6 - [Autismus]

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,,Also wegen gestern" Brach Brooklyn die Stille.
,,Entschuldige. Ich hätte das nicht auf den Zettel schreiben sollen"

Schweigend sah ich sie an, dabei blieb mein Blick fokussiert auf ihren Augen liegen. Ich wusste, dass das zuviel Blickkontakt war, aber ich konnte meine Augen nicht von ihr nehmen.

Als würde ich aus Stein bestehen - bewegungsunfähig.

Erst als sie ihren Kopf von mir wegdrehte, konnte ich mich aus meiner starre lösen.

,,Ich hätte nachdenken sollen" Sprach sie ganz beschämt. Und tatsächlich glaubte ich ihr jedes einzelne Wort.
,,Schon gut, ich hab überreagiert" Wisperte ich.

Lächelnd kam sie auf mich zu und setzte sich zu mir auf mein Bett.
,,Dann ist alles wieder gut zwischen uns?" Fragte sie zögerlich.
,,Ja" Nickte ich.

Ich konnte ihren Blick in der Stille auf mir liegen spüren, doch traute ich mich nicht mehr sie anzusehen, weshalb meine Augen nach unten sahen.

,,Ich hab eine Frage" Zögerte sie zu sagen. Aus meinen Augenwinkel heraus konnte ich erkennen, wie sich ihre Finger in meine Bettdecke krallten.
,,Sophie meinte, du wärst auf dem Spektrum. Was meint sie damit?"

Brooklyns Stimme klang ganz anders. Man konnte die Verunsicherung problemlos heraushören, wobei sie dieses wahrscheinlich selbst nicht einmal bemerkte.

,,Autismus-Spektrum-Störungen" Seufzte ich angestrengt. Ich wollte mich nicht erklären müssen, warum ich so war, wie ich nun einmal war.
,,Sie meint Autismus-Spektrum-Störung"

Vorsichtig hob ich meinen Blick und traf auf Brooklyns verwunderten Ausdruck. Sie alle schauten mich so an, wenn sie nicht wussten, was Autismus war. Trotzdem fehlten mir immer die Worte es zu erklären.

Für mich war es die Normalität, wie konnte ich also erklären, was an mir anders war? Ich konnte die Eigenschaften von Autismus aufzählen, doch nie wirklich erklären was es war.

,,Ich hab davon gehört, aber du verhälst dich irgendwie ganz anders" Lachte sie verunsichert.
,,Lass mich raten: du denkst an einen kleinen Jungen, der nicht viel älter als acht ist"

Ihre Augen weiteten sich, bis sich ein beschämtes Lächeln auf Ihren Lippen bildete. Ich hatte voll ins Schwarze getroffen.

,,Autismus zeigt sich anders in Mädchen und Jungs, deswegen werden Mädchen viel seltener diagnostiziert" Klärte ich sie auf.
,,Außerdem ist es ein Spektrum, nicht jeder mit Autismus verhält sich gleich"

Den meisten hätte mein Vortrag gelangweilt, doch Brooklyn hörte mir ganz interessiert zu.

,,Und wie verhälst du dich?" Perplex sah ich sie an. Ich hätte nicht daran gedacht, dass sie mich so etwas fragen würde.

Tatsächlich musste ich mir ein leichtes Grinsen verkneifen. Die anderen hatten nie irgendein Interesse an mir gezeigt, wenn sie von meiner Behinderung erfuhren.

,,Wie verhalt ich mich?" Wiederholte ich, schließlich war mein Verhalten für mich normal.
,,Meine Eigenschaften..." Lächelte ich.

Zwanghaft musste ich mir meine Freude verkneifen. Ich wollte sie nicht verschrecken, wenn ich angefangen hätte aufgeregt mit meinen Händen hin und her zu schwingen, oder in sie zu klatschen.

,,Ich hab, ich, äh"
,,Lass dir Zeit" Hörte ich sie sagen. Mit einem ermutigen Lächeln sah sie zu mir.

Alles fühlte sich so aufrichtig an, trotzdem Zwang mich die kleine Stimme in meinen Kopf zu reden. Sie meinte, ich würde Brooklyn sonst nur nerven.

,,Ich habe große Probleme mit sensorischen Reizen" Stammelte ich nervös und begann mit meinen Fingern zu spielen.
,,Sensorische Reize?" Wiederholte sie fragend.
,,Ich verarbeite Geräusche, Gerüche, Licht, Berührungen und Geschmack anders" Natürlich war Autismus viel tiefgreifender denn das, aber das war am leichtesten zu erklären.

Noch immer trug sie einen fragenden Blick, der jedes Detail erfahren wollte.
,,Geräusche sind unerträglich, aber die Stille ist genauso fürchtbar. Ich höre alles, alles individuell. Die Stimmen der Menschen, das Ticken der Uhr, das schlürfen der Schuhe. Die Geräusche verlaufen nicht im Hintergrund ineinander, ich höre sie alle in der selben Lautstärke"

Meine Stimme brach etwas. Der alleinige Gedanke daran, ließ meine Härchen schon aufstehen.
,,Und Gerüche, sie tun mir alle in der Nase weh, dass ich nicht mehr durch diese atmen kann"

Brooklyn sah mich besorgt, doch sprach sie kein Wort. Sie hörte mir lieber zu.
,,Aber das Licht ist noch schlimmer. Es ist ein stechen in meinen Augen, was mich einfach nur zum Boden starren lässt. Egal wie schwach die Sonne scheint, es tut weh"

Deshalb habe ich auch immer die Dunkelheit bevorzugt.

,,Ich kann nichts anfassen und auch nicht berührt werden. Wenn ich etwas auf meiner Haut spüre, dass ich nicht verarbeiten kann, zwingt mich mein Kopf sofort mir diese Stelle zu waschen. Ich kann keine bestimmte kleiden tragen, kein bestimmtes Papier anfassen und ich kann manchmal nicht einmal meine Eltern umarmen"

Schluckend sah ich zu ihr. Völlig entsetzt sah Brooklyn mich an, dabei wirkte sie aber noch fassungsloser, als ich einfach anfing zu lachen.

Ich wusste nicht, wie ich mit meinen und ihren Emotionen umgehen sollte. Ich verstand meine eigenen ja schon kaum, woher sollte ich also wissen, wie ich mit ihren umgehen sollte?

Ich entschied mich einfach weiter zu sprechen, schließlich war ich ja noch nicht fertig gewesen.
,,Es heißt ja Geschmäcker sind verschieden, in meinen Fall kann ich nicht einmal richtig essen. Allein schon der Geruch oder das Gefühl von bestimmten Sachen in meinen Mund, kann mich zum erbrechen bringen, weshalb ich kaum etwas essen kann.

,,Du hast eine Essstörung!"
,,Ich hab auch eine Zwangsstörung" Lachte ich, ohne zu verstehen, dass sie es nicht lustig fand.

Die meisten hätten sich schließlich nur darüber lustig gemacht, dass ich meine Bücher nach Farbe und Größe sortieren musste, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitt, wann immer ich meine Bücher neu einsortiert musste.

Das ich mir meine Hände in einer bestimmten Reihenfolge waschen musste, obwohl ich kein Wasser auf meiner Haut ertragen konnte.

Das ich mir für alltägliche Sachen wie Zähneputzen, Duschen, Essen und Trinken, Wecker und Erinnerung stellen musste, damit ich diese Dinge nicht vergaß. Gleichzeitig lagen meine Nerven aber auch blank, wann immer ich diese Sachen nicht rechtzeitig ausführen konnte. Selbst wenn es nur wenige Minuten waren.

,,Wenn man Autismus hat, dann kann das eben solche Sachen vereinen" Meine Betonung lag dabei auf kann.

Brooklyn senkte ihren Blick, es war eine Geste des Mitleids, aber das wollte ich nicht.

Es war kein ideales Leben, oft lag ich nachts in meinem Bett und betete, dass ich ohne Autismus aufwachen würde.

Aber ändern konnte ich es nicht. Ich wusste, wie ich zu leben hatte, weshalb ich auf ihr Mitleid auch nicht angewiesen war.

,,Brooklyn, Summer?" Hörte ich es von der anderen Seite der Tür kommen. Vorsichtig traten meine Eltern ein.
,,Deine Eltern gehen jetzt" Ließ meine Mutter Brooklyn wissen.

Nickend stand sie von meinen Bett auf. Sie umarmte mich nicht, stattdessen wank sie mir einfach zum Abschied.

Butterfly SyndromeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt