Seitdem Ingrid mir meine Fehler verziehen hat und wir wieder Freunde sind, lebt es sich für mich plötzlich viel leichter. Der Trubel um meine Person, meine ungewisse Zukunft, die lästige, nervenaufreibende Diät – all das erscheint mir auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Wir telefonieren oft miteinander, schreiben uns regelmäßig und unternehmen hin und wieder etwas zusammen.
Wenn's nach mir ginge, würde ich Ingrid am liebsten jeden Tag sehen, aber ich habe verstanden, dass sie noch nicht so weit ist und das akzeptiere ich natürlich. Sie soll merken, dass ich Rücksicht auf sie nehme – anders, als ich es früher getan habe. Im Grunde genommen würde ich alles machen, um sie davon zu überzeugen, dass es richtig war, mir eine zweite Chance zu geben. Ich möchte sie auf keinen Fall nochmal enttäuschen.
Die Zeit, in der Ingrid nicht bei mir ist, verbringe ich entweder zuhause oder beim Sport mit Lasse und Rikard. Ich könnte mir keine besseren Personal Trainer vorstellen, denn erstens machen beide jede Übung mit und zweitens spornen mich ihre ständigen blöden Kommentare mehr an als alles andere. Abgesehen davon ist Rikard wohl Derjenige von uns dreien, der am besten weiß, wie schwierig und kräftezehrend es sein kann, gezielt abzunehmen.
Mittlerweile trennen mich nur noch wenige Kilos von meinem Ursprungsgewicht. Es ist ein befreiendes Gefühl, zu sehen, dass sich mein regelmäßiges Training und der Verzicht auf üppige, kalorienhaltige Speisen auszahlen.
Mir geht es von Tag zu Tag besser, sowohl körperlich als auch mental. Meine neugewonnene Stärke hilft mir dabei, die Dinge, die um mich herum passieren, leichter zu verarbeiten. Das ist extrem viel wert, denn noch vor nicht allzu langer Zeit habe ich befürchtet, daran kaputt zu gehen.
Meine sportliche Zukunft ist nach wie vor ungeklärt, aber dafür erlebe ich heute eine Überraschung, die ich so niemals erwartet hätte. Als ich vom Joggen nach Hause komme, laufe ich geradewegs in mein Zimmer, um mir frische Klamotten rauszulegen, wie ich es immer mache, bevor ich duschen gehe. Während ich meinen Koffer durchstöbere, fällt mein Blick eher zufällig auf mein Handy, das auf dem Nachtschränkchen liegt. Ich habe es hiergelassen aus Angst, es unterwegs zu verlieren.
Es blinkt, also schaue ich genauer hin und stelle fest, dass ich gleich mehrere verpasste Anrufe habe. Sie stammen allesamt von Gigi, der offenbar dringend mit mir sprechen möchte und mir außerdem einen mysteriösen Link geschickt hat. Ich klicke darauf, nur um Sekunden später überrascht nach Luft zu schnappen. Der Link hat mich zu einem Artikel von The Times weitergeleitet, dessen Überschrift sofort mein Interesse weckt.
Clip von seiner Tochter und Star-Stürmer ging viral: Stefano Paciullo äußert sich zur Causa Castberg
Sofort beschleunigt sich mein Puls und das hat definitiv nichts mit dem Joggen zu tun. Mit großen Augen starre ich die fett gedruckte Schlagzeile an, ehe ich den dazugehörigen Artikel lese. Wie es aussieht, hat sich Paciullo im Rahmen einer Pressekonferenz zu Wort gemeldet, um jeglichen Spekulationen und Gerüchten entgegenzutreten. Seine Stellungnahme erfolgt zwar mit einiger Verspätung, dafür finde ich sie jedoch äußerst aufschlussreich.
Stefano Paciullo über ...
... den Skandal selbst: „Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich auch ein paar Worte zu diesem Thema sage. Vorab möchte ich klarstellen, dass ich Jonny in keinster Weise böse bin. Weder er, noch meine Tochter haben etwas Unrechtes getan. Sie haben sich auf meiner Geburtstagsfeier kennengelernt und eine gute Zeit zusammen verbracht. Daran ist nichts falsch. Der einzige Mensch, der in meinen Augen einen unentschuldbaren Fehler gemacht hat, ist Derjenige, der die beiden gefilmt und anschließend bloßgestellt hat."
... sein Verhältnis zum Spieler: „Ich habe kein Problem mit Jonny und hatte auch nie eins. Er ist ein netter Junge, manchmal etwas undiszipliniert, aber ich denke, das hängt mit seinem Alter zusammen. Vielleicht war ich hin und wieder etwas zu hart zu ihm. Das tut mir sehr leid."
... Castbergs Zukunft im Verein: „Wie Jonnys Zukunft bei uns aussieht, weiß ich nicht. Es wird definitiv Gespräche geben, aber die führen andere. Für den Fall, dass er bleibt, möchte ich nochmals betonen, dass von meiner Seite aus kein böses Blut fließt. Ich würde mich freuen, wenn er zurückkehrt, denn er ist ein toller Spieler mit großem Potential. Wenn nicht, wünsche ich ihm trotzdem alles Gute."
Ungläubig starre ich den Bildschirm an. Hat da etwa derselbe Stefano Paciullo gesprochen, mit dem ich während meiner Zeit in London regemäßig aneinandergeraten bin? Ich kann nicht fassen, dass er wirklich so über dieses Thema denkt, aber gleichzeitig freut es mich natürlich. Darüber hinaus bin ich einfach unendlich erleichtert. Tatsächlich hatte ich zeitweise die ernsthafte Sorge, dass er mir aus Rache seine Kollegen der Camorra auf den Hals hetzen könnte.
Trotz meiner ungeheuren Erleichterung bleibt eine wichtige Frage offen. Inwiefern wirkt sich Paciullos Haltung auf meine sportliche Zukunft aus? Ich glaube, selbst wenn er mir so wohlgesonnen ist, wie er es auf der Pressekonferenz behauptet hat, wäre es schwierig, bei den Rovers wieder Fuß zu fassen. Alleine deshalb, weil mich wahrscheinlich keiner mehr ernst nehmen könnte, nach allem, was passiert ist.
In meiner Ratlosigkeit rufe ich Gigi an. Mein Berater wird wissen, was zu tun ist. Schon nach wenigen Sekunden vernehme ich seine ruhige Stimme. „Hast du's gesehen?", fragt er mich und spart sich damit eine langatmige Begrüßung.
„Ja", antworte ich und bin verblüfft, wie gelassen ich mich anhöre, obwohl ich gerade gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. „Ich hab's gesehen. Aber was bedeutet das jetzt für mich? Soll ich doch zurück?"
„Malfatti und ich haben heute telefoniert", erwidert Gigi ohne Umschweife. „Wir halten es weiterhin für das Beste, wenn du erst mal woanders hingehst. Er hat mir allerdings nochmal bestätigt, dass für Paciullo die Sache erledigt ist. Du brauchst dir seinetwegen also keine Gedanken mehr zu machen."
Immerhin etwas. Trotzdem hat seine Antwort einen bitteren Beigeschmack. „Und wo soll ich hin?", frage ich beinahe kläglich. „Mich will doch keiner. Oder hat sich das mittlerweile geändert?"
„Vielleicht", entgegnet er zu meinem großen Erstaunen und ich halte unwillkürlich den Atem an. „In den letzten Tagen hat sich einiges getan. Genaueres verrate ich dir aber erst, wenn es konkret wird. Nicht, dass du dir Hoffnungen machst und dann klappt es am Ende doch nicht."
Ich seufze ergeben. „Na schön", sage ich und versuche gar nicht erst, doch eine kleine Information aus ihm heraus zu kitzeln. Bei Gigi funktioniert das sowieso nicht. „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als abzuwarten, oder?"
„So ist es", bestätigt er kurz und bündig, „Aspetta e vedrai. Sobald es etwas Neues, Handfestes gibt, melde ich mich bei dir. Alles klar?"
„Ja, sicher." Ich kann nicht verhindern, dass ich etwas enttäuscht klinge. „Danke, dass du mir den Link geschickt hast. Mach's gut."
„Mache ich", antwortet Gigi geduldig. „Lass den Kopf nicht hängen, Jonny. Mit ein bisschen Glück habe ich bald gute Nachrichten für dich. Glaub einfach feste dran, d'accordo?"
Mit meinem Handy am Ohr nicke ich, obwohl mir natürlich klar ist, dass er es nicht sehen kann. Da auf mein Glück in letzter Zeit wenig bis gar kein Verlass war, fällt es mir ausgesprochen schwer, daran zu glauben. Aber was kann ich stattdessen tun?
Es sieht ganz danach aus, als müsste ich die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass Fortuna es diesmal gut mit mir meint. Vielleicht sollte ich sie um Verzeihung bitten. Irgendwie scheine ich sie doch verärgert zu haben.
Was denkt ihr, wie es für Jonny weitergeht? :)
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Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperte
HumorNachdem der junge Fußball-Profi Jonatan Castberg, genannt Jonny, eine große Dummheit begangen hat, zieht es ihn auf der Flucht vor der Presse zurück in seine norwegische Heimat. In Knarvik, einer kleinen Ortschaft unweit von Bergen, versteckt er sic...