Nick schnappte nach Luft, denn Dunkelheit hüllte ihn ein. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit machte sich in ihm breit, als würde er schweben. So schnell, wie dieses gekommen war, verging es auch wieder. Die Schwerkraft setzte wieder ein und die Umgebung nahm Gestalt an.
Blinzelnd öffnete Nick die Augen. Zwei rote Rubine starrten ihm entgegen. Sie glänzten, hielten ihn in einem Bann gefangen, sodass er den Blick nicht abwenden konnte. Diese Augen waren die sinnlichsten, die er jemals erblickt hatte, und sie befanden sich in dem Gesicht eines Mannes, dem das Wort schön niemals gerecht werden würde. Harte männliche Züge, helle Haut und ein dominanter Blick, der Nicks Herz zum Rasen brachte. Dieses Gesicht wurde von silbernen Haaren umrahmt, die wie das Edelmetall glänzten.
Nick konnte sich nicht zurückhalten. Er legte seine Finger an die kühle Wange und fuhr die Konturen nach, die nicht einmal Michelangelo hätte formen können.
Der Mann betrachtete ihn stumm, ließ seine Berührungen geschehen. Sekunden vergingen, dann öffnete dieser den Mund und sprach: „Endlich bist du hier." Er nahm Nicks Hand und küsste seinen Handrücken. „Meine Braut."
Die Stimme war tief, hatte eine rauchige Note, die Nick eine Gänsehaut bescherte. Seine Atmung wurde schneller, doch die Worte brauchten, bis sie einsanken. Braut? Was geschah hier? Wo war er und wer war dieser Mann? Doch er wusste die Antwort. Vor ihm war der Dämon aus dem Buch – Charun. Dessen Züge waren das Ebenbild der Zeichnung, die er so oft nachgefahren war. Nur war das keine Zeichnung, es war ein Mann aus Fleisch und Blut.
„Wo bin ich?", fragte er leise.
Charun betrachtete den jungen Mann in seinen Armen. „In meinem Gefängnis hinter dem Spiegel." Er hatte nicht nach seinem Namen gefragt, hatte die Worte gesprochen, die es ihm erlaubt hatten, ihn zu sich zu holen. „Wie lautet dein Name, meine Braut?", fragte er ruhig, dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, ihn weiter zu betrachten.
Der junge Mann hatte weiche, lockige Haare in der Farbe von Kohle und dessen Augen glänzten wie zwei schwarze Edelsteine. Jedoch waren sie hinter einem eckigen Objekt versteckt, das er mit einem Wisch entfernte. Sein Gesicht hatte weiche Züge und rosige Lippen, ein niedliches Gesicht.
Als seine Brille verschwand, wurde die Umgebung unscharf. Nick kniff die Augen zusammen. „Nickolas, doch nenne mich Nick. Und bitte gib mir meine Brille zurück, sonst kann ich nichts sehen."
Nickolas. Er besitzt eine schwache Sicht? Das konnte Charun nicht hinnehmen, also fuhr er mit den Daumen über die Augenlider seiner Braut. Dieser kniff erneut die Augen zusammen und als er sie wieder öffnete, konnte Nick plötzlich scharf sehen. Was zum Teufel?
Charun, der im Moment über seiner Braut gebeugt kniete, fuhr unter dessen Füße und hob ihn hoch, um ihn zu dem kleinen Bett zu tragen, das in seinem Gefängnisraum stand. Ansonsten waren nur dunkle Wände, nichts anderes.
Nick spürte den weichen Untergrund und richtete sich auf. Der Dämon setzte sich neben ihn und strich ihm eine Locke, die ihm ins Gesicht gefallen war, hinter das Ohr. Seine Haut kribbelte unter der Berührung. „Was geschieht nun?", fragte er ruhig. Das Ganze wirkte surreal auf ihn.
Der Dämon schwieg für einen Moment. „Es sind noch wenige Minuten bis Mitternacht, Nickolas. Du musst dich nun entscheiden. Wirst du mich aus meinem Gefängnis entlassen oder in deine Welt zurückkehren?" Charun würde ihn nicht bei sich behalten, denn er würde seine Braut nicht zu der ewigen Gefangenschaft verdammen.
Die Worte hatten einen traurigen Unterton, das spürte Nick. Der Dämon hatte eine Ewigkeit in diesem Raum alleine verbracht, gefangen. Das konnte er sich gar nicht vorstellen. „Was muss ich tun, um dich zu befreien?“, fragte er leise.
Charun nahm seine Hand und drückte wie zuvor einen Kuss auf seinen Handrücken. Er würde Nick nicht anlügen. „Du musst mir deine Seele überreichen." Die Hand, die Nicks Hand gehalten hatte, legte sich auf dessen Brust, direkt an die Stelle seines Herzens. Er konnte den beschleunigten Herzschlag unter seinen Fingern spüren.
Meine Seele.
„Hier sollst du in Einsamkeit verharren, bis deine Braut erscheint. Ihre Seele sei der Schlüssel zu deiner Freiheit."
Das waren die Worte der Hexe aus der Geschichte gewesen. „Was passiert, wenn ich sie dir gebe?"
„Deine Existenz in dieser Sphäre endet, denn sie wird mir gehören", erwiderte der silberhaarige Dämon mit den roten Augen.
Nick war sich sicher, dass jeder, ohne zu zögern, seine Seele an diesen Mann verkaufen würde. Sein Antlitz, seine Stimme, seine Aura – alles verführte dazu, zuzustimmen. Doch es hatte keine Wirkung auf Nick. Er würde seine Entscheidung nicht nach diesen Kriterien treffen, denn sie hatten keinerlei Bedeutung für ihn.
Mit den Fingern fuhr er über die Wange des Dämons.
In dieser Welt gab es niemanden, der ihn vermissen würde, das war die traurige Wahrheit. Seine Eltern sahen nur seinen Bruder, er hatte keine Freunde und die Lehrer nahmen ihn gar nicht wahr. Es war, als existiere er gar nicht. Es gibt keinen Grund, Teil dieser Welt zu sein, wenn ich ihn dafür von seinem Leid befreien kann. Niemand hatte eine solche Strafe verdient.
Zum ersten Mal traf Nick in seinem Leben eine Entscheidung, die etwas änderte. Sein Leben erhielt eine Bedeutung – etwas, das er seit Jahren in seinen Büchern gesucht hatte. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. Er nahm Charuns Hand und legte sie an seine Brust. „Nimm sie, sie gehört dir. Ich möchte nur eine Sache", sagte er mit weicher Stimme.
„Was wünschst du dir?", fragte der Dämon.
„Behalte meinen Namen in Erinnerung. Wenigstens eine Person soll sich an mich erinnern."
Die Worte erschütterten Charun, doch er nickte. Seine Hand begann zu leuchten und Nicks Oberteil löste sich in schwarzen Rauch auf. Seine Brust war nun entblößt. Sanft legte er die Hand an Nicks Hinterkopf und drehte ihn so, dass er auf dem Rücken vor ihm lag. Nicht einen Augenblick wendete er den Blick von den schwarzen Augen ab, in denen eine tiefe Ruhe stand.
Charuns Hand berührte die Brust am Sitz der Seele des jungen Mannes, dann beugte er sich vor, sodass sein Gesicht Nicks nahe kam. Er biss sich selbst in die Unterlippe und nahm Nicks zwischen seine Zähne.
Nick spürte einen kurzen Schmerz in seiner Lippe, dann schmeckte er Blut. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, verschloss Charun seinen Mund mit seinen Lippen und schenkte ihm einen blutigen Kuss. Ein feuriger Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und Euphorie rauschte durch seinen Körper. Es war sein erster Kuss und würde auch sein letzter sein. Die Finger des Dämons sanken in seine Brust ein und berührten seine Seele.
Als Charun Nicks Seele berührte, wanderte reine, unbefleckte Energie durch seinen Körper. Schwarze Linien breiteten sich auf der Brust des Menschen aus, wanderten über die Haut und sanken ein. Er beanspruchte diese reine Seele für sich.
Als er seine Hand zurückzog, prangte sein Dämonenmal auf der Brust des Mannes, den er zu seiner Braut gemacht hatte. Nick hatte währenddessen das Bewusstsein verloren und würde für eine Zeit nicht aufwachen. „Endlich bist du mein, meine Braut", flüsterte Charun an dessen Lippen. Er fuhr unter dessen Körper und hob ihn hoch. Nicks Kopf lag in seiner Halsbeuge, die Atemzüge langsam, tief im Schlaf versunken.
Mit seiner Braut in den Armen trat Charun zu dem Spiegel, der Zellentür seines Gefängnisses. So oft hatte er vor dieser gestanden, nun trat er nach vorne, trat durch diesen hindurch. Er ließ sein Gefängnis zurück und begab sich in die Welt der Menschen. Seit Jahrhunderten atmete er zum ersten Mal frische Luft ein.
Ein Geräusch erklang, ein ängstliches Wimmern. Er schaute nach links und erblickte drei junge Männer, die sich gegen die Wand pressten. In ihren Augen stand tiefe Angst.
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Der Dämon im Spiegel Teil 1 & 2
Short Story𝟭) 𝗗𝗲𝗿 𝗗𝗮̈𝗺𝗼𝗻 𝗶𝗺 𝗦𝗽𝗶𝗲𝗴𝗲𝗹 Nick ist ein Bücherwürm. Bücher sind seine Welt, eine Welt, in der es immer ein Happy End gibt. An Halloween, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, entschließen sich jedoch drei Jungs aus seine Klasse ei...