Ein paar Tage später, kurz nachdem ein neuer Arbeitstag begonnen hatte, gab es einen kleinen Tumult am Tunneldurchgang. Charlie und die anderen wurden aus ihrer beginnenden Lethargie gerissen, als schwere Schritte und Kettenrasseln in den Tunneln erklang.
„He Ibo, hab hier nen Gefangenen für deine Truppe", brummte eine emotionslose Stimme, ehe ein Aufprall mit scheppernden Kettengliedern und ein unterdrückter Fluch zu hören war.
„Na sieh mal an... was hat's uns denn da in die Minen geweht? Du bist aber nicht von hier, was?", spottete der Aufseher.
„Na zum Glück, sonst hätt ich deiner hässlichen Fratze ja schon früher begegnen müssen!", erklang die trockene Antwort eines Jungen, die Charlie erschrocken den Mund aufklappen ließ. So respektlos hatte er noch nie jemanden mit einem Aufseher reden hören! Die Quittung folgte allerdings sofort, es gab einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem schmerzerfüllten Ächzen.
„Du hast eindeutig zu wenig Staub im Maul, wenn du noch Luft für so freche Sprüche hast. Na los, setzt ihn neben den Krüppel und gebt ihm Werkzeuge. Und wehe, du schwächelst... dann hast du richtig Schmerzen, das versprech ich dir!"
Hastig nahm Charlie seine Arbeit wieder auf und spürte, wie zwei Leute einen dritten unsanft neben ihm absetzten und (dem schmerzerfüllten Zischen des Jungen nach zu urteilen) die Werkzeuge mehr nach ihm warfen als sie ihm zu geben, ehe sie sich hämisch lachend wieder entfernten. Nicht ohne den „Krüppel" absichtlich so fest anzurempeln, dass er auf dem Steinboden landete.
Ergeben seufzend rappelte er sich wieder auf und zerkleinerte augenblicklich weiter seine Steine, behielt seine Umgebung aber höchst konzentriert vor dem geistigen Auge. Er spürte den widerstrebenden Blick des Jungen auf sich liegen, dann hörte er das schleifende Geräusch eines Steins und die ersten, zaghaften Schläge mit dem Hammer auf seinen Meißel.
Puh, zum Glück war er vernünftig genug, um nicht weiter Ärger zu provozieren. Obwohl er ihn zugegebenermaßen sehr für seinen Mut bewunderte.
Es dauerte nicht lang, und alles ging erneut seinen gewohnten Gang. Eine Stunde verging, dann noch eine... Der fremde Junge neben ihm gab sein Bestes, doch er war offenbar weder so schwere Arbeit gewöhnt noch den Umgang mit Hammer und Meißel. Außerdem trug er auch noch Hand- und Fußfesseln, die ja ebenfalls Gewicht hatten und ihn beim Arbeiten behinderten. Seine Schläge wurden zunehmend langsamer und unregelmäßiger, während sich parallel dazu sein Atem beschleunigte und zunehmend schwerer wurde, bis er nurmehr keuchte.
Er tat Charlie leid.
Die erste Zeit war die Schlimmste, das wusste er selbst noch ganz genau. Ob... der Junge sich helfen lassen würde? Normalerweise blieb hier ja jeder eisern für sich, und von einem Krüppel wollte sich erst recht keiner helfen lassen. Aber wenn er gar nicht von hier war? Vielleicht... würde er ihn ja doch lassen? Er würde es wirklich gern tun, hatte jedoch Furcht, abgewiesen zu werden. Deshalb dauerte es noch einige Minuten, bis er sich doch ein Herz fasste.
Als er spürte, dass keinerlei Aufmerksamkeit auf ihnen lag, streckte er zaghaft seine Hand aus und berührte den Fremden am Arm. Zu seiner Überraschung fühlte er weichen, gut gearbeiteten Stoff... Das war eindeutig kein Betteljunge. Er hielt auch sofort inne und sah ihn misstrauisch an – schüttelte ihn jedoch nicht ab, was er als gutes Zeichen nahm. Stumm tastete sich Charlie zu seinem Meißel vor, den er wie erwartet viel zu weit mittig am Stein angesetzt hatte. Behutsam hob er ihn an und setzte ihn an den Rand.
„Kleinere Stücke machen. Mit dem Hammer nicht so weit ausholen. Und Mund zu beim Atmen! Sonst brennt dir die Kehle noch schlimmer!", flüsterte er eindringlich und ließ ihn gleich darauf hastig wieder los, um selbst weiterzumachen. Doch eine unerwartete Berührung an seinem Handrücken ließ ihn stocken.
„Danke!"
Völlig verblüfft von der unerwartet freundlichen Reaktion des Jungen verharrte er einen Moment, dann schlich sich ein ungläubiges, leichtes Lächeln auf sein Gesicht.
„Gern...", hauchte er zurück und setzte seinen Meißel an, auf den er mit neuem Schwung den Hammer schlug. Er hatte sich bedankt... wirklich bei IHM bedankt! Er hatte ihm tatsächlich helfen dürfen UND er war dankbar dafür gewesen! Es war ein unbeschreiblich gutes Gefühl, das ihn da grade durchströmte. Es machte ihn... richtig glücklich.
Neben ihm arbeitete auch der Junge weiter, noch immer schwer atmend, aber eindeutig durch die Nase und immerhin auch nicht mehr ganz so mühsam. Trotzdem, es musste eine Tortur für ihn sein. Vor allem, weil der Aufseher mit der Wasserkelle ihn konsequent ausließ.
Als weitere zwei Stunden später endlich die Mittagsglocke geläutet wurde, fielen die Werkzeuge neben Charlie geräuschvoll zu Boden und er hörte ihn bodenlos erleichtert ausatmen. Als Charlie sich erhob, tat der Junge es ihm gleich und folgte ihm schweigend zu der Essensschlange, wo er jedoch sofort wieder ans Ende gedrängt wurde. Er wurde erneut überrascht, als er den Fremden hinter sich wütend Luft holen hörte, doch er packte ihn rasch am Arm und schüttelte hektisch den Kopf – sprechen war nicht erlaubt und würde ihm nur noch mehr Ärger einhandeln.
Zum Glück schnaufte der Junge zwar unwirsch, schwieg jedoch. Anhand seines leichten Atems, der von hinten auf Charlies Haare traf, schloss er, dass der Neue ein wenig größer war als er selbst, also vielleicht auch etwas älter. Von der Stimme her aber nicht viel... zumindest war er noch nicht im Stimmbruch gewesen. Himmel, er war so neugierig! Kam er wirklich von woanders her? Wie mochte er aussehen? Unterschied er sich von den Menschen hier? Was hatte er schon alles gesehen? Er verfluchte das erzwungene Schweigen zum ersten Mal.
Als Charlie endlich an die Reihe kam und sich mit der üblichen Schüssel Fischsuppe und dem Brot auf den Rückweg machte, hörte er den Aufseher boshaft lachen.
„Ich schätze, dir reicht das Brot. Wir wollen ja nicht, dass deine Kehle wieder feucht genug wird, um frech zu werden!" Erneut lachte er. „Ooooh, jetzt seht euch diesen bösen Blick an. Verzieh dich, Ratte, sonst schließ ich dir die unverschämten Augen und du kannst Blindi da hinten noch besser Gesellschaft leisten!"
Charlie biss wütend die Zähne zusammen. Nicht wegen der Beleidigung ihm gegenüber, sondern weil es wirklich pure Bosheit war, dem Jungen keine Suppe zu geben! Nach all dem Staub und dem fehlenden Wasser würde er das Brot kaum schlucken können.
Genau zu dieser Erkenntnis kam auch der Junge ein paar Minuten später, als sie wieder an ihrem Platz saßen. Ganz sicher hatte er Hunger, denn er mühte sich ab, hustete, versuchte es wieder und bekam es dennoch nicht richtig hinunter. Wütend und frustriert knurrte er schließlich und legte geschlagen seinen Kopf mit einem vernehmlichen dumpfen Bums auf die angezogenen Knie. Charlie hörte die Aufseher lachen, die ihn die ganze Zeit beobachtet hatten, ehe sie sich endlich abwandten und sich um ihr eigenes Essen kümmerten.
Auf diesen Moment hatte Charlie gewartet.
Schon die ganze Zeit hatte sein Brot in der Suppe gelegen und die Flüssigkeit fast vollständig aufgesogen. Hastig tastete er nach der Hand des Neuen und zog ihm sein Stück Brot aus den verkrampften Fingern. Bevor der jedoch protestieren konnte, drückte Charlie ihm sein aufgeweichtes Stück in die Hand.
„Lass den Kopf unten", zischte er ihm noch zu, ehe er wieder ein Stück abrückte und die mageren Reste seiner Suppe aus der Schüssel kratzte. Dabei fühlte er den Blick des Jungen intensiv auf sich liegen.
„Vielen Dank...", murmelte er rau, ehe leise Kaugeräusche zu hören waren. Wieder breitete sich dieses warme Gefühl in seinem Bauch aus und ließ ihn lächeln. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag! Das war wirklich schön...
Zufrieden aß Charlie das eingetauschte Brot auf und ruhte sich aus, bis die Glocke erneut erklang und die Schalen eingesammelt wurden. Schweigend gingen die Jungen zurück an die Arbeit.
Ping, Ping, Ping.
Wieder hallte das misstönende Geräusch durch den ganzen Raum, doch seltsamerweise störte es Charlie weniger als sonst. Er konzentrierte sich auch überwiegend auf das langsamere, schwerfälligere hämmern direkt neben ihm. Der Neue hatte kaum noch Kraft in den Armen. Verständlich, denn es war eine furchtbare, monotone, sehr anstrengende Tätigkeit, an die der Körper sich erst noch gewöhnen musste. Er begann auch zunehmend zu husten und trocken zu schlucken; die wenige Flüssigkeit im Brot war beileibe nicht genug gewesen, um das Brennen in seiner sicherlich völlig ausgetrockneten Kehle zu lindern...
Es tat weh, seine Blicke zu fühlen, wann immer ein Aufseher mit der Wasserkelle vorbeikam und ihn ignorierte, während er den anderen beim Trinken zusehen musste, doch mehr konnte Charlie einfach nicht für ihn tun.
Tapfer hielt er jedoch den ganzen restlichen Tag durch, was zeigte, dass er entweder doch recht kräftig war oder einen ziemlich starken Willen besitzen musste. Trotzdem, als endlich, endlich das Schlussläuten ertönte, schlugen seine Werkzeuge augenblicklich auf dem Boden auf und ein leises, aber deutlich vernehmbares, schmerzliches Stöhnen entfloh ihm, gefolgt von einem kratzigen, trockenen Husten.
Armer Junge... dachte Charlie mitleidig, doch ihm waren die Hände gebunden.
„Schau an, die kleine Ratte hats überstanden!" Schwere Schritte traten neben Charlie und stießen ihn erneut unwirsch zur Seite. Ketten klirrten, als die Wache von vorhin die Fesseln des Jungen ergriffen. „Na, durstig, Kleiner? Wenn du brav bist, bekommst du morgen früh was... außer du riskierst nochmal ne dicke Lippe, dann hängen wir noch einen Tag dran. Mal sehen, wann du umfällst! Los jetzt, aufstehen und mitkommen... ich zeig dir dein neues Zuhause!", höhnte der Kerl, zog seinen Gefangenen hörbar grob auf die Füße und schleifte ihn mit sich. Charlie hörte ihn zwar wütend mit den Zähnen knirschen, aber klugerweise blieb er stumm. Durst war Folter, schlimmer als Prügel.
Schweigend folgte er ihm und den anderen nach draußen, während er fieberhaft überlegte. Es entsetzte ihn, dass sie ihm die ganze Nacht kein Wasser geben wollten... denn er wusste aus Erfahrung ganz genau, was das bedeutete. Der Husten und der Durst würden ihn nicht schlafen lassen, und morgen wäre die Arbeit dann gleich dreimal so anstrengend wie heute - und damit kaum zu schaffen, was todsicher Prügel bedeuten würde. Das konnte er doch nicht zulassen, oder? Irgendwie fühlte er sich für den Jungen verantwortlich, obwohl es keinen plausiblen Grund dafür gab. Aber wenn er nicht von hier war... fühlte es sich einfach noch viel falscher an, dass er dieses Los nun tragen sollte. Und Charlie hatte ihm immerhin bereits zweimal helfen dürfen... das bedeutete ihm viel und ließ ihn hoffen, dass er ihm vielleicht noch mal helfen durfte. Deshalb spitzte er nun auch beim Lager angekommen die Ohren und konzentrierte sich genau, um zu hören, wo der Junge hingebracht wurde.
Für Gefangene gab es zwei spezielle Zeltreihen ganz am Anfang des Lagers. Charlie selbst war noch in keinem gewesen, doch er wusste aus Erzählungen, dass sie ähnlich eingerichtet waren wie der Rest, bloß mit einem fest im Boden verankerten Eisenstab in der Mitte, an dem die Ketten der Gefangenen befestigt waren.
Ah, zweite Zeitreihe! Und dem etwas anhaltenden, langsam leiser werdenden Kettengerassel nach zu urteilen relativ weit hinten. Gut zu wissen...
Nachdenklich wanderte Charlie in sein eigenes Zelt und schlug aufatmend die Zeltklappe zu. Zuerst musste er sich ausruhen und stärken. Müde von dem anstrengenden Tag schöpfte er sich etwas Wasser aus dem Gefäß und genehmigte sich noch ein Stück von dem gestern noch zusätzlich gekauften Brot, ehe er sich wie üblich gründlich wusch und dann auf seine Matte legte.
Eine Weile lang lag er einfach nur so da und lauschte dem Treiben um ihn herum.
Noch war viel los; die Arbeiter im Lager gingen einander besuchen, holten sich Wasser oder kauften sich Lebensmittel von ihrem mageren Lohn. Er konnte an der Art ihrer Schritte hören, wer erschöpft war und wer noch Kraft hatte, hörte am Klang ihrer Stimmen, wie sie gelaunt waren und mit wem sie gerne redeten oder nur höflichkeitshalber. Er spürte die feinen Vibrationen im Sand, wenn sie dicht an seinem Zelt vorübergingen.
Charlie war selbst fasziniert davon, was er inzwischen alles wahrnehmen konnte. Er erinnerte sich sechs Jahre zurück, kurz nachdem er seine Augen für immer geschlossen hatte. Himmel, da war er wirklich hilflos gewesen... ständig war er irgendwo angestoßen oder angerempelt worden, gestolpert und gefallen. Wie oft hatte er sich verirrt und war orientierungslos umhergestolpert, bis sich entweder jemand erbarmte oder er durch Zufall etwas Vertrautes fand und seine Orientierung zurückerlangte. Arme, Hände und Knie waren permanent blutig aufgeschürft gewesen. Es hatte lange gedauert... doch er hatte gelernt. Seine anderen Sinne waren stetig feiner geworden, sein Gehör, seine Nase, sein Tastsinn... und auch sein Gedächtnis. Schon bald besaß er ein geistiges Bild seiner Umgebung, wusste auswendig, wie viele Schritte er in welche Richtung gehen musste, um zu seinem Ziel zu gelangen.
Aber noch etwas hatte sich entwickelt... etwas noch viel Faszinierenderes, für das Charlie keinen Namen hatte. Wenn er sich ganz angestrengt konzentrierte, fühlte er Menschen und Tiere in seiner Umgebung. Er konnte sie in gewisser Hinsicht sogar richtig sehen. Also auf eine andere Art als mit den Augen; nicht ihre Kleidung oder Haarfarbe, eher... eine Art Ausstrahlung. Es war sehr merkwürdig, aber unglaublich hilfreich, darum trainierte er diese Fähigkeit so oft wie möglich, auch wenn es sehr kräftezehrend war und ihn müde machte. Aber mit Erfolg! Inzwischen beherrschte er sie so gut, dass er nicht nur Blicke auf sich liegen fühlte, sondern manchmal sogar blitzartig vorausahnen konnte, was die Menschen vorhatten. Unterwegs zum Beispiel spürte er, wenn Leute ihn anrempeln wollten. Also absichtlich. Dann konnte er inzwischen mühelos rechtzeitig ausweichen und heimlich in sich hineinlachen, wenn stattdessen die anderen ins Straucheln gerieten wegen seiner unvorhergesehenen Bewegung. Seinen Stock hatte er dennoch immer mit dabei, denn feste Hindernisse waren nach wie vor ein Problem.
Es dauerte eine Weile, doch als die Sonne untergegangen und die Nacht hereingebrochen war, wurde es schnell ruhiger. Die Wenigsten blieben lange auf; sie brauchten alle den Schlaf, um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln, so wie Charlie ja eigentlich auch. Aber er konnte den fremden Jungen einfach nicht im Stich lassen!
Also stand er auf und ertastete zielsicher eins der kleinen, für Lebensmittel gedachten aber mangels Geldes leeren Tongefäße und füllte es mit seinem Wasser. Vorsichtig klemmte er es sich unter den Arm und kroch lautlos aus seinem Zelt. Zum Glück fühlte er wirklich niemanden mehr in seiner unmittelbaren Nähe außerhalb seines Zeltes, also konnte er sich relativ problemlos fortbewegen. Dennoch blieb er höchst aufmerksam und bemühte sich, keinerlei Geräusch zu verursachen.
Ein weiterer Punkt, der Charlie zugutekam, war, dass die Gefangenen nicht bewacht wurden. Es gab auch keinen wirklichen Grund dazu; selbst, wenn sie sich von den Eisenfesseln befreiten, konnten sie nirgendwo hin. Das Meer rund um die Insel war zwar nicht tief, aber voller Strömungen, scharfer Felsen und Strudel – schwimmen war unmöglich und Boote gab es keine außer die Fähre, die allerdings bestens bewacht war. Hier auf der Insel gab es nichts außer den kahlen, zerklüfteten Bergen, in denen sie sich zwar verstecken konnten, aber elendig verhungern oder verdursten würden. Und all das wurde den Gefangenen selbstverständlich mitgeteilt.
Wenige Minuten später erreichte Charlie die Zeltreihe, in der sich der Junge befinden musste. Jetzt musste er ihn nur finden... langsam schlich er sich in das hintere Drittel und lauschte konzentriert. Lang dauerte es nicht, da erklang das erwartete, schmerzhaft klingende Husten, auf das er gewartet hatte. Da, im vorletzten Zelt!
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen tastete er sich mit Hilfe seines Stockes näher, bis er ganz leicht an die Zeltplane stieß. Ein letztes Mal konzentrierte er sich auf seine Umgebung, doch er fühlte niemanden außer den anderen Gefangenen in ihren Zelten. Also hob er vorsichtig die Zeltklappe hoch und schob sich nach drinnen.
„Wer ist da?", knurrte ihn sofort eine misstrauische, heisere Stimme an. Oh, richtig. Es war dunkel und der Junge konnte ihn sicher nicht erkennen...
„Pssst... ich bins! Der Krüppel aus der Mine!", gab er sich leise und selbstironisch zu erkennen, was den Jungen überrascht Luft holen ließ.
„Du? Was... willst du hier? Sind da keine Wachen?", flüsterte er hörbar besorgt und ließ Charlie wieder lächeln. Er machte sich Gedanken um ihn!
„Nein, da sind keine. Du kannst hier sowieso nicht weg, also warum sollte man dich bewachen?", erklärte er, legte seinen Stock vor den Eingang und streckte suchend seine freie Hand aus. Ohne zu zögern, griffen warme Finger nach ihm und zogen ihn näher an den sitzenden Körper heran, was sein Herz augenblicklich schneller schlagen ließ. Es war das erste Mal seit Jahren, dass jemand ihm gegenüber keinerlei Abscheu an den Tag legte – oder ihn so sanft berührte. Er hatte schon fast vergessen, wie unglaublich schön sich das anfühlte...
Erleichtert hockte er sich hin, hielt die warme Hand aber noch fest und führte sie zu dem mitgebrachten Gefäß.
„Hier, ich hab dir Wasser mitgebracht!"
„Du hast... ehrlich?" Die Erleichterung und Dankbarkeit des Jungen über diese Nachricht war fast greifbar, und dementsprechend gierig griff er nun mit leise klirrenden Ketten danach. Doch Charlie hielt ihn noch fest.
„Warte! Ich weiß, du hast Durst, aber so viel konnte ich nicht mitnehmen. Also musst du klug trinken... nimm zuerst einen großen Schluck, behalt ihn im Mund und spül dir damit erst mal den Staub aus den Backen. Und dann nimm immer nur ein paar kleine Schlucke, mit Pausen dazwischen... so löschst du den Durst am besten. Nur nicht gierig werden!", belehrte er ihn leise und ließ dann erst los. Er spürte ihn nicken, dann hörte er zufrieden, wie seine Anweisungen befolgt wurden und seinem Gegenüber ein leises, erleichtertes Stöhnen entwich, als das lang ersehnte Nass seine Kehle hinunterrann. „Du darfst dir morgen aber auf keinen Fall anmerken lassen, dass du Wasser getrunken hast... oder schlafen konntest. Das heißt, bis sie dir morgen was zu trinken geben, musst du immer wieder husten und so tun, als hättest du keine Stimme und würdest fast umfallen vor Müdigkeit, ja? Bitte, sonst bekommen wir beide große Probleme...", bat Charlie nachdrücklich. Das war wirklich wichtig; so gern er dem Jungen auch half, er war keineswegs scharf darauf, verprügelt zu werden und selbst Ketten angelegt zu bekommen.
Kurz war es still im Zelt, er spürte den nachdenklichen Blick des Fremden auf sich ruhen.
„Warum hilfst du mir eigentlich?", wollte er dann ruhig wissen. Seine Stimme klang schon besser, nicht mehr ganz so rau. Charlie seufzte und zuckte mit den Achseln.
„Naja, weil... ich es will? Und weil du mich dir sogar helfen lässt?", antwortete er ein wenig verlegen und kratzte sich am Kopf. Es warwirklich lange her, dass er sich mit jemandem unterhalten hatte; er kam sichregelrecht unbeholfen vor.
„Das... ist echt nett von dir, yoi? Vielen Dank, ehrlich!", erwiderte der Junge aufrichtig, ehe er zu überlegen schien. „Aber warum sollte ich mir nicht von dir helfen lassen?"
Nun war es an Charlie, überrascht zu sein. Wusste er das wirklich nicht?
„Normalerweise werd ich von den Leuten gemieden. Darum hab ich ja so lange gezögert dir zu helfen, weil ich eigentlich damit gerechnet hab, dass du wütend wirst, wenn ich dich berühre...", antwortete er ehrlich, was seinen Gegenüber ungläubig schnauben ließ.
„Warum um alles in der Welt sollte ich wütend werden, wenn du mich berührst?! Ich hab aber gemerkt, dass die anderen absichtlich gemein zu dir sind. Warum? Nur weil du blind bist?"
Spätestens jetzt wusste Charlie, dass der Wärter die Wahrheit gesagt hatte: Der Junge war eindeutig nicht von hier, also musste er etwas weiter ausholen.
„Wegen unserem Glauben... die Hohepriester sagen, dass die Seele, wenn man sich den Regeln des Lebens fügt, nach dem Tod wiedergeboren wird. Blindheit, Taubheit oder sonstige schwere, körperliche Beeinträchtigungen sind allerdings ein Zeichen dafür, dass man in seinem letzten Leben Böses getan hat und von den Göttern bestraft wurde. In den Augen der anderen hab ich es also verdient, gemieden und herumgeschubst zu werden", klärte er ihn leise auf. Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf.
„Sowas Dämliches hab ich ja noch nie gehört... glaubst du da wirklich dran?", knurrte er hörbar angewidert, was Charlie lächeln ließ.
„Nein. Aber ich nehme es den anderen nicht übel, es gibt Schlimmeres als das", murmelte er, ehe seine Neugierde überhandnahm. „Aber sag mal... wenn du das alles nicht weißt, heißt das doch, dass es nicht überall so ist wie bei uns, oder?"
Der Fremde lachte kurz freudlos auf, ehe ihm die notwendige Heimlichkeit wieder einfiel und er sich erschrocken die Hand vor den Mund schlug. Beide lauschten einen Moment lang, aber nichts regte sich. Charlie spürte keinerlei Aufmerksamkeit von irgendwem aus den Nachbarzelten.
„Tschuldige! Aber ganz ehrlich: das hier ist bisher echt das fieseste Land, in dem ich je gewesen bin, yoi? Und ich hab schon einige Inseln und Königreiche gesehen. Also nein, es ist überhaupt nirgendwo so wie hier! Zum Glück, ehrlich gesagt. Viele Inseln sind ganz friedlich, es leben ganz normale Leute mit ganz normalen Gesetzen und Regeln da... klar gibt's reichere und ärmere Menschen, aber... hier ist es schon sehr extrem, oder? Aber das Schlimmste ist, dass alle das so in Ordnung finden", flüsterte er bitter und nahm einen kleinen Schluck Wasser aus dem fast leeren Gefäß.
Seine Worte schenkten Charlie unheimlich viel Hoffnung. Die Geistlichen logen also! Und lügen war doch eine Sünde... also warum wurden sie nicht bestraft? Oder warum war es ihnen erlaubt zu lügen, während es der Rest nicht durfte? Er hatte schon immer gezweifelt, und diese Zweifel bestätigten sich immer mehr.
„Wie schon gesagt, es liegt an dem Glauben. Jeder bekommt das Leben, das er verdient, heißt es. Wirst du als armer Mann geboren, ist das die Strafe der Götter für vergangene Sünden. Nur indem du dein Los annimmst und dich dem auferlegten Schicksal fügst, hast du nach deinem Tod die Chance auf ein besseres Leben..."
Erneut schnaubte der Junge.
„Das ist hinterhältige Versklavung, nichts anderes! Menschen sind nicht dazu geboren, arm zu sein oder leiden zu müssen, das ist dir klar, yoi? Jeder Mensch sollte frei sein... und die Chance haben, glücklich zu werden! Darum ist es auch eine Sauerei wie du behandelt wirst – wie alle hier behandelt werden!", zischte er hitzig und Charlie kamen fast die Tränen bei so viel unerschütterlicher Überzeugung. Er glaubte an das, was er sagte. Er hielt das alles hier für Unrecht.
„Das... klingt wirklich schön. Frei sein. Also bist du ein Vogelfreier? Einer, der übers Meer segelt?", hakte er geradezu ehrfürchtig nach, was dem Jungen keineswegs entging.
„Vogelfrei? Ich bin Pirat und segle über das Meer, ja. Also genau genommen bin ich noch Lehrling, aber mit siebzehn gehör ich wirklich dazu!", berichtete er hörbar stolz, ehe er gähnte – und stutzte. „Ähm... sag mal wie heißt du eigentlich?"
Bewundernd stieß der Angesprochene den Atem aus. Ein Vogelfreier! Genau wie die beeindruckenden Männer, die er damals in den anderen Minen gesehen hatte!
„Wahnsinn... ein echter Pirat also! Ähm... ich bin Charlie und wer bist du?" Mit dem breitesten Lächeln seit langem hielt er ihm seine Hand hin, die gleich darauf ergriffen wurde.
„Marco. Freut mich!", kam die aufrichtige Antwort, gefolgt von einem weiteren Gähnen, das auch Charlie ansteckte. Ein wenig bedauernd setzte er sich wieder auf die Knie.
„Freut mich auch, Marco. Aber versuch jetzt zu schlafen, du wirst die Kraft morgen brauchen. Aber vergiss nicht: Du musst wirklich, wirklich so tun als obs dir echt schlecht ginge! Husten, schweigen, müde sein, ja?", erinnerte er ihn und streckte die Hände nach seinem Gefäß aus, das ihm augenblicklich gereicht wurde.
„Keine Sorge, ich bin n guter Schauspieler! Wobei ich mich da morgen glaub ich nicht sonderlich anstrengen muss, mir tut alles weh...", seufzte er, was Charlie keineswegs wunderte.
„Ist normal, leider... es dauert ein paar Wochen, bis man sich an die Arbeit gewöhnt hat. Die nächsten Tage wirst du den Hammer kaum halten können... versuch, auf dem Weg in die Miene deine Muskeln etwas zu lockern! Dehnen, strecken, beugen... das hilft immerhin ein bisschen..."
Nach seinen Worten fühlte er erneut den Blick sehr intensiv auf sich liegen.
„Danke, Charlie... für alles, yoi? Falls ich morgen Abend noch da bin, kommst du wieder?"
Erstaunt hob der Angesprochene den Kopf in seine Richtung.
„Falls du noch da bist? Wirst du weggebracht?", fragte er irritiert, was Marco ein Schnauben entlockte.
„Na glaubst du, ich werd nicht gesucht? Zwei meiner Brüder und ich sind vorgestern in eurer Hauptstadt überwältigt und festgenommen worden, als wir versucht haben, Vorräte für unser Schiff zu besorgen. Mein Vater und die anderen haben aber inzwischen ganz sicher davon erfahren und holen mich hier raus! Fragt sich nur, wie lang sie brauchen, um mich hier zu finden... oder ob er erst Andre und Rakuyou befreit", erwiderte er sachlich, ehe er seufzte. „Hm, realistisch betrachtet wird es wohl doch ein paar Tage brauchen..."
Ziemlich verblüfft starrte Charlie ihn an.
„Du... glaubst wirklich, dass sie dich befreien können? Aber... all die Wachen und Aufseher... und man kann die Insel nur über die Seilfähre erreichen, weil die Strömungen zu stark sind und das Meer zu flach ist! Wie soll das gehen?", stieß er atemlos hervor. Doch Marco klopfte ihm unvermittelt auf die Schulter.
„Irgendwie kriegt er es hin, da bin ich absolut sicher. Mein Vater ist der stärkste Mann, den ich kenne und er würde mich niemals im Stich lassen, yoi?" Dann jedoch seufzte er ein wenig besorgt. „Wobei du recht hast... das könnte echt schwierig werden. Ich werd mir was überlegen müssen, um hier rauszukommen...", gab er ein wenig unwillig zu. Er hatte also wirklich vor, zu fliehen... nein, er war vollkommen überzeugt davon, dass er fliehen würde.
Und... Charlie glaubte ihm. Obwohl es ihn jetzt schon traurig machte, auf den einzigen freundlichen Menschen hier schon bald wieder verzichten zu müssen; aber er hatte es beileibe nicht verdient, hier gefangen zu sein.
„Ich überlege mit... und wenn ich kann, helf ich dir, okay? Du musst nur um jeden Preis vermeiden, dass du Ärger bekommst; zu Gefangenen sind die Aufseher gnadenlos... und das meine ich ernst! Denen ist egal, wie sie dich zurichten... halb tot wird eine Flucht noch viel schwerer!", mahnte er erneut leise und schob sich vorsichtig zum Ausgang.
„Habs verstanden, ja. Nochmal danke, Charlie. Hey, du bist echt nett. Also auch wenn der Rest der Idioten hier ein Problem mit dir hat: ich mag dich, yoi?", flüsterte Marco zum Abschied – und ließ den Angesprochenen damit erstarren. Seine Augen begannen verdächtig zu brennen, als er das Gesagte im Geiste wiederholte.
„Das... ich... gern geschehen. Bis morgen!", stammelte er mit kratziger Stimme und schlüpfte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass dort niemand war, nach draußen.
Tief atmete er die kühle Nachtluft ein und machte sich langsam und vorsichtig auf den Weg zurück. Marco also...
Marco, der Piratenlehrling, der ihn mochte. Er konnte es noch kaum fassen und konnte einfach nicht aufhören zu lächeln, selbst als er in seinem Zelt angekommen war und sich auf der Matte zusammengerollt hatte. Vielleicht... ja, vielleicht hatte er grade den ersten Freund seines Lebens gefunden!
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Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und Hölle
FanfictionIm Jahre 1494 lernt der vierzehnjährige Piratenlehrling Marco den dreizehnjährigen Charlie kennen. Zwischen den beiden Jungen entsteht schnell ein tiefes, schicksalhaftes Band, das sie nicht nur durch viele, turbulente Abenteuer hindurch begleitet...