick zurück. "Frag deinen Vater", sagt sie schließlich nach einer halben Ewigkeit, gibt mir mein Handy zurück und wendet sich schnell von mir ab.

Ich habe schon lange nicht mehr mit Dad telefoniert geschweige denn mit ihm gesprochen. Ob er und Mum noch zusammen sind weiß ich nicht. Sie und er haben sich zum letzten Mal gesehen, bevor Dad nach Chicago geflogen ist. Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her. Ich habe mich schon daran gewöhnt, mit Dad nicht mehr so oft zu sprechen. Trotzdem freue ich mich jedes Mal, mit ihm zu telefonieren. Ich schnappe mir also das Telefon und gehe in mein Zimmer. Dads Nummer müsste eigentlich im Telefon eingespeichert sein, doch so lange ich sie auch suche, ich finde sie nicht. "Mum!", rufe ich in Richtung Küche, "Hast du Dads Nummer aus dem Telefon gelöscht?" Ich bekomme keine Antwort, also gehe ich wieder in mein Zimmer und hebe meine Matratze an. Unter ihr liegt neben haufenweise magischem Zeug ein kleiner gelber Zettel. Ich hab's doch gewusst! Murmele ich vor mich hin. Auf dem kleinen Zettel steht Dads Telefonnummer. Ich tippe sie ins Telefon ein und drücke auf den grünen Knopf. Nach endlos langem tuten wird endlich abgenommen. "Ja?", sagt eine Stimme fragend vom anderen Ende. Ich kenne die Stimme nicht. Es ist nicht Dads Stimme. Sie klingt eher wie die Stimme einer Frau. "Hier ist Amy", sage ich, "könnte ich Bitte mit meinem Vater sprechen?" "Dein Vater ist gerade nicht Zuhause", sagt die Stimme am anderen Ende, "aber ich kann dir seine Handynummer geben. " Nein Danke", sage ich irritiert und lege auf. Wer war das? Und woher hatte diese Frau Dads Handynummer? Ich kannte sie nicht. Die einzige die ich aus Chicago kenne, wohnt am Rande der Stadt. Es ist Tante Marla. Sie ist aber schon sehr alt und seit über 15 Jahren mit Dad zerstritten. Sie kann es nicht gewesen sein. "Mum!", rufe ich nach unten. Als ich keine Antwort bekomme gehe ich in die Küche, wo sie immer noch steht und wie eine verrückte putzt. "Dad ist nicht Zuhause", sage ich ihr,"eine Frau die ich nicht kannte hat mir das gesagt und wollte mir Dads Handynummer geben." Ihr sonst so fröhlich Blick verfinstert sich auf einmal. Mum reißt mir das Telefon aus der Hand und sprüht immer mehr Putzmittel auf den Herd. "Na geh schon!", sagt sie mit einem genervten Unterton, "Ich sage dir Bescheid, wenn er zurückruft." Sie nimmt ihren Wischlappen und fängt an den Herd zu polieren. Ich gehe in mein Zimmer. Diesen Blick kannte ich gar nicht von ihr. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre an die Decke. Eines ist klar: Sie hat kein Wort mehr mit Dad geredet, seit er nach Chicago geflogen ist. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Wenn Mum und Dad sich jetzt trennen, dann werde ich das niemals überstehen. Ich starre an die Decke und merke wie mir Tränen in die Augen schießen. Ich darf jetzt nicht weinen. Also schnappe ich mir meine Jacke, klettere aus dem Fenster an der Efeupflanze herunter und hüpfe auf den Rasen. Ich schleiche mich um das Haus und laufe auf die Straße. Es liegt zu viel Schnee, also kann ich das Fahrrad gleich Zuhause lassen. Während ich durch die Straßen laufe, schneit es immer mehr.

Bald erreiche ich den kleinen Wald. Gestern konnte ich hier nicht schnell genug weg kommen und heute fliehe ich von Zuhause ausgerechnet hier hin. Ich versuche an nichts zu denken, während ich durch den Wald laufe. Plötzlich höre ich es hinter mir knacken. Ich kann Schritte hören und weiß sofort, ohne auch nur einmal zu zögern, dass diese Schritte zu Mr. Brown gehören. Ich hätte ihn aus tausenden von Leuten heraushören können. So oft hat er mich verfolgt. So oft ist er hinter mir her gelaufen, um mich zu trösten und mir zu sagen, dass ich nicht aufgeben soll. Er hat mir alles bei gebracht, obwohl das alles Crystals Aufgabe gewesen wäre. Wäre er nicht da gewesen, dann wäre ich jetzt nicht hier. Ich bleibe stehen, drehe mich aber nicht zu ihm um. Mr. Brown weiß sowieso schon, dass ich ihn bemerkt habe. Seine Schritte kommen immer näher. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Mr. Brown steht jetzt direkt hinter mir. Er legt mir die Hände auf die Schultern. Ich spüre seinen ruhigen Atem an meinem Rücken. Ich will mich nicht umdrehen. Ich will nicht mit ihm reden, aber wir verstehen uns auch ohne Worte. Ich starre ins leere. Wir stehen lange so da. Sein ruhiger Atem beruhigt mich. " Mr. Brown?", frage ich nach endlos langer Stille. Meine Stimme zittert. Er nimmt die Hände von meinen Schultern. "Ja!", sagt er, als ich mich zu ihm drehe. Er ist ein alter Mann, ein sehr alter Mann. Seine Stimme klingt alt und verbraucht und seine Glatze wird immer größer. Graue Haare hat er nur noch ein paar. "Glauben Sie, dass das alles irgendwann ein Ende hat? Glauben Sie, dass Mr. Shiver irgendwann einmal aufhören wird, zwei auserwählte Menschen zu quälen?" Es dauert eine Weile bis Mr. Brown antwortet. Es sieht aus, als hätte er selbst noch nie über das nachgedacht. Schließlich sagt er: "Wir werden alle irgendwann nicht mehr hier sein. Es werden andere Menschen kommen und gehen. Wir Menschen sterben, doch Mr. Shivers Macht ist unendlich. Er wird nie sterben. Das Einzige, was ihn aufhalten kann sind Sie, Amy. Mr. Shivers Macht ist groß. Nur Sie können ihn gemeinsam mit der Winterkönigin aufhalten, denn Ihre gemeinsame Macht ist größer, als alles auf der Welt. Sie können sich gemeinsam wehren und dem Schrecken ein Ende bereiten. Sie müssen Mr. Shiver bekämpfen und die Jahreszeiten wieder in Einklang bringen. Sie müssen die Winterkönigin finden. Alleine werden Sie es nicht schaffen. Sorgen Sie also dafür, dass Mr. Shiver, solange Sie suchen, nicht beunruhigt wird. Wenn Sie gemeinsam mit der Winterkönigin die Natur wieder sich selbst überlassen und beide Seiten im Gleichgewicht sind, dann wird alles so sein wie früher."

Für das Herz voll tausend Wehen
Ist es hier ein friedvoll Gehen -
Für den Geist, den Schatten bannt,
Ist's ein paradiesisch Land!
Doch wer wandert durch dies Grauen,
Wage niemals aufzuschauen,
Nie den schwachen Blick zu heben
In das Weben und das Beben,
Senke das bewimpert Lid,
Daß es kein Geheimnis sieht.
So des Königs Machtbefehle.
Und so darf die trübe Seele
Hier nur im Vorübergehen
Durch getrübte Gläser sehen.

Auf Pfaden, dunkel, voller Grausen,
Wo nur böse Engel hausen,
Wo ein Dämon, Nacht genannt,
Auf schwarzem Thron die Flügel spannt -
Aus jenem letzten Thule fand
Ich jüngst erst heim in dieses Land.

~Edgar Allan Poe; Traumland~

Als ich durch mein Fenster wieder in mein Zimmer klettere, klopft es an meiner Zimmertür. Ich mache das Fenster zu und ziehe schnell meine Jacke aus, bevor Mum ohne eine Antwort abzuwarten in mein Zimmer stürmt. Sie hat das Telefon in der Hand und ihre Augen sind rot, so als hätte sie gerade eben noch geweint. "Dein Vater war am Telefon", sagt sie mit einer leicht kratzigen Stimme. So redet sie immer, wenn sie mit jemandem gestritten hat, "Wir beide sind der Meinung, dass Europa zu weit weg ist. Wir können dir nicht erlauben, dass du dich so lange Zeit alleine auf einem fremden Kontinent aufhältst. Außerdem sind deine Schulnoten auch nicht gerade die besten." Sie hält kurz inne, um zu sehen wie ich reagiere und redet dann weiter: "Morgen bekommen wir Besuch. Tante Marla ist zufälligerweise gerade in der Gegend." "Ist das nicht diese völlig abgedrehte Oma aus Chicago?", frage ich sie. Mit war schon klar, dass Dad den Austausch auch nicht erlauben würde, obwohl ich mir nicht sicher bim, ob Mum ihm das überhaupt erzählt hat. Wenn sie sonst telefoniert, dann vergisst sie immer, was sie eigentlich sagen wollte. "Sie ist deine Tante, Amy, und vielleicht ist sie ein bisschen anders als wir, aber das liegt nur daran dass..." Mum bricht plötzlich mitten im Satz ab und schaut ein wenig ertappt. Ich krause die Stirn. "Woran liegt das?", frage ich sie, aber Mum tut so als hätte sie mich nicht gehört und geht aus dem Zimmer.

Aus Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt