12

33 4 0
                                    


Meine Mutter stellte gerade eine Umzugskiste in den Flur, als ich durch die Terrassentür in die Wohnung meiner Eltern trat. Sie blickte auf und lächelte mich mit vor Freude funkelnden Augen an. Sie war froh, mich zu sehen. Ich auch. Nach all dem, was in den letzten Tagen passiert war, fühlte es sich gut an, zu wissen, dass etwas in meinem Leben vollkommen normal war. Aber ich war hin- und hergerissen und wusste nicht, ob ich es wagen konnte, ihr meine Gefühle zu zeigen. Sie liebevoll zu empfangen, hieße, meine Blockade aufzugeben und ihr zu zeigen, dass ich ihr den Umzug nach Linden längst verziehen hatte. Also suchte ich nach dem Funken, der die Wut in mir wieder schürte und fand ihn - Tom. Mit dem neuen negativen Gefühl im Bauch ging es mir gleich viel besser.

Ich lehnte mich an die Wand und beobachtete sie stillschweigend, wie sie den Karton aufriss. »Hallo Skyler«, sagte sie außer Atem. Auch ihre Begrüßung kam zurückhaltender, als das Leuchten in ihren Augen hatte vermuten lassen. »Ich würde dich ja in die Arme nehmen, aber ich sehe dir an, du wärst noch immer nicht begeistert deswegen.« Sie zog eine große Bodenvase aus dem Karton und strich zärtlich über die Elefanten, die den Bauch des Tongefäßes umgaben. Auch meine Mutter liebte afrikanische Dekoration. Wahrscheinlich liebte ich Elefanten, Giraffen und Zebras nur, weil ich meine Mutter kopierte. Sie war eine noch bessere Schülerin von Tine Wittler, als ich es je sein konnte. Sie hatte ein Gefühl für Farben, das mir absolut fehlte.

»Ich habe sie auf dem Markt in Frankfurt entdeckt«, sagte sie lächelnd und trug ihre Errungenschaft an mir vorbei in das Wohnzimmer. Sie stellte die Vase in die Ecke vor das Fenster, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sie. Die orange-braunen Töne fügten sich perfekt in das dunkelbraun gehaltene Wohnzimmer im Kolonialstil. Aber meine Mutter war noch nicht zufrieden. Sie rückte die Bodenvase noch ein paar Zentimeter mehr in das Zimmer herein. Jetzt verließ sie das Wohnzimmer und kam zurück in den Flur, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte wieder auf das Wohnzimmer zu, um im Türrahmen stehenzubleiben. »Man muss sehen, wie es wirkt, wenn man das Zimmer betritt«, murmelte sie. »Was denkst du?«

Ich zuckte mit den Schultern. Es gefiel mir, aber ich zog es vor, nichts zu sagen.

Meine Mutter tat so, als wäre nichts gewesen. »Übrigens, ich habe mit Tom telefoniert.«

Das riss mich aus meiner Trotzhaltung. »Du hast ihn erreicht?« Meine Stimme war vor Aufregung um Oktaven zu hoch.

»Ja, er ist glücklich in New York. Großvater hat ihm ein Zimmer auf dem Campus besorgt. Sieht so aus, als hätten die beiden ihre Differenzen beseitigt. Ich soll dir seine Telefonnummer geben.« Meine Mutter sah zu mir auf und ich konnte das Wasser in ihren Augen sehen. Sie zog einen Zettel aus der Brusttasche ihre Bluse und übergab ihn mir mit einem leisen Schniefen. »Er fehlt mir auch, aber er scheint total begeistert, von seinem Leben als amerikanischer Student zu sein. Und es ist doch schön, dass er diese Chance bekommen hat«, fügte sie leise hinzu. Ich wusste, sie sagte das nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie sich eigentlich wünschte, er würde wieder nach Hause kommen.

Ich nickte nur. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, machte es unmöglich etwas zu sagen.

Tom hatte schon früher über die Möglichkeit nachgedacht, die NYU zu besuchen. Ich freute mich für ihn, aber ich fühlte mich auch im Stich gelassen. Ich hatte gehofft, dass er bald zurückkommen würde. Dass sein Umzug nach NY nur so lange dauern würde, wie er wütend auf Mom war. Jetzt sah alles danach aus, als würde diese Phase viel länger gehen.

»Dein Großvater hatte einige Mühe, ihn noch unter zubekommen. Aber er wäre nicht euer Großvater, wenn er keinen Weg gefunden hätte.« Meine Mutter legte eine Hand auf meinen Unterarm. Mein erster Instinkt war, ihr meinen Arm zu entziehen, aber ich tat es nicht, weil ich die tröstende Geste viel zu sehr brauchte.

Meinen Großvater hatte ich in den letzten Jahren nur selten gesehen. Wir waren ein paar mal bei meinen Großeltern in New York gewesen, sie waren einmal bei uns, als wir noch in Linden gewohnt hatten. Ich hatte ihn als sehr streng in Erinnerung. Er war nie glücklich damit gewesen, seinen einzigen Sohn an die »Krauts« zu verlieren. Er war Professor für englische Literatur an der NYU. Mir hatte der Mann immer Angst gemacht. Er hatte etwas Einschüchterndes an sich. Einen ewig grimmigen Blick, eine laute, dröhnende Stimme und absolut keinen Humor. Aber an Tom hatte er schon immer einen Narren gefressen, auch wenn Tom Großvater nicht mochte. Er hatte sich sogar vor ihm gefürchtet, wenn dieser mit donnernder Stimme jedem um sich herum Befehle erteilte, als wäre er Befehlshaber in der Armee und jeder wäre ihm unbedingtes Gehorsam schuldig.

Trotzdem überschüttete Großvater Bill Doyle seinen Enkelsohn seit seinem zwölften Lebensjahr mit allem, was der Merchandising-Shop der NYU hergab; Sweatshirts, Mützen, Schulsachen und Prospekte. Ich war deswegen nie neidisch gewesen, denn obwohl ich wusste, dass Tom es in Erwägung gezogen hatte, das College zu besuchen, wusste ich auch, dass Tom nie vorhatte, bei Dad in Amerika zu leben, denn er konnte ihm nie verzeihen, dass Dad uns einfach verlassen hatte. Bis etwas in Deutschland passiert war, was ihn hoffen ließ, in den USA besser aufgehoben zu sein.

Im Nachhinein gesehen war es wohl vorprogrammiert, dass mein Bruder irgendwann dieses College besuchen würde. Und meine Mutter hatte meinem Großvater in die Hand gespielt.

Ich steckte die Telefonnummer ein und biss mir auf die Unterlippe, um den Schmerz überspielen zu können, der drohte sich Bahn zu brechen. Ich musste mich damit abfinden, Tom eine Weile nicht mehr, zu Gesicht zu bekommen. Aber wenigstens konnte ich ihn jetzt anrufen – wenn ich ihn erreichen würde.

»Du sollst es am Abend versuchen.«

»Soll ich die Koffer reinholen?«, fragte ich. Ich wollte nur weg von meiner Mutter, damit sie nicht sehen konnte, wie sehr mich Toms Entscheidung in New York zu bleiben, verletzte. Ich fühlte mich verraten und alleingelassen.

»Schon erledigt.« Mein Stiefvater kam, vier Koffer unter den Armen, in das Haus gestolpert. Sein Gesicht hochrot glühend, ließ er das Gepäck einfach auf den Boden fallen und keuchte übertrieben. »Ich habe doch gesagt, ich schaffe das.«

»Hast du, ja«, bestätigte meine Mutter grinsend. »Aber du hast es nicht geschafft.«

»Klar habe ich. Ohne Absetzen vom Auto bis ins Haus. So lautete die Wette.«

»Wette?«, hakte ich nach.

»Deine Mutter hat gewettet, dass ich es nicht schaffe, das Gepäck auf einmal ins Haus zu tragen.« Er warf meiner Mutter einen heiß glühenden Blick zu. Ich rollte genervt mit den Augen. Die beiden waren wie Teenager. Noch ein Grund, warum ich dankbar für mein eigenes Reich war. Den ganzen Tag dieses Geturtel zu ertragen ... Aber wenigstens hatten die beiden sich. Ich stand mit meinen Gefühlen für jemand Bestimmtes allein da.

»Und das hast du nicht. Hinter dem Fahrersitz steht noch ein Koffer.« Meine Mutter lachte und flüchtete ins Badezimmer.

Ich schüttelte den Kopf und flüchtete in meine Wohnung.

Forever YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt