XXIV. Endspiel

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Draußen ist es längst stockfinster. Die schemenhaften Umrisse der alten Fichte vor meinem Fenster heben sich kaum vom rabenschwarzen Nachthimmel ab. Da es dicht bewölkt ist, zeigen sich weder Mond, noch Sterne.

Trotz der späten Stunde liege ich mit angewinkelten Knien im Bett und lese mir die Medienberichte bezüglich meines Vereinswechsels durch.

Gestern habe ich meinen Vertrag bei Brann Bergen unterschrieben und heute Mittag wurde der Deal dann offiziell von beiden Vereinen bekannt gegeben. Das Gefühl, nach all den Jahren an meine alte Wirkungsstätte zurückzukehren, war einfach nur schön.

Es kam mir beinahe so vor, als wäre ich nie weggewesen. Ich wurde von allen Seiten herzlich empfangen und wie ich in diesen Minuten milde überrascht feststelle, sorgt meine unverhoffte Heimkehr vor allem bei der norwegischen Presse für Begeisterung.

„Lille Bjørn" ist wieder zuhause: Brann Bergen freut sich über die Rückkehr von Eigengewächs Jonatan Castberg

Als ich über meinen alten Spitznamen stolpere, den ich schon lange nicht mehr gehört oder gelesen habe, muss ich unwillkürlich grinsen. Ich habe ihn während meiner ersten Profisaison bei Bergen bekommen und das aus mehreren Gründen. Zum einen ist es natürlich eine Anspielung auf meinen Vater, der immerhin als Vereinslegende gilt. Zum anderen ist „Lille Bjørn" die norwegische Bezeichnung für das Sternbild Kleiner Bär, dessen hellster Stern bekanntlich der Polarstern ist.

Im Spielsystem von Brann Bergen war ich stets so etwas wie ein Fixpunkt, an dem sich meine Mitspieler orientieren sollten, daher mein Spitzname, der auf das Sternbild verweist. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich früher so genannt wurde. In letzter Zeit habe ich mich nämlich nicht wie ein leuchtender Stern am Himmel gefühlt, sondern eher wie ein Meteorit, der unkontrolliert in Richtung Erde stürzt, um dort einen tiefen Krater zu hinterlassen.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits weit nach Mitternacht ist. Gähnend lege ich mein Handy beiseite. Ich bin müde und erschöpft, aber gleichzeitig noch viel zu durcheinander, um zu schlafen.

Also liege ich einfach da, die Arme hinterm Kopf verschränkt, starre an die dunkle Zimmerdecke und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Gelegentlich knarzt das Holz des alten Hauses, ansonsten ist es still um mich herum.

Schon jetzt weiß ich, dass ich dieses Haus und besonders mein kleines Zimmer hier oben vermissen werde, wenn es mich demnächst zurück nach Bergen zieht. Der Balken über meinem Kopf, die Blümchenbettwäsche und der riesige, alte Baum vor meinem Fenster, der an sonnigen Tagen das Licht fernhält, sind mir mehr ans Herz gewachsen, als ich es jemals erwartet hätte.

Ursprünglich sollte es nur ein Versteck sein, ein Rückzugsort, an dem ich mich isolieren und meine Wunden lecken konnte. Mittlerweile ist es ein Zuhause geworden, das ich definitiv mit einem lachenden, aber auch einem weinenden Auge verlassen werde.

Vielleicht war es nicht die beste Idee, Hals über Kopf aus meinem alten Leben in London auszubrechen. Dafür war es genau die richtige Idee, hierher zu kommen. Die Zeit hier hat mir sehr gut getan, auch wenn es zwischendurch schwierig war.

Demnächst werde ich nach England fliegen, um dort die wichtigsten Sachen aus meiner Wohnung zu holen. Tatsächlich spiele ich mit dem Gedanken, diesmal einen Linienflug zu buchen. Die nächtliche Hinreise in dem kleinen, wackeligen Flugzeug, das von einem portugiesischen Bruchpiloten namens Rui gesteuert wurde, hängt mir immer noch nach. Ein zweites Mal brauche ich das sicherlich nicht, obwohl ich heute mit einem Schmunzeln daran zurückdenke.

Diese Reise ist noch gar nicht so lange her und dennoch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Seitdem sind einfach so viele Dinge passiert, mit denen ich niemals gerechnet und auf die ich teilweise gerne verzichtet hätte. Rückblickend bin ich überglücklich, dass sich das Blatt am Ende zum Guten gewendet hat.

Es gab in den vergangenen Wochen häufig Momente, in denen ich beinahe nicht mehr daran geglaubt habe. Noch weiß ich nicht, wie ich mich bei Oma, Gigi, meinen Freunden und allen anderen für ihre pausenlose Unterstützung bedanken soll. Alleine und ohne Hilfe wäre ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verloren gewesen.

Hoffentlich bekomme ich eines Tages die Chance, mich dafür zu revanchieren. Bis dahin werde ich versuchen, so viel Zeit wie möglich mit meinen liebsten Menschen zu verbringen – etwas, das ich während der letzten Jahre meist versäumt habe.

Ein leises Kratzen an der Tür lässt mich aufhorchen. Zuerst will ich es ignorieren, weil ich gerade zu faul bin, um aufzustehen, doch letztendlich rapple ich mich auf und schaue nach, wer meine Nachtruhe stört. Ich verzichte darauf, das Licht anzuknipsen und sehe deshalb nur einen winzigen, dunklen Körper mit vier Beinen, der sich durch den schmalen Türspalt schlängelt. An den großen Ohren und Pfoten erkenne ich, um welche der Katzen es sich handelt.

„Smögier?", murmle ich überrascht, weil sie eigentlich noch viel zu klein ist, um alleine die steile Treppe zu bezwingen. Wie's aussieht, habe ich das zierliche Kitten unterschätzt.

Neugierig inspiziert sie mein Zimmer, in das sie zuvor natürlich noch nie eine Pfote gesetzt hat. Jeder einzelne Quadratzentimeter wird genauestens untersucht.

Beobachtet wird Smögier dabei nicht nur von mir, sondern auch von König Harald, der neben Alfred auf seiner angestammten Fensterbank liegt und jeden ihrer Schritte mit seinen gelben Augen verfolgt. Wir sind immer noch keine Freunde geworden, aber inzwischen ist das okay für mich. Ein wahrer Herrscher duldet eben keinen anderen Gebieter neben sich.

Nach einer Weile lege ich mich wieder ins Bett, weil ich spüre, wie meine Lider schwer werden. Sofort bricht Smögier ihre Inspektion ab und versucht, zu mir aufs Bett zu springen. Weil sie so winzig ist, rutscht sie jedoch immer wieder ab. Trotz ihrer Riesenpfoten findet sie keinen Halt und irgendwann bekomme ich Mitleid mit ihr. Ich strecke die Hand aus und hole das Kätzchen zu mir hoch.

„Am liebsten würde ich dich mit nach Bergen nehmen", sage ich leise und streichle ihr weiches Fell. „Aber wahrscheinlich ist es besser, wenn du hier bei Oma bleibst. Sie hat mehr Zeit für dich als ich."

Smögier gähnt herzhaft, rollt sich auf der Bettdecke zusammen und fängt an, sich ausgiebig zu putzen. Es sieht sehr ungelenk aus und scheint sie ziemlich anzustrengen, denn irgendwann fallen ihr mitten in der Bewegung die Äuglein zu. Müde lächelnd betrachte ich das kleine, schlafende Fellknäuel neben mir. Es ist das Letzte, was ich sehe, bevor ich selber eindöse.


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt