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Anna lag neben Adrian auf dem Heuboden des Pferdestalls. Sie starrte hinauf zum Holzdach, während er sie ansah, und jedes winzige Detail ihrer Schönheit in sich aufzunehmen versuchte. Ihr wundervolles Haar lag neben ihm ausgebreitet. Die letzten Minuten hatte er damit verbracht, ihr das Heu aus den Haaren zu zupfen. Jetzt zählte er ihre niedlichen Sommersprossen, die ihr etwas Freches verliehen. Es waren einundzwanzig.

Sie wandte ihr Gesicht ihm zu und lächelte. »Wirst du je genug davon haben, mich anzusehen?«

»Niemals«, flüsterte er und ignorierte den Schmerz in seiner Brust. Wie konnte er nur so viel für Anna empfinden, dass es ihn schmerzte? Heute Nachmittag würde der geheimnisvolle Ehemann auf das Gut kommen. Annas Vater bestand darauf, dass ihr zukünftiger Mann die Möglichkeit erhielt, sie kennenzulernen. Adrian musste gestehen, dass diese Entscheidung nicht falsch war. Aber er hasste diesen Mann schon jetzt.

»Ich will ihn nicht heiraten, ich will ihn ja noch nicht einmal sehen«, sagte Anna.

Adrian strich ihr sanft über die Wange. Wie sollte er sie trösten, wo er doch selbst so dachte. Aber er wusste auch, dass es richtig war, sie gehen zu lassen. Ihre Liebe durfte nicht sein.

»Magst du mich heute küssen?«, wollte sie wissen und grinste ihn frech an.

»Ich mag«, sagte er. »Aber ich darf nicht.«

»Du bist unverbesserlich, Adrian«, schimpfte sie frustriert. »Aber ich werde dich noch überzeugen.«

Sie stand auf. »Ich muss gehen, bevor Vater nach mir suchen lässt.«

In Adrians Magen bohrte sich eine Faust. Es schmerzte ihn jedes Mal, wenn sie ihn verließ.

Der Mittwochnachmittag wurde noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Frau Dietrich schien ihren Kurs mit einem Benimmkurs für schwer erziehbare Kinder zu verwechseln. Aber, ich konnte auch positive Rückschlüsse für mich aus Frau Dietrichs Belehrungen ziehen; nun wusste ich wirklich, dass ich nicht die einzige »Kriminelle« an dieser Schule war. Alexandra, die am Pult neben mir saß, war eine bessere Wynona Rider und ging gerne mal auf Raubzüge in Münchens Innenstadt. Oder Candy hinter mir, hatte sich dem Alkohol verschrieben, bis sie dem Tod nur knapp entronnen war.

So unterschiedlich unsere Vergehen auch waren, eines hatten wir alle gemeinsam: Unsere Eltern glaubten, eine Schule mit so strengen Moralvorstellungen wie diese wäre unsere letzte Hoffnung.

»Genug der Einleitung.« Frau Dietrich stand vor der Klasse, die Hände in den Taschen ihres Kittels vergraben. »Ihr alle seid hier, um durch die Kunst zu mehr innerem Gleichgewicht zu gelangen.«

Also doch kein Benimmkurs, ein Feng-Shui Kurs, dachte ich bitter.

»Eure erste Aufgabe wird es sein, euer inneres Ich zu finden. Malt etwas, irgendetwas, was eure Gefühle, eure Seele offenbart.«

Etwas, was meine Seele offenbart?

Ich schielte zu Alexandra rüber, die nur mit den Schultern zuckte. Wäre die Aufgabe: Male etwas, das zeigt, was du in deinem Nachbarn siehst, dann könnte ich, ohne nachzudenken, anfangen, den Pinsel zu schwingen. Ich bräuchte nur eine Barbiepuppe malen. Mit ihrer blonden Mähne, den rosa Lippen und der Schuluniform wirkte Alexandra wie eins der Mädchen, die spätnachts über den Fernseher flimmern und »Ruf mich an« hauchen.

Über mich dagegen gab es nichts zu malen. Was war ich schon? Seit mein Bruder unerreichbar für mich war, fühlte ich mich leer, als hätte er meine Seele mit fortgerissen. Wir hatten ein so enges Verhältnis gehabt, dass es sich jetzt anfühlte, als würde ein wichtiger Teil von mir fehlen. Lange Zeit hatte es doch nur ihn und mich gegeben. Ich würde meiner Mutter niemals verzeihen können, dass sie ihn weggestoßen hatte.

Forever YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt