XX. Zuckerpass

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Dieses Gefühl, nach all den Jahren neben Ingrid her zu laufen, als wäre nichts gewesen, ist sehr komisch. Anfangs verspüre ich den Impuls, ihre Hand in meine zu nehmen, wie ich es früher immer getan habe, wenn wir zusammen unterwegs waren. Jetzt muss ich mich daran erinnern, wie ich mich ihr gegenüber verhalten habe und bleibe deshalb lieber auf Distanz, obwohl es mir schwerfällt.

Wir spazieren am Meer entlang, mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen. Über Nacht sind die Temperaturen unter null Grad gesunken, es ist klirrend kalt und an den Bäumen glitzert der Frost. Die klare Luft schmeckt salzig, gleichzeitig riecht es nach Schnee. Ein einsames Fischerboot schaukelt draußen auf den Wellen, die sich trotz Windstille munter kräuseln.

Verstohlen schaue ich zu Ingrid rüber, die bisher noch nicht viel gesagt hat. Ihre Nasenspitze ist vor Kälte gerötet und ihre Lippen sind blau, aber sie sieht trotzdem wunderschön aus. Ich wünschte, sie würde endlich mit mir reden, so wie sie es vorhin angekündigt hat, doch sie scheint noch auf den richtigen Moment zu warten. Trotz meiner Ungeduld dränge ich sie nicht, sondern gebe ihr die Zeit, die sie braucht, um ihre Gedanken zu sortieren.

Als wir einen alten Steg erreichen, der einige Meter ins Wasser ragt, bricht Ingrid schließlich ihr Schweigen.

„Olaf und ich haben uns getrennt", sagt sie förmlich, ohne mich dabei anzusehen. Ihr Blick ruht auf den Wellen, die sich mit einem unregelmäßigen, klatschenden Geräusch am Steg brechen.

„Was?", frage ich perplex und bin mir im ersten Moment nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe. „Ihr habt echt Schluss gemacht? Warum?" Am liebsten würde ich schallend applaudieren, aber ich schätze, das wäre etwas unangebracht.

Ingrid starrt noch immer Löcher in die Wasseroberfläche. „Weil Olaf zugegeben hat, dass er Derjenige war, der deinem Vater und der Presse deinen Aufenthaltsort verraten hat. Anonym natürlich."

Prompt verfliegt mein Hochgefühl und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Rikard lag mit seinem Verdacht also genau richtig. „Hat der Arsch – ähm, Olaf – dir vielleicht auch verraten, wieso er das gemacht hat?", erkundige ich mich mühsam beherrscht, während sich vor meinem geistigen Auge eine Szene abspielt, in der ich ihn finde und ihm eine reinhaue.

Diesmal vergehen einige Sekunden, ehe ich eine Antwort bekomme. Ingrids Stimme klingt dumpf, als sie abermals das Wort ergreift. „Er hat wohl gemerkt, dass ich immer noch nicht über dich hinweg bin. Aber anstatt in Ruhe mit mir darüber zu reden, ist er komplett durchgedreht.

Ich weiß nicht, ob er dich loswerden oder dir nur eins auswischen wollte. Ist ja eigentlich auch egal. Jedenfalls habe ich sofort mit ihm Schluss gemacht, nachdem er mir davon erzählt hat."

Schon öffne ich den Mund, um sie für ihre Entscheidung zu loben, als mir plötzlich klar wird, was sie da gerade gesagt hat. Sie ist immer noch nicht über mich hinweg und das, obwohl ich mich ihr gegenüber wie das Allerletzte benommen habe.

Irgendwie verstärkt das mein schlechtes Gewissen, aber gleichzeitig frage ich mich, was sie mir damit vermitteln möchte. Etwa, dass es noch eine Chance für uns beide gibt? Selbst wenn sie noch so klein wäre, würde ich sie ohne zu zögern nutzen.

„Läuft da wirklich nichts zwischen dir und dieser Carlotta?", fragt Ingrid zaghaft und mir fällt plötzlich auf, dass ich seit einigen Minuten schweigend dastehe und die morschen Bretter des Stegs anglotze, auf dem wir stehen.

Entschieden schüttle ich den Kopf. „Nein, wirklich nicht. Wir hatten seit diesem einen Abend nie wieder Kontakt." Aus der Klatschpresse habe ich erfahren, dass Paciullo sie als Reaktion auf das Video auf ein Privatinternat in den Abruzzen geschickt hat, das von Nonnen geleitet wird. Ob das stimmt, weiß ich natürlich nicht, aber ich würde es meinem ehemaligen Trainer durchaus zutrauen.

Ich meine zu hören, wie Ingrid erleichtert aufatmet. Ihr Gesichtsausdruck wirkt dennoch betrübt. „Weißt du, Jonny", sagt sie ruhig und schaut wieder aufs Meer hinaus. „Als du damals abgehauen bist, habe ich mir immer gewünscht, dass du irgendwann zurückkommst und wir wieder ein Paar werden. Aber jetzt, wo du tatsächlich hier bist, weiß ich einfach nicht, ob ich das kann. Dir eine zweite Chance geben, meine ich. Vorausgesetzt, du möchtest überhaupt eine."

„Natürlich möchte ich das", antworte ich wie aus der Pistole geschossen, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Instinktiv nehme ich ihre Hände in meine. Sie sind kalt und ich bin froh, dass sie sie nicht wegzieht.

„Ich verstehe, dass du Angst hast und mir nicht mehr vertraust. Du hast ja auch allen Grund dazu. Aber ich versichere dir, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe. So was wie damals werde ich auf keinen Fall nochmal machen. Ich werde dich kein zweites Mal hängenlassen, das kannst du mir glauben."

Zweifelnd sieht sie mich an. In ihren blauen Augen erkenne ich, dass sie mit sich hadert. „Na gut", sagt Ingrid schließlich nach einigem Zögern. „Trotzdem wäre es mir lieber, wenn wir erst mal nur Freunde sein könnten. Ich brauche einfach noch etwas Zeit, verstehst du?"

„Klar, kein Problem!", erwidere ich und strahle sie an, weil ich mein Glück gerade kaum fassen kann. Eine zweite Chance ist alles, was ich mir von ihr gewünscht habe und ich bin fest entschlossen, ihr zu beweisen, dass ich meine Lehren aus der Vergangenheit gezogen habe.

Nachdem das Eis zwischen uns gebrochen ist, verlassen wir den Steg und machen uns auf den Rückweg, da es uns beiden langsam, aber sicher zu kalt wird. Ingrid wirkt nun wesentlich entspannter als auf dem Hinweg und erzählt mir auf meine Nachfrage hin von ihrem Studium, ihrer Familie und anderen Dingen, die sie beschäftigen. Ich höre ihr einfach nur zu und merke dabei, wie sehr ich es vermisst habe, meine Zeit mit ihr zu verbringen.

„Wie sieht's eigentlich bei dir aus?", fragt sie mich irgendwann und klingt plötzlich fast ein bisschen besorgt. „Zukunftstechnisch, meine ich. Gehst du bald zurück nach England?"

„Wahrscheinlich nicht", entgegne ich achselzuckend. „Mein Berater versucht momentan, einen anderen Verein für mich zu finden, damit ich wieder Fußball spielen und Gras über die Sache wachsen kann. Ist alles ein bisschen schwierig, aber sobald sich etwas ergibt, sage ich dir sofort Bescheid."

Unvermittelt bleibt Ingrid stehen und lächelt mich an. „Es ist so schön, dass du wieder zuhause bist, Jonny."

Ihr warmer Tonfall gibt mir das Gefühl, willkommen zu sein, ohne Wenn und Aber. Ich bin ihr unglaublich dankbar dafür.


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt