Bücher waren seine Welt. Verschlungene Worte, eine andere Realität, in die er flüchten konnte. Eine Welt, in der ihm niemand wehtun konnte, die ihn willkommen hieß. Ein Ort, an den er gehörte. Dort tauchte er ein und erlebte Abenteuer und es gab keine Lügen, denn er wusste, was jeder dachte, wer sie waren. Ihre Gedanken und Gefühle standen offen.
Die Realität war anders. Stumm zog sich Nick den dunkelgrauen Pulli über, der etwas zu groß war, doch das mochte er. Seine schwarzen, lockigen Haare fielen ihm ins Gesicht, da er schon zu lange nicht mehr beim Friseur gewesen war. Nur seine Brille hielt diese davon ab, ihm in die Augen zu fallen. Auch wenn das Modell schon mehr als veraltet war, er mochte sie. Die Kapuze wanderte über seinen Kopf und er steckte die Hand in die Tasche des Pullis. Dann schnappte er seinen Rucksack und machte sich auf den Weg von seinem Zimmer nach unten.
Seine Familie saß am Esstisch – sein Vater, seine Mutter und sein großer Bruder. James war der Captain des Football-Teams, räumte Pokale ab und war überall beliebt. Er war der Stolz der Familie. Nick war das nicht. Er war zwei Jahre jünger als sein Bruder, war vor kurzem achtzehn Jahre alt geworden.
Nick war das Gegenteil von James, er war introvertiert und schüchtern, sprach nicht viel und Sport war ihm ein Fremdwort – der Grund, warum er schlank und nicht muskulös war. Er vergrub seine Nase in Büchern, statt mit anderen abzuhängen und zu feiern. „Ich bin weg", sagte er leise und seine Mutter schaute auf.
„Heute Abend feiern wir James' Zusage am College, Nickolas. Komm nicht zu spät", sagte sie.
Natürlich. Sein Bruder war an einem renommierten College angenommen worden – wie hätte es auch anders sein können? Nick war nicht eifersüchtig auf seinen Bruder, das war er nie gewesen. Die Welt, in der James lebte, wollte er nicht teilen. Eigentlich war er froh, dass seine Eltern sich nur auf seinen Bruder fokussierten, so konnte er sein Leben in Ruhe leben, musste keine Erwartungen erfüllen.
Er schloss die Türe und fuhr mit dem Bus zur Schule. Dass er James' Bruder war, wussten nur wenige. Er hatte es nie angesprochen, denn er wollte keine ungewollte Aufmerksamkeit. Leute, die über ihn an seinen Bruder herankommen wollten, hatte es immer gegeben, doch sie gaben recht schnell auf.
Nick war gerade auf dem Gang zum Klassenzimmer, als eine Schulter ihn rammte. Der Rucksack, den er nur über eine Schulter trug, rutschte über diese nach unten, den Boden entlang, während Nick ebenfalls unsanft auf dem Hintern landete. Autsch. Als er seinen Blick nach oben richtete, schaute er in zwei braune Augen, in denen der Blick eines Arschlochs stand.
Wie in jeder Teenie-Romanze mit einem Nerd gab es natürlich den Jungen oder das Mädchen, das diesen drangsalierte. In seinem Fall war es keine Romanze und ein siebzehnjähriger Jugendlicher, dessen Eltern eine Rosenschlacht an Scheidungskrieg vollzogen und dessen Frust darüber ein Ziel brauchte – und dieses Ziel war Nick.
„Jo, Geek. Tauch nicht einfach aus dem Nichts auf", sagte Kent, sein Blick voll Verachtung.
Nick hatte keine Lust darauf zu diskutieren, denn es brachte nichts. Kent würde seinen Frust an ihm auslassen, egal, was er tun würde. Damit hatte er sich schon arrangiert. Stumm hob er seinen Rucksack auf und kam auf die Beine. Er lief an Kent vorbei und trat ins Klassenzimmer. Dort setzte er sich auf seinen Platz hinten am Rand und zog ein Buch aus seinem Rucksack, das er vorgestern in der Bibliothek entdeckt hatte.
Mit den Fingern fuhr er über den Ledereinband, in den zahlreiche Verzierungen angebracht waren. Es war seltsam gewesen, doch er hatte es gesehen und seine Finger hatten es von alleine aus dem Regal gezogen. Die Buchstaben auf dem Einband konnte er nicht lesen, doch er mochte die verschlungenen Zeichen. Sorgsam klappte er es auf und blätterte an die Stelle, an der er gestern aufgehört hatte zu lesen. In diesem Buch waren unzählige Mythen und Sagen aufgezeichnet, eigentlich nicht der Lesestoff, dem er sich ansonsten verschrieb. Dennoch hatten ihn diese kurzen Geschichten schon nach den ersten Zeilen gepackt. Zwischen den Zeilen gab es immer wieder Zeichnungen, die aussahen, als wären sie von Hand gezeichnet worden.
Im Moment war er bei der Geschichte über einen Dämon, der in einem Spiegel gefangen worden war. Eine Hexe hatte ihn aus Groll verflucht und in einen Spiegel gesperrt, in dem er von da an sein Leben fristete und wartete. Er wartete darauf, dass er befreit wurde.
»Die Hexe schaute voll Groll auf den Dämon. „Hier sollst du in Einsamkeit verharren, bis deine Braut erscheint. Ihre Seele sei der Schlüssel zu deiner Freiheit."
Der Dämon fristete stumm sein Dasein und wartete auf seine Braut, die ihn aus dem ewigen Gefängnis befreien würde. Die ihm bestimmte Braut würde zu dem Spiegel treten und die Worte sprechen, die sie zu ihrem Gemahl geleiten würde.
So lass mich ein, zu dem Mann, der mein Herz empfangen soll. Öffne den Weg, der mich zu ihm führt.
Auf diese Worte wartend, saß er hinter dem Spiegel.«
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Nicks Finger fuhren über die Zeichnung des Spiegels, der mit unzähligen verschlungenen Symbolen verziert war. Dahinter saß ein Mann mit hellen Haaren und Augen, die für einen Moment sein Herz beschleunigten. Dessen Gesicht war atemberaubend – männlich, dominant und schön. Jeder würde diesem Mann verfallen, sollte dieser einem gegenübertreten. Die Zeichnung war mit viel Liebe zum Detail angefertigt worden, doch leider war sie schwarzweiß, sodass er nicht wusste, welche Haar- oder Augenfarbe dieser hatte. Unter dem Bild stand ein Name.
Charun.
Ein schöner Name. Nick fand die Geschichte faszinierend, konnte den Blick von dem Portrait nicht abwenden. Jeder würde sich glücklich schätzen, deine Braut zu sein.
Aus Neugier hatte er weiter recherchiert. Charun war ein geflügelter Todesdämon. Verschiedene Quellen beschrieben ihn als einen großen Mann mit roten Augen sowie spitzen Ohren. Andere sagten, er habe einen Schnabel, wie der eines Geiers, und Schlangenhaare. Die Meinungen gingen auseinander, doch das Letztere passte nicht zu dem Bild in dem Buch.
Mit den Fingern fuhr er die Konturen seines Abbildes nach. Ob er seine Braut schon gefunden hat?
Leider wurden seine Gedanken unterbrochen, als der Tisch schlagartig näher kam. Er knallte mit dem Kinn auf die Tischplatte und rutschte zu Boden. Kent hatte seinen Stuhl nach hinten gerissen und sagte: „Oh, das tut mir leid. War keine Absicht."
Einer seiner Kumpels schnappte sich Nicks Buch und warf es dem anderen zu.
Nick richtete sich auf und rieb sich über das Kinn. Warum? Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Doch wie immer blieb er stumm, sein Blick auf sein Buch gerichtet. Die drei drehten ab und liefen davon. Sie haben es mitgenommen. Seine Faust ballte sich. Er wollte es zurück.
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Kent und seine Kumpels John und Brad saßen in der Pause an ihrem Stammplatz. „Die Aktion mit dem Stuhl hat gesessen", lobte John seinen Kumpel. Der Geek war geflogen und dessen Gesicht war köstlich gewesen. Das schien Kent gar nicht zu interessieren. Nur wenn der Geek in der Nähe war, verhielt er sich wie zuvor, ansonsten war er eigentlich ruhig und umgänglich. Irgendetwas an dem Schwarzhaarigen schien Kent zu triggern.
„Was hat er gelesen?", fragte Kent ruhig.
Brad holte das Buch hervor und blätterte darin herum. Als er an der Seite ankam, die er zu sehen gemeint hatte, reichte er dieses seinem Freund. „Der Dämon im Spiegel", las Kent vor. Seine Augen wanderten über die Zeilen und blieben an dem Bild hängen.
Nick hatte einen verträumten Ausdruck in den Augen gehabt, deshalb hatte er ihn aus der Traumwelt befördert. Der Geek hatte ihm bisher nur wenige Male in die Augen geschaut, doch er hatte immer nur einen neutralen oder irritierten Ausdruck getragen. Wenn er über ein Buch gebeugt war, war das anders. Seine Augen leuchteten. Das ärgerte Kent. Er interessiert sich nicht einen Hauch für mich. Nick maß ihm keine Bedeutung zu.
„Den habe ich schon gesehen", warf John ein, der von hinten über Kents Schulter geschaut hatte.
Überrascht drehte sich dieser um. „Wirklich? Wo?"
John überlegte. „Letztes Jahr bin ich mit meinem Bruder und ein paar seiner Kumpels über den Friedhof gewandert. Ich glaube, es war in einer Gruft, die wir geknackt haben. Könnte mich aber auch irren."
In diesem Moment kam Kent eine Idee. Seine Mundwinkel wanderten nach oben. Halloween war in drei Tagen und den kleinen Geek würde eine gruselige Überraschung erwarten.
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Der Dämon im Spiegel Teil 1 & 2
Nouvelles𝟭) 𝗗𝗲𝗿 𝗗𝗮̈𝗺𝗼𝗻 𝗶𝗺 𝗦𝗽𝗶𝗲𝗴𝗲𝗹 Nick ist ein Bücherwürm. Bücher sind seine Welt, eine Welt, in der es immer ein Happy End gibt. An Halloween, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, entschließen sich jedoch drei Jungs aus seine Klasse ei...