Kapitel 9

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Es war Samstagmittag und wir saßen an einem niedrigen Lerntisch auf dem Boden, den wir in Hinatas ohnehin schon viel zu kleines Zimmer gequetscht hatten. In der Mitte des Tisches stand eine Kanne mit warmem Tee, daneben lagen auf einem Teller Kekse, die wir zusammen mit Natsu gebacken hatten.

Draußen regnete es in Strömen und der schroffe Herbstwind peitschte die Regentropfen gegen das Fenster. Das laute Prasseln, das dabei entstand, erfüllte den ganzen Raum und verbreitete eine kuschelig warme Atmosphäre.

Hinata selbst saß mir gegenüber und war ganz in seine Englisch-Hausaufgaben vertieft. Er übertrug die Vokabeln für den nächsten Test in sein Heft und wiederholte sie stumm. Dabei bewegte er beim Lesen seine Lippen, was ihm augenblicklich etwas Niedliches verlieh. Mein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln und mein Herz machte einen Salto oder sowas ähnliches, bevor mein Puls in die Höhe schnellte.

Ihn so konzentriert außerhalb des Spielfeldes zu sehen, war eine Seltenheit und ich war froh, dass er bei mir war und nicht wie geplant seinen Nachmittag mit Yamaguchi bei Tsukishima verbrachte. Zwar hatten wir das Missverständnis aus der Welt geräumt, aber ich sah die beiden trotzdem nicht gerne zusammen. Selbst wenn der Ausfall der Nachhilfe mir einen Strich durch meine Pläne machte, denn eigentlich hatte ich vorgehabt, in Hinatas Abwesenheit kurz in mein Elternhaus zurückzukehren.

Einerseits brauchte ich frische Klamotten und andererseits wollte ich meiner Mutter endlich Bescheid geben, wo ich war. Nicht dass es sie wirklich interessieren würde, aber ich wollte verhindern, dass plötzlich doch die Polizei vor Hinatas Tür stand, weil meine Eltern mich als vermisst gemeldet hatten und dann von der Schule erfuhren, wo ich wirklich steckte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es wirklich tun würden, war gering - sie ging praktisch gegen null - aber ich wollte Hinatas Mama den Ärger mit der Polizei trotzdem ersparen. Das hatte sie, nachdem sie mich so freundlich in ihrem Zuhause aufgenommen hatte, einfach nicht verdient.

Hinatas Anwesenheit erschwerte nun mein Vorhaben und ich musste den richtigen Zeitpunkt abwarten, um mich rauszuschleichen. Auf gar keinen Fall wollte ich, dass er mitkam. Entschlossen riss ich mich von Hinata los und starrte auf den Zettel, der vor mir lag. Neben dem Besuch bei meinen Eltern, der mir unangenehm im Nacken saß, gab es noch ein weiteres Problem, um das ich mich kümmern musste.

Meine Finger knickten die Papierecken nach oben und die Versuchung war groß, das Blatt einfach zu zerreißen. Doch selbst wenn ich den Brief in all seine Einzelteile zerlegte, würde die Einladung zu dem vertraulichen Gespräch mit Takeda-san nicht auf magische Weise einfach verschwinden. Sie wäre weiterhin noch da und es gab nichts, was ich tun konnte, um sie zu umgehen.

Es war seine Pflicht, als Vertrauenslehrer der Schule der Ursache meiner Blessuren nachzugehen. Doch ich konnte mir gar nicht vorstellen, mit jemandem über meinen Vater oder die Situation bei mir Zuhause zu sprechen.

Allein die Vorstellung, was die Konsequenzen sein könnten, wenn ich mich ihm anvertraute, reichten aus, um mir Herzrasen zu verpassen. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass man mich meinen Eltern wegnahm und in ein Heim oder, wenn ich Glück hatte, nur bei entfernten Verwandten unterbrachte.

Beide Möglichkeiten würden aber bedeuten, dass ich die Schule wechseln müsste und Hinata dann nicht mehr sehen könnte. Letzteres brachte mich um den Schlaf. Der Gedanke, nicht mehr in seiner Nähe sein zu können, schnürte mir den Brustkorb zu.

Ihn zu verlieren, war meine größte Angst und das war etwas völlig Neues für mich, denn noch nie im Leben hatte ich mich davor gefürchtet, eine Person zu verlieren.

Noch nie hatte ich so etwas Kostbares wie ihn besessen - nicht dass er mein Eigentum war, aber er gab mir das Gefühl, am richtigen Ort zu sein und einen Platz einzunehmen, der mir gehörte.

Safe place - Buch 1 KageHinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt