Ruhe ist nicht meine Stärke

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Ren zieht mich in einen Schatten. Es wird dunkel um mich herum. Ich sehe nichts außer unendlicher Schwärze. Ich wehre mich mit aller Kraft gegen Ren, aber er hält mich eisern fest. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich nicht erleben möchte, was mich jetzt erwartet.

In den wenigen Monaten, die ich hier verbracht habe, habe ich viel Verständnis entwickelt: Wer Macht hatte, war in dieser Welt entweder manipulativ oder besonders gewalttätig, und beides verbesserte meine Situation nicht gerade. Als ich meine Augen wieder öffne, befinden wir uns in einem dunklen Flur. Ren schleift mich zu einer Tür. Ich bin ganz starr vor Angst. Es ist so verflucht still, während ich darauf warte, dass Ren mich weiter zur Tür zieht. Meine Hände fangen an zu zittern. Bleib einfach ruhig. Ich atme schneller. Bleib ruhig. Ich schließe die Augen. VERFLUCHT, MARI, BLEIB EINFACH RUHIG. Ein kalter Luftzug weht mir entgegen, und ich öffne langsam die Augen. Ren hat die Tür geöffnet. Sein Griff um meinen Arm wird fester. Er schubst mich durch die Tür, und ich stolpere hindurch.

In dem Raum brennt nur eine Kerze auf einem Holztisch. Mit der Luftmatratze gibt es sonst nichts in diesem Raum. Ich schließe erneut die Augen und atme tief durch. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. Das wird schon. Ren war bisher immer nett; er wird dir für eine Frage nicht den Kopf abreißen. „Was soll das hier?" frage ich. Ich schaue zu Ren, der nur den Kopf schüttelt. „Später."

Er verlässt den Raum und lässt mich allein zurück. Langsam gehe ich zur Tür und versuche, die Klinke hinunterzuziehen, aber sie ist abgeschlossen. Wie komme ich hier bloß raus? Atme einfach, Mari. Ein und aus, ein und aus. Nach einer gefühlten Stunde beruhige ich mich endlich und kann wieder einigermaßen klar denken. Also, wie komme ich hier raus?

Vielleicht wäre es erst einmal gut zu wissen, wo ich bin. Dafür könnte ich doch eigentlich...? Nein. Überleben und Gewissheit sind wichtiger. Dir darf nichts passieren. Besser ohnmächtig als unwissend und ängstlich. Nein danke. Meine Hände fangen wieder an zu zittern. Ich muss jetzt etwas tun, also los. Kann ja nicht viel schiefgehen, sagt eine sarkastische Stimme in meinem Hinterkopf.

Langsam ziehe ich meine Handschuhe aus und berühre die Kerze vor mir. Jemand muss sie ja hier hingestellt haben. Bilder schießen mir in den Kopf, und ich kann sie nicht ordnen. Ich höre auf, die Kerze zu berühren, aber es nützt nichts, die Bilder sind immer noch da. Tränen schießen mir in die Augen, und ich bin am Verzweifeln. Mir wird langsam ganz schwarz vor Augen, und ich stütze mich auf den Tisch – was ein Fehler ist, denn jetzt kommt eine neue Flut von Bildern auf mich zu. Verdammt, wieso muss ich immer so dumm sein?

„Mari, hallo!" verschwommen höre ich Finns Stimme. Was macht er hier?

Ich höre ein leises Geflüster. Mein Kopf bringt mich um. Das war das letzte Mal, dass ich mit meiner Begabung irgendwelche Sachen berühre. Wieso muss ich auch immer ohnmächtig werden?! Konzentriere dich auf das Wesentliche; du wurdest von Ren verschleppt. Da kann man sich auch später über solche Dinge Gedanken machen.

Ich öffne meine Augen und schaue mich um. Neben mir sitzt Finn, der mit irgendjemandem leise telefoniert. Kann ich Finn überhaupt trauen? Er ist doch der, der uns in die Falle gelockt hat. Warum bin ich dann trotzdem erleichtert, ihn zu sehen? Ich räuspere mich. Finn zuckt heftig zusammen. „Muss Schluss machen, Bruder. Jaja, mache ich." Eine Pause. Finn rollt mit den Augen. „Tschüss." Entnervt schaut er zu mir.

Was würde wohl jetzt kommen?

Ich und begabt, schlimmer kann es ja nicht mehr werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt