Als Fossa erwachte, wusste er sofort, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Es dauerte aber ein paar Sekunden, ehe sein seltsam träger Verstand langsam in die Gänge kam und er greifen konnte, was genau ihm dieses Gefühl vermittelte: erstens schien ihm hier grade eindeutig die Sonne warm ins Gesicht, obwohl seine Schicht doch eigentlich schon vor Sonnenaufgang begann; zweitens pochte sein Schädel verdammt unangenehm und drittens... kannte er das charakteristische, leichte Schwanken des Bodens unter ihm nur allzu gut. Er musste sich auf einem Boot befinden.
Aber wie um alles in der Welt kam er auf ein Boot?!
Hektisch fuhr er hoch - und griff sich gleich drauf fluchend an den nun wirklich schmerzhaft protestierenden Schädel. Als er ihn abtastete, fühlte er eine ziemlich große Beule an seinem Hinterkopf... bloß hatte er keine Ahnung, wie die da hingekommen war. Was zum Henker war denn passiert? Angestrengt schloss er die Augen und versuchte, die Ereignisse zu rekapitulieren. Er erinnerte sich noch vage an den kurzen, blutigen Kampf, als plötzlich die Piraten auf der Insel aufgetaucht waren... und an den fleischgewordenen Kriegsgott, der die Mineninsel in ein Bild totaler Zerstörung verwandelt hatte. Aber danach? Hatte diese seltsame Druckwelle ihn vielleicht erwischt?
„Oi, langsam Kumpel... leg dich wieder hin, du solltest deine Birne noch ein bisschen schonen", erklang auf einmal eine vertraute, belustigte Stimme neben ihm. Irritiert blinzelnd öffnete er doch wieder die Augen. Es dauerte, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, aber dann wandte er sich orientierungslos um und erkannte schließlich Rakuyou, der entspannt neben ihm auf einem Stuhl saß.
„Du? Was ist... wo...?", murmelte er noch vollkommen konfus und sah sich mit mulmigem Gefühl in der Brust in dem unbekannten Raum um. Mehrere Betten standen in zwei Reihen an den Wänden, alle mit weißen Laken frisch bezogen. Wände und Boden bestanden aus hellem Holz und hinter ihm schien die Sonne durch ein rundes Fenster. Wo... wo war er denn hier?! Doch kaum, dass sich die Frage in seinem langsam klarer werdenden Kopf gebildet hatte, schoss sein Blick erneut zu dem Piraten zurück. Dem offenbar blitzsauberen, sichtlich zufriedenen Piraten in seinen neuen Klamotten und mit sorgfältig bandagierten, kettenfreien Handgelenken... was nur einen logischen Schluss zuließ: das hier war IHR Schiff.
Ihr Schiff, auf das er NICHT gewollt hatte!
„Das habt ihr nicht wirklich getan, oder?!", knurrte er gepresst und starrte einen der beiden Männer an, die er als erste seit langer Zeit tatsächlich für Freunde gehalten hatte... und die ihn offenbar völlig unverfroren und ganz bewusst gegen seinen Willen auf ihr verdammtes Schiff entführt hatten!
Der Pirat mit dem dunkelblonden Rastalocken hielt seinem Blick gelassen und ohne auch nur dem kleinsten Funken Reue stand.
„Doch, haben wir. Wir haben beschlossen, dich nicht in dieser gottlosen Hölle verrotten zu lassen... also hat Andre dich in Absprache mit mir niedergeschlagen und ich hab dich mit Erlaubnis unseres Vaters an Bord gebracht. Von daher: willkommen auf der Moby Dick, mein Freund!", entgegnete er und breitete einladend seine Arme aus.
Fossa traute seinen Ohren kaum.
Vor lauter hochkochender Wut brauchte er einen Moment, bis er seine Sprache wiederfand. Was zum Henker hatten sich die beiden Mistkerle dabei gedacht?! Er hatte ihnen doch klar und unmissverständlich gesagt, dass er keinerlei Interesse dran hatte, sie zu begleiten! Sie hatten das ganz genau gewusst und ihn trotzdem einfach mitgenommen. Nein, sogar NIEDERGESCHLAGEN und mitgenommen!! Brodelnd vor Zorn ballte er seine Fäuste.
„Spar dir den Mist, du Verräter! Ich hab euch doch gesagt, dass ich nicht mit euch kommen will... also bringt mich gefälligst zurück!!", erwiderte er aufgebracht, doch daraufhin besaß Rakuyou sogar noch die Dreistigkeit, zu lachen.
„Zurückbringen? Wir haben vor fast einem Tag abgelegt... dir scheint da grade die Abendsonne ins Gesicht, mein Freund. Und wir werden garantiert nicht umdrehen und diesem ekelhaften Schandfleck der Weltmeere jemals wieder auch nur nahekommen. Aber wenns dir so wichtig ist, dann schenken wir dir natürlich gern eins unserer Beiboote samt ein paar Vorräte und du kannst selbst zurückrudern. Oder, wenn du's besonders eilig hast mit dem Sterben, dann kann ich dir auch jetzt sofort den Gnadenstoß geben. Erspart dir immerhin jahrelange Schinderei...", gab er trocken zurück und verschränkte unnachgiebig die Arme vor der Brust.
In ohnmächtiger Wut biss Fossa so fest die Zähne zusammen, dass es schmerzte.
Diese zwei verdammten... ARGH!
Das konnte doch alles wirklich nicht wahr sein!
Finster starrte er auf die Bettdecke, während sich seine Gedanken förmlich überschlugen und verzweifelt einen Ausweg aus diesem Dilemma suchten. Verdammt!!
Was sollte er denn jetzt bloß machen? Die Sache mit dem Boot war ein schlechter Witz; selbst, wenn er tatsächlich irgendwie zu der Insel zurückfinden konnte, käme er dank der Strömungen und Strudel wohl kaum lebendig an Land. Und auch wenn er dieses Wunder doch irgendwie hätte vollbringen können, würde man jetzt ganz sicher IHN wegen des angerichteten Blutbades hinrichten lassen. Natürlich vor den kalten, emotionslosen Augen des Sultans...
Nein. Ganz sicher nicht!!
Diesen Gefallen tat er dem Dreckskerl nicht. Was allerdings hieß... er konnte nicht zurück.
Diese Erkenntnis fraß sich bitter in seinen Kopf.
Er hatte doch eigentlich mit seinem Leben abgeschlossen... er hatte seine verbleibende Lebenszeit in den verdammten Minen absitzen wollen, denn das war schließlich nur fair, weil der Kleine ja auch auf diese qualvolle Weise hatte sterben müssen. Wohingegen es ihm nun die Kehle zuschnürte vor lauter Schuld bei dem Gedanken, dass er plötzlich und unerwartet so etwas wie... ein freier Mann war? Er hatte weder seine Schwester retten können noch ihren einzigen Sohn... welchen verdammten Grund gab es, dass ER weiterleben sollte?! Verzweifelt fluchend raufte er sich grob die Haare.
„HEY! Jetzt beruhig dich doch wieder, Mann...", griff jedoch unvermittelt Rakuyou ein, packte ihn unerwartet kräftig an den Handgelenken und drückte sie mit Gewalt zurück auf die Laken. Eine Handlung, die das Fass zum Überlaufen brachte.
„WIESO ZUM TEUFEL SOLL ICH MICH BERUHIGEN?! HÄTTET IHR MICH NICHT EINFACH AUF DIESER SCHEISS INSEL STERBEN LASSEN KÖNNEN??", brüllte Fossa aufgebracht, doch der Pirat ließ sich davon nicht beeindrucken. Jede Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden, stattdessen lag grimmige Entschlossenheit darin, als sein Griff schmerzhaft fest wurde. Es war Zeit, hier ein paar Dinge klarzustellen!
„Wir lassen unsere Freunde aber nicht einfach so sterben!", knurrte er dickköpfig und hielt seinen Blick eisern fest. „Außerhalb von dieser Hölle, in der du bedauerlicherweise hast leben müssen, herrschen andere Werte, klar? Hier bestimmen wir selbst über unser Schicksal, nicht irgendwelche kranken Gottheiten. Wir entscheiden nach unserem Gewissen, was wir für richtig und falsch halten... und wir tragen die Konsequenzen dafür in DIESEM Leben, nicht in irgendeinem möglichen Nächsten. Weil es ganz allein UNSER Leben ist und niemand sonst das Recht hat, darüber zu bestimmen! Wir sind freie Männer, Fossa - auch du! Ich weiß, dass du dich schuldig fühlst wegen deiner Familie... aber glaubst du wirklich, dass sie gewollt hätten, dass du dich so quälst? Denkst du, dass es ihnen Freude macht, dich leiden zu sehen oder dir sogar beim Sterben zusehen zu müssen?? Denkst du das wirklich? Würde deine Schwester dir dafür dankend auf die Schulter klopfen und sagen: 'Toll gemacht, lieber Bruder, das hat mir gefallen'? Fände dein Neffe es gut, wenn er dir tagein tagaus dabei zusehen müsste, wie du einsam vor dich hinsiechst? Pah. Wenn sie dich auch nur halb so viel geliebt haben, wie du sie... dann hätten sie sich doch ein Leben für dich gewünscht! Gewollt, dass wenigstens du glücklich bist! Verdammt nochmal, es hilft doch niemandem was, wenn du dich so sinnlos quälst, nur um dann elendig zu verrecken... außer dem Dreckskerl, der schon deine Schwester und deinen Neffen auf dem Gewissen hat. Der lacht sich doch auch noch ins Fäustchen, weil er dich gebrochen hat! Ich bitte dich, Fossa... denk doch nochmal vernünftig drüber nach. Meinst du nicht, dass du ne Chance verdient hast? Und statt sinnlos für deine Familie zu sterben... nicht doch lieber für sie leben solltest?!"
Mit einem qualvollen Stöhnen vergrub Fossa sein Gesicht in den Händen, kaum, dass der Pirat sie am Ende seiner Standpauke wieder freigegeben hatte.
Rakuyous Worte trafen ihn... wirklich schmerzhaft und wirklich tief. Es tat weh, sich auch nur ansatzweise vorzustellen, wie seine Schwester oder der Kleine reagieren würden, wenn sie ihn tatsächlich so sehen könnten. Anuya würden die Tränen kommen vor Qual... und Suryas entsetze, weit aufgerissene Augen sah er sogar noch deutlicher. Verdammt nochmal, natürlich würden die beiden ihm von Herzen nur das Beste wünschen, aber... der Gedanke war einfach zu schmerzhaft! Dass ausgerechnet er so eine unglaubliche, einmalige Chance bekommen sollte, wo zwei so wundervolle Menschen hatten sterben müssen... obwohl SIE diese Chance doch eigentlich viel mehr verdient hatten.
ER hatte das Leben in Khadir besser verkraftet...
ER wäre dort zurechtgekommen...
Aber die, die es nicht gekonnt hatten, waren gestorben - während er nun sogar die bis vor wenigen Augenblicken völlig undenkbare Möglichkeit bekommen hatte, dieses verfluchte Land für immer zu verlassen. Das war... doch einfach nicht fair!! Und ganz davon abgesehen hatte er doch keinen blassen Schimmer von der Welt außerhalb von Khadir. Allein diese zwei Piraten waren so vollkommen anders als alle Menschen, die er bisher gekannt hatte! Es sprengte schlichtweg seine Vorstellungskraft, wie es auf anderen Inseln und anderen Städten sein könnte. Wo sollte er denn da hin? Was konnte er irgendwo anders überhaupt Sinnvolles machen?! Das alles überforderte ihn maßlos und machte ihm Angst.
„Ich... ich kann das nicht...", stieß er rau hervor, ohne sein Gesicht zu heben. Rakuyou seufzte tief und griff tröstend an seine Schulter.
„Wie wärs, wenn du's auf nen Versuch ankommen lässt? Jetzt bist du doch schon mal hier, oder? Lern meine Familie kennen... lern die Welt außerhalb deiner Geburtsinsel kennen... und vor allem lass dir von uns zeigen, wie sich echtes Leben anfühlt - nicht machtloses vor-sich-hin-existieren! Wir werden dich auch nicht damit allein lassen, darauf hast du mein Wort. Auch wenn das für dich grade vielleicht nicht so aussieht, weil wir dich gegen deinen Willen hergebracht haben: du kannst uns wirklich vertrauen. Andre und ich wollten dir nichts Böses, Fossa... ganz im Gegenteil! Wir wollten dir einfach nur helfen, genauso wie du uns geholfen hast. Auch wenn du diese Hilfe nicht wolltest... es war trotzdem das einzige Richtige und wir bereuen unser Handeln auch nicht", redete er ernst auf ihn ein, ehe er schief lächelte. Es war ein unerwartet trauriges Lächeln. „Ob du's mir glaubst oder nicht, ich war mal in ner ähnlichen Lage wie du. Ich hab... auch schon mal alles verloren, das mir etwas bedeutet hat. Nur wars bei mir das Mädchen, das ich geliebt hab... und meine Schwiegereltern. Willst du die Geschichte hören?"
Von dieser unerwarteten Frage kurzzeitig aus dem eigenen Elend gerissen, hob der Schwarzhaarige gleichermaßen überrascht wie besorgt den Kopf und musterte ihn stirnrunzelnd. Damit hatte er bei dem selbstbewussten, energischen Kerl absolut nicht gerechnet... doch in seinen dunklen Augen flackerte plötzlich tatsächlich ein viel zu vertraut wirkender, dumpfer Schmerz auf.
„Willst du's... mir denn erzählen?", stellte er heiser die Gegenfrage, was mit einem tiefen Seufzen quittiert wurde.
„Sonst hätt ichs dir nicht angeboten, oder?" Etwas angestrengt rieb sich der Pirat über die Stirn; bis heute fiel es ihm nicht leicht, darüber zu reden. Aber möglicherweise würde es Fossa ja helfen, wenn er ihm zeigte, dass er sein Leid tatsächlich verstehen konnte. Also atmete er tief durch und begann zu erzählen.
„Der Name des Mädchens war Tessa, sie hat mit ihrer Familie direkt neben uns gewohnt. Auf der Insel, auf der ich gelebt hab, herrschte zu der Zeit ein schlimmer Bürgerkrieg, der auch meinen Eltern das Leben gekostet hat, als ich sechs Jahre alt war. Doch Tessas Eltern haben mich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, bei sich aufgenommen. Sie... haben sich wirklich gut um mich gekümmert und mich behandelt wie ihren eigenen Sohn. Es waren wundervolle Menschen, ich hab sie ehrlich geliebt. Und als Tessa und ich uns dann ein paar Jahre später ineinander verliebt haben, wars einfach perfekt. Mehr hab ich nie gewollt, weißt du? Ein Zuhause und Menschen, die mich lieben. Und um das zu verteidigen, hab ich mich damals der Armee angeschlossen und an der Front gekämpft. Tessa und ihre Eltern hatten immer Angst um mich... und ich war froh, dass sie in Sicherheit waren. Dafür hab ich lange und hart gekämpft und schließlich sogar gesiegt. Es hat schon etwas Ironisches, dass ich den Krieg schadlos überstanden hab, während sie..." Sein Gesicht verzog sich in bitterem Schmerz, während seine dunklen Augen blicklos in die Ferne starrten.
„Ich war grade auf dem Heimweg, um mit ihnen den Triumph zu feiern... aber als ich angekommen bin... war alles weg. Das Haus, die ganze Straße, in der wir gelebt haben... einfach weg. Es hatte in letzter Zeit ungewöhnlich viel geregnet, und... das hat einen verheerenden Erdrutsch ausgelöst, der das halbe Dorf vernichtet hat. Da war... wirklich gar nichts mehr übrig, nur noch tonnenweise Schlamm, der alles, was mir wichtig war, unter sich begraben hat. Wir hätten endlich in Frieden leben können, alles wäre endlich gut gewesen... und dann das. Ich hatte umsonst gekämpft... mich völlig umsonst angestrengt, meine Liebsten zu beschützen. Ich war am Ende. Als Vater mich ungefähr ein Jahr später gefunden hat, war ich nur noch ein versoffenes, elendes Wrack, das seinen Rausch zwischen Mülltonnen ausgeschlafen hat. Er hat mir angeboten, mich mitzunehmen, doch ich hab abgelehnt. Mit den Worten, dass ich eh bloß noch mit leeren Händen da steh und es gar keinen Grund für mich gibt, irgendwo anders hinzugehen. Im Grunde hab ich zu der Zeit auch bloß noch auf den Tod gewartet. Und weißt du, was er geantwortet hat?"
„Was?", raunte Fossa mit zugeschnürter Kehle. Er hatte wirklich nicht gedacht, dass dieser Mann tatsächlich erahnen konnte, wie es ihm ging... und sie sogar ein ähnliches Schicksal teilten. Das war... seltsam tröstlich, auch wenn es ihm furchtbar leid tat für ihn.
Rakuyous Blick hellte sich auf und ein breites Lächeln trat wieder auf seine Züge, als er sich erinnerte.
„Er sagte, dass ein Mann mit leeren Händen umso besser nach den Sternen greifen kann!"
Stille breitete sich nach seinen Worten aus.
Fossa verbarg sein Gesicht wieder in seinen Händen, doch der Pirat war sich sicher, dass er mit seiner Geschichte etwas erreicht hatte; seine Schultern waren immerhin nicht mehr ganz so niedergedrückt und er wirkte ruhiger... wenngleich er auch unheimlich erschöpft aussah. Verständlich, sein ganzes Leben war dabei, sich drastisch zu verändern... oder besser gesagt hatten er und Andre es wohl eher gründlich aus den Angeln gerissen. Das zu verarbeiten war sicher nicht leicht und würde Zeit brauchen - aber die hatte er jetzt. So viel er wollte und brauchte. Also ließ er sich wieder auf seinen Stuhl zurücksinken und leistete seinem neuen alten Freund einfach weiter stumme Gesellschaft.
Das letzte Licht der Sonne wanderte langsam, aber beständig weiter, doch keiner von beiden rührte sich... auch nicht, als mit einem lauten Aufklatschen der Anker ins Wasser fiel und die Segel für die Nachtruhe eingeholt wurden. Nach und nach waren vom Deck her immer mehr gut gelaunte Stimmen zu hören; offenbar war das Abendessen in der Kombüse nun beendet und seine Geschwister genossen den lauen Abend. Aber erst, als das ausgelassene Gelächter dreier hellerer Stimmen erklang, hob Fossa langsam wieder den Kopf und sah müde zur Tür.
„Euer Bruder... ihr habt ihn auch retten können...", erinnerte er sich ein wenig heiser an ein Detail aus der chaotischen Fluchtnacht. „Geht's ihm gut?"
Rakuyou grinste zufrieden.
„Eigentlich hat er sich mit etwas Hilfe mehr oder weniger selbst gerettet, wie ich gehört habe. Aber ja, es geht ihm gut - der Kleine ist zum Glück gesund und munter. Er hat nur ein bisschen an Gewicht verloren, das füttern wir ihm aber schnell wieder an. Oh, und er hat ebenfalls nen Freund mitgebracht, der ihm bei der Flucht geholfen hat! Scheint doch mehr verborgene Freundlichkeit bei euch zu geben als gedacht. Willst du die beiden nicht kennenlernen und nen kleinen Spaziergang an Deck wagen?"
Der Schwarzhaarige zögerte, doch als der Pirat aufstand und einladend zur Tür wies, erhob er sich vorsichtig. Es war ein ausgesprochen tröstlicher Gedanke, dass der Junge überlebt und ebenfalls in Sicherheit war... und dass sie sogar noch jemanden aus den Minen befreit hatten. Er war also nicht der einzige Fremde hier an Bord.
Mit steifen Gliedern folgte er Rakuyou langsam zur Tür und dann einen kurzen Gang entlang.
„Was macht dein Kopf?", fragte der Pirat ein wenig besorgt, was den Angesprochenen schnauben ließ.
„Andre hat nen harten Schlag... aber mein Schädel ist zum Glück härter", brummte er, noch immer wenig glücklich über seine Entführung, aber die Wut und die Verzweiflung in ihm waren verschwunden. Schwer zu sagen, was er stattdessen fühlte... im Augenblick wohl am ehesten schlichte Erschöpfung, weswegen er seine Situation grade einfach nur akzeptiert hatte, ohne weiter darüber nachdenken zu wollen. Rakuyou jedoch lachte bei seinen grummeligen Worten auf.
„Hey, es tut uns echt leid! Aber du hättest auch einfach freiwillig mitkommen können, dann wär dir das erspart geblieben", entgegnete er rotzfrech. Mit ungläubig zusammengekniffenen Augen starrte der andere ihn an. So ein dreistes, unhöfliches Verhalten war ihm gänzlich fremd, aber auch wenn es ihn verärgerte... irgendwie... brachte es ihn seltsamerweise gleichzeitig beinahe zum Grinsen. Und es forderte ihn heraus.
„Werd ich mir merken... und mich bei Gelegenheit angemessen dafür revanchieren!", knurrte er mürrisch, doch Rakuyou sah den leichten Glanz in seinen nicht mehr ganz so trostlosen Augen, was seine Stimmung gleich nochmal hob. Er war zuversichtlich, dass sie auf einem guten Weg waren - Fossa hatte einen starken Willen, ein gutes Herz und eine Menge unentdecktes Potenzial in sich, da war er sich absolut sicher. Sie mussten es nur noch aus ihm herauskitzeln und ihm die unnatürliche Zurückhaltung und die Demut austreiben, damit endlich der Mann zum Vorschein kommen konnte, der er eigentlich war... und mit etwas Glück würde er ihn sogar als neuen Bruder gewinnen. Das würde ihm gefallen, er hatte den brummigen Kerl inzwischen nämlich wirklich gern.
Schwungvoll öffnete er die Tür und betrat als Erster das Deck. Der Abendhimmel leuchtete noch in sattem Rot, aber die Sonne war soeben hinterm Horizont verschwunden. Sein Vater stand an der Reling und sprach mit Ragnar, während die meisten seiner Geschwister entspannt um den Mast herum auf den Planken herumlungerten und Karten spielten. An der gegenüberliegenden Reling hockten Marco und Jozu mit ihrem neuen Freund und bestritten offenbar eine regelrechte Würfelschlacht, so hitzig wie sie die Würfel anfeuerten.
„He, du bist wach!", rief Andre grinsend und lenkte damit die volle Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge. Viele neugierige, offene Blicke lagen auf Fossa, was ihm reichlich unangenehm, war. Bei Tageslicht wirkten diese Menschen sogar noch fremder auf ihn. Allein ihre Kleidung war so anders, ganz zu schweigen von ihrer helleren Haut und den ungewöhnlichen Haar- und Augenfarben. Und ihrer Körpergröße.
Grinsend winkte Andre ihm zu, doch Fossa hielt es für gerechtfertigt, ihm statt einer höflichen Antwort lediglich einen finsteren Blick zuzuwerfen.
„Ja, nachdem du mich ziemlich tief schlafen geschickt hast...", antwortete er sarkastisch, was den Hünen und seine Kameraden jedoch lediglich zum Lachen brachte.
„War nur zu deinem Besten, Kumpel... wirst schon noch sehen", erwiderte er genauso unbekümmert wie Rakuyou, was den Schwarzhaarigen ungläubig die Augen verdrehen ließ. Offenbar war es tatsächlich etwas Normales, Menschen gegen ihren Willen einfach einzupacken und mitzunehmen...
„Nimms ihnen nicht übel, Junge... sie haben es nur gut gemeint. Wie fühlst du dich?", unterbrach Whitebeard die beiden mit einem Grinsen. Fossa neigte sofort ehrfürchtig den Kopf; dieser Mann war im Licht des Tages kaum weniger eindrucksvoll als er in der Nacht schon gewirkt hatte. Selbst wenn er eindeutig völlig entspannt einfach nur dastand, strahlte er Stärke und Autorität aus, ohne jedoch einschüchternd zu wirken. Überraschenderweise fühlte sich diese Aura sogar... beruhigend an. Oder gar tröstlich? Es war schwer zu sagen. Nicht einmal seine freundlichen Worte und sein offenes, aufmerksames Gesicht taten dem ehrfurchtgebietenden Eindruck einen Abbruch! Im Gegenteil: es verblüffte und beeindruckte ihn tief, dass jemand, der über so viel Macht verfügte, so ungezwungen und höflich mit ihm sprach. Einem Fremden, den er unterwerfen oder töten könnte, ohne sich auch nur anstrengen zu müssen... doch stattdessen erkundigte er sich nach seinem Wohlbefinden und ließ ihn sogar auf seinem Schiff mitreisen.
„Geht schon, Ser... ich bin zum Glück hart im Nehmen...", gab er respektvoll zurück und rieb sich ein wenig verlegen über die Beule an seinem Hinterkopf. „Und auch wenns nicht freiwillig war: vielen Dank trotzdem, dass ich mitfahren darf..."
Whitebeard lachte.
„GUARHARHAR! Lass das ‚Ser' weg, Junge, solche Floskeln brauch ich nicht. Und keine Ursache... immerhin hast du meinen Söhnen geholfen, dafür sind wir dir verdammt dankbar und stehen in deiner Schuld. Erhol dich jetzt erst mal von allem und lass dich von Rakuyou rumführen. Wenn du wieder fit bist, reden wir darüber, wie's mit dir weitergehen soll", schlug er ihm mit einem gutmütigen Zwinkern vor, was den Angesprochenen erneut reichlich verblüffte. So freundlich hatte man ihn - von den beiden Piraten einmal abgesehen - wirklich schon sehr, SEHR lange nicht mehr behandelt. Respektvoll verneigte er sich, was aus irgendeinem Grund für Belustigung zu sorgen schien.
Auch Rakuyou grinste breit - er hatte schon gehört, dass auch ihr jüngerer Gast unheimlich höflich war... offenbar gehörte diese unnatürlich steife Höflichkeit zu der strenggläubigen Gesellschaft dazu. Irgendwie passend zwar, aber trotzdem bescheuert; den Unsinn mussten sie ihnen eindeutig schnell austreiben. Voller Tatendrang zwinkerte er seinem Vater zu, was vergnügt erwidert wurde.
„Aye, Vater! Aber zuerst... hey Marco! Komm mal her!", rief er vergnügt. Der Lehrling sprang sofort auf und rannte zu ihnen. Fossas Blick wurde automatisch weicher, als er ihn sah. Das war also der kleine Bruder der beiden, um den sie sich so gesorgt hatten... er sah wirklich sympathisch aus, auch wenn er eine ungewöhnliche Frisur hatte. Aber seine erstaunlich hellblauen Augen sahen ihm mit aufgeweckter Intelligenz und sichtlicher Neugierde entgegen, was ihm unwillkürlich einen wehmütigen Stich versetzte. Genau so sollten die Augen von Kindern aussehen... frei von Qual, Schmerz und Leid. Was hätte er damals nur alles dafür gegeben, so einen Ausdruck wenigstens ein einziges Mal bei seinem Neffen sehen zu dürfen.
Der Junge lächelte zu ihm hoch.
„Hi! Du hast also meinen Brüdern geholfen? Vielen, vielen Dank dafür... ich bin echt froh, dass du für sie da warst, yoi? Wie heißt du?", wollte er interessiert wissen und hielt er ihm energisch die Hand hin. Schmunzelnd schlug der Schwarzhaarige ein.
„Gern geschehen... Marco, richtig? Ich bin Fossa, freut mich sehr!"
Weiter hinten an Deck blieb Charlie jedoch fast das Herz stehen.
Schon die ganze Zeit hatte er mit schiefgelegtem Kopf angestrengt gelauscht, weil ihm die brummige Stimme irgendwie bekannt vorgekommen war... er hatte sie nur nicht sofort erkannt, weil sie heiserer, leiser und sehr viel müder klang als früher. Und weil es auch schon viele Jahre her war, seit er sie zuletzt gehört hatte. Aber... es war doch eigentlich völlig unmöglich, dass ausgerechnet ER hier sein sollte!
Hier, bei ihm!
So weit weg von Khadir, wo sie sich gezwungenermaßen hatten trennen müssen, um eine Chance zu haben. Solche Zufälle konnte es einfach nicht geben! Das... das wäre einfach viel zu schön, um wahr zu sein... aber die Stimme war so schmerzlich vertraut, und dann auch noch der Name dazu...
War das... doch möglich? Konnte das wirklich wahr sein oder... täuschte er sich und verlor sich hier grade in kindischem Wunschdenken?? Aber seine Stimme zusammen mit dem Namen ließen eigentlich fast keinen Zweifel zu, völlig egal wie unmöglich so ein Zufall theoretisch auch sein mochte.
‚Bei allen Göttern... bist das du, Onkel?', schoss es ihm durch den Kopf, und eine fast schon schmerzhafte Hoffnung schnürte seinen Brustkorb zusammen. ‚Oh, bitte... bitte sei es!'
„F-Fossa?", quetschte Charlie schließlich atemlos hervor und sprang so schnell auf die Füße, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Mit zum Zerreißen angespannten Nerven umklammerte er seinen Stock und lauschte auf eine Antwort.
Der Angesprochene sah indes erstaunt an Marco vorbei zu den anderen beiden Jungen, bei denen er zuvor noch gesessen hatte. Einer davon war aufgestanden; auch wenn er dunkelblaue Stoffhosen und ein etwas zu großes, violettes Hemd anhatte, stammte er eindeutig ebenfalls aus Khadir. Ah, das war also derjenige, von dem Rakuyou gesprochen hatte! Er schien ungefähr so alt zu sein wie Marco, oder? Also vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre... vielleicht aber auch erst zwölf. Es ließ sich bei ihm nur schwer schätzen, weil er... weil er... weil er...
Jäh stockte Fossa in seiner Musterung, als er ihm ins Gesicht sah, - das aber jedoch zum Teil von einem blauen Tuch verdeckt war.
Nein, kein Tuch, sondern... eine Binde.
Eine Augenbinde.
Der Junge war blind, weshalb er sich wohl auch so fest an den langen Stab in seinen Händen klammerte.
Ein blinder, etwa dreizehn Jahre alter Junge aus Khadir, der seinen Namen kannte.
Mit vollkommener Fassungslosigkeit glitt sein Blick fieberhaft und dennoch fast wie betäubt über die zwar landestypisch gebräunte Haut des Jungen, die aber doch eine sichtbare Spur heller war als die der meisten anderen.
Genau wie bei ihm und seiner kleinen Schwester.
Und... auch diese hübschen, schokoladenbraunen Locken... und das schmale, ebenmäßige Gesicht...
Exakt wie Anuya es gehabt hatte! Sie und... und...
Ihr Sohn.
Aber... das war unmöglich! Wie hätte er... wie hätte dieser sanfte, zerbrechliche kleine Junge die erbarmungslose Tortur auf den Mineninseln überleben sollen? Noch dazu als geächteter, von allen verstoßener, blinder Krüppel, dem das Leben ja absichtlich sogar noch schwerer gemacht wurde als den anderen Kindern dort?! Das war doch einfach nicht möglich!! Nie und nimmer! Nicht einen Moment lang hatte er diese sinnlose Hoffnung auch nur in Erwägung gezogen... weil es schlichtweg nicht sein konnte!
Oder?
ODER?!
In der plötzlichen, drückenden Stille waren es schließlich Rakuyou und Andre, die schneller schalteten als ihr völlig erstarrter Freund. Sie erinnerten sich natürlich noch überdeutlich an Fossas Geschichte... und auch daran, wie vollkommen überzeugt er gewesen war, dass sein Neffe tot war. Angeblich gestorben auf genau der Mineninsel, auf der auch Marco eingesperrt gewesen war.
„Das gibt's doch nicht...", murmelte Andre mit großen Augen und kratzte sich überfordert am Kopf. Auch Rakuyou sah ungläubig zwischen den beiden hin und her, ehe sich ein breites, ehrlich glückliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Sanft griff er nach Fossas Arm.
„Sieht ganz so aus, als hätte deine Schwester doch recht behalten... dein Neffe ist offenbar sehr viel zäher, als du gedacht hast...", flüsterte er ihm zu, doch Marco stand nahe genug, um es zu hören - und nun ging auch ihm ein Licht auf. Scharf sog er die Luft ein und sprang übermütig zurück zu Charlie.
„Ich glaubs ja nicht!! Hey, ist Fossa etwa der Onkel, von dem du mir erzählt hast?! Der, der dir das Leben gerettet und dir eine zweite Chance geschenkt hat?", rief er mit sich überschlagender Stimme und riss damit endlich auch den Genannten aus seiner Erstarrung.
Der Onkel, der dir eine zweite Chance geschenkt hat...
Oh, bei allen Göttern.
Er war es wirklich.
ER WAR ES WIRKLICH!
Da, direkt vor ihm, nur lächerliche zehn Schritte entfernt, stand tatsächlich Anuyas Sohn.
Sein Neffe.
Lebendig und wohlauf.
Anuya... sie hatte doch recht gehabt!
Seine Knie gaben nach.
Kraftlos sackte Fossa zusammen und presste seine Stirn auf den Boden, während er der Erde, dem Himmel und allem dazwischen aus allertiefster Seele dafür dankte, dass der Junge am Leben war. Er bekam nicht einmal richtig mit, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen und auf die Planken tropften; es hätte ihn auch nicht gekümmert. Nichts war in diesem Moment von Bedeutung... nichts außer der Tatsache, dass unglaublicherweise plötzlich doch alles einen Sinn gehabt hatte.
Anuyas Opfer, das Feuer, der Scheintod des Jungen, all das sicherlich erlittene Leid durch das Leben als blinder Betteljunge... und auch seine eigenen trostlosen Jahre in diesen verdammten Minen. Alles hatte einen Sinn gehabt.
Denn jetzt - so unglaublich, so unwirklich sich das auch noch anfühlte - jetzt waren sie beide frei!
Frei ein neues Leben zu beginnen... ein echtes Leben. Weg von all dem kranken Götterwahnsinn! Fossa hatte noch nicht den Hauch einer Ahnung wie es anderswo sein mochte, aber das spielte plötzlich keine große Rolle mehr. Schlimmer als in Khadir konnte es nicht sein, und vor allem... konnte er sich ab jetzt endlich um den Jungen kümmern. Er hatte ihn zurückbekommen und durfte nun bei ihm bleiben!
Die versammelten Piraten an Deck waren verstummt und sahen halb betroffen, halb fragend zwischen dem völlig aufgelösten Mann und dem noch immer überfordert und ratlos dastehenden Jungen hin und her, hielten sich aber taktvoll zurück.
„Was... was ist denn los? Onkel Fossa? Ist er es? Marco, was ist denn passiert?!", fragte Charlie mit zunehmender Verzweiflung in der Stimme, weil er statt der erhofften Antwort nur den dumpfen Rums gehört hatte, mit dem jemand auf die Knie gefallen war - war das Onkel Fossa gewesen? Aber warum redete er nicht mit ihm? Erkannte er ihn etwa nicht? Oder... war er es doch nicht?
Aber bevor Marco, der ebenfalls ziemlich konfus wirkte, antworten konnte, stand Rakuyou auf einmal neben ihm. Er hob den blinden Jungen kurzerhand hinten am Kragen hoch und trug ihn ungeachtet seines erschrockenen Japsens zu seinem Freund.
„Er ist es wirklich, keine Sorge, Kleiner. Dein Onkel hat dich allerdings all die Jahre für tot gehalten... und sich selbst dafür verantwortlich gefühlt, weil er nicht für dich da sein konnte, obwohl er es gern gewesen wäre. Und jetzt stehst du urplötzlich doch vor ihm, lebendig, gesund und vor allem genauso weit weg von all dem Irrsinn wie er selbst... verstehst du, dass ihm das grade wie ein unglaubliches Wunder vorkommen muss? Erst recht nach allem, was er selbst durchgemacht hat in den letzten Jahren... das ist grade einfach nur ein bisschen zu viel für ihn. Ich schätze, er könnte deine Hilfe brauchen, um das alles wirklich zu begreifen", erklärte er ihm leise und setzte ihn sanft direkt vor Fossa ab, dem er behutsam auf die Schulter klopfte. „He, mein Freund! Sag doch mal richtig Hallo zu deinem Neffen!"
Mehr als betroffen von den Worten des Piraten blieb Charlie stehen und legte angestrengt lauschend den Kopf schräg. Hier nahm er seinen Onkel zum ersten Mal wirklich wahr... und konnte selbst seine abgehackte Atmung und das leise, erschreckend schnell aufeinanderfolgende Geräusch von etwas Nassem hören, das auf die Planken tropfte.
Er weine... sein Onkel weinte! Wegen ihm?! Weil er ihn... wirklich all die Jahre für tot gehalten hatte? Und sich schuldig gefühlt hatte deshalb? Aber... aber warum denn bloß? Er hatte ihm doch das Leben gerettet! Das war... ganz falsch!
„Onkel Fossa? Oh nein... bitte nicht weinen, ja? Ich... ich bin doch hier... siehst du? Und mir geht's gut! Onkel Fossa?", murmelte er entsetzt und auch ziemlich überfordert von der Situation, ehe er sich ein Herz fasste und langsam seine zittrigen Fingern nach ihm ausstreckte. Immer weiter nach unten, auf die leisen Geräusche zu, bis er sich schließlich hinknien musste, bevor er endlich auf Haare stieß. Unmittelbar über dem Boden, auf den er offenbar seine Stirn gelegt hatte. Oh Götter, allein die Vorstellung von diesem Anblick brach ihm das Herz!
Schwer schluckte er und strich im ein wenig schüchtern und unbeholfen über den Kopf, so wie Marco es bei ihm getan hatte. Noch niemals im Leben hatte er einen so furchtbar weinenden Mann erlebt... erst recht nicht seinen starken, stolzen, immer etwas grummeligen, aber stets gutmütigen Onkel! Er erinnerte sich zwar daran, dass er auch geweint hatte, kurz bevor seine Mutter gestorben war... aber selbst da hatte er aufrecht gestanden und war stark geblieben, trotz der Tränen, die ihm übers Gesicht gelaufen waren. Warum ging es ihm denn jetzt bloß so schlecht? Und wie... wie tröstete man denn überhaupt einen Erwachsenen?
„Es... es ist alles gut. Wirklich! Ich bin doch hier... und ich bin nicht tot, hörst du? Es geht mir wirklich gut, sehr gut sogar! Onkel Fossa? Bitte sag doch endlich was...", bat er leise. Als er sich aber noch immer nicht rührte, griff er kurzerhand mit beiden Händen nach seinem Gesicht und hob es mit einem fast schon verzweifelten, angestrengten Ruck einfach zu ihm hoch. „He! Willst du mich gar nicht ansehen? Jetzt sag doch endlich was, bitte!"
Die Überraschung über diese unerwartet forsche Geste und seine hilflos klingenden Worte halfen Fossa tatsächlich, sich endlich wieder ein wenig in den Griff zu bekommen, auch wenn er dieses Wunder noch immer kaum fassen konnte. Aber ganz zweifellos war es geschehen... Surya war eindeutig hier bei ihm... hier, auf einem erstaunlich großen Schiff, das sie beide von Khadir fortbrachte. Ja, es war ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.
Sich mühsam auf die Knie aufrappelnd blinzelte er durch den Tränenschleier zu dem Jungen, eher er ihn ungeduldig fortwischte. Er wollte ihn doch endlich richtig sehen! Ihn... seinen lang vermissten Neffen, dessen kleinere Hände wunderbar warm und lebendig an seinen Wangen lagen. Und endlich breitete sich ein erstes Lächeln auf seinen Zügen aus, als er ihn ausgiebig betrachtete.
„Du... bist groß geworden...", stieß er mit sehr, sehr kratziger Stimme hervor und sah zu, wie auch sein Neffe zu lächeln begann. Es war das Schönste und vor allem Ehrlichste, das er je bei ihm gesehen hatte... und es trieb ihm fast erneut die Tränen in die Augen.
Er kann endlich lächeln, Anuya... ich hoffe, du kannst es sehen, kleine Schwester!
Charlie nickte und reckte triumphierend das Kinn ein wenig hoch.
„Nicht nur groß, sondern stark auch! Ich habs nämlich geschafft, Onkel Fossa... ich bin ganz allein zurechtgekommen, wie ich es gesagt hab! Ich schaff alles ganz ohne Augen, ich hab die schwere Arbeit in den Minen geschafft und ich hab nicht aufgegeben... das sollte ich dir doch versprechen! Und ich habs gehalten... also, gibst du jetzt endlich zu, dass ich auch was von dir geerbt hab?", verkündete er so stolz, dass ihm doch erneut die Sicht verschwamm.
Denn damit hatte er ihn früher, als er die meiste Zeit noch bei seiner Mutter verbracht hatte, immer ein wenig aufgezogen. Hauptsächlich deshalb, um den Jungen ab und zu von dem streng geregelten Tagesablauf und den unzähligen Lehrstunden abzulenken... und ihn ein paar Minuten Kindheit spüren zu lassen, indem er ihn heimlich ein wenig ärgerte...
„Doch! Ich hab schon was von dir geerbt, schau doch mal genauer hin!" Empörte, aber dadurch zum Glück nicht mehr ganz so unnatürlich ernste Kinderaugen starrten zu ihm hoch und reckten ihm entschlossen die dünnen Ärmchen entgegen.
Mit einem gespielt zweifelnden Laut beugte sich Fossa zu ihm hinunter und tastete prüfend über den kaum vorhandenen Bizeps seines fünfjährigen Neffen, ehe er skeptisch den Kopf neigte.
„Na ich weiß ja nicht... schau dir das doch mal an, da ist doch noch gar nichts dran an dir! Ich fürchte, da musst du leider noch ein ganzes Stück stärker werden, kleine Hoheit! Vielleicht sieht man ja dann, ob in diesem kleinen Zwergenkörper auch irgendwas von mir drin steckt...", neckte er den Jungen und spannte demonstrativ seinen eigenen muskulösen Arm an, der fast so dick war wie der ganze Brustkorb des Kindes. „Siehst du das? So muss das aussehen! Aber das ist ne Menge harte Arbeit und du wirst dich mächtig anstrengen müssen. Aber wenn du wirklich beweisen willst, dass du nach mir kommst, dann reichen Muskeln allein ja gar nicht dafür - viel wichtiger ist: du musst auch stark im Herzen sein und darfst niemals aufgeben! Glaubst du, du schaffst das?", wollte er mit einem herausfordernden Grinsen wissen und musterte seinen Neffen genau. Zuerst entwich dem Kleinen zwar ein enttäuschter Laut, doch dann reckte er kampflustig das Kinn hoch.
„Ja, das schaff ich! Ich strenge mich richtig an und gebe nicht auf. Und dann bin ich irgendwann genauso stark wie du! Nein, warte... ich werde dann sogar noch viel stärker als du! Und dann musst du zugeben, dass ich auch nach dir komme, einverstanden? Versprich mir das!", verlangte er ungewohnt stur und brachte seinen Onkel damit zum Lächeln. Die meiste Zeit war der Junge seiner gutherzigen, sanften, zerbrechlichen Schwester viel zu ähnlich... und das machte ihm Angst, wenn er daran dachte, dass er bald in die Obhut seines Vaters kommen würde. Aber manchmal kamen eben doch Momente wie dieser hier, in denen auf einmal so viel Ehrgeiz, Willenskraft und Energie zum Vorschein kamen, die man dem zurückhaltenden, verträumten Kerlchen gar nicht zutrauen würde. Diese Momente gaben ihm dann wieder etwas Hoffnung... Hoffnung, dass irgendwie doch alles gut werden würde. Dass er es schaffen würde...
Stolz klopfte er ihm auf den Rücken.
„So gefällt mir das! Wenn du mir beweist, dass du in den Armen und im Herzen stark bist, dann kommst du eindeutig nach mir... und ich freu mich schon drauf, wenn ich das sagen kann. Das verspreche ich dir!"
...und die Hoffnung hatte sich als richtig erwiesen: sein Neffe hatte allen Widrigkeiten getrotzt und damit weit mehr Stärke bewiesen, als er in ihm vermutet hatte.
Mit einem rauen, unendlich erleichterten Lachen packte er den überraschten Jungen und presste ihn mit beiden Armen fest an seine Brust. Er war wirklich groß geworden... ein bisschen zu dünn, was jedoch wenig überraschend war, aber eindeutig gesund und sogar erstaunlich kräftig...
Und so viel fröhlicher als jemals zuvor.
„Ja... ganz offensichtlich hast du es geschafft...", murmelte er brüchig und strich ihm durch die Locken, ehe er sein Versprechen einlöste. „Du kommst eindeutig auch nach mir, das hast du mehr als bewiesen. Ich... ich bin so unglaublich stolz auf dich, Surya..."
Doch der Junge schüttelte energisch den Kopf.
„Charlie! Ich heiße Charlie...", korrigierte er ihn mit nachdrücklicher Bestimmtheit, doch dabei grinste er von einem Ohr zum anderen und wuchs von dem lang ersehnten Lob sicherlich mehrere Meter hoch in den Himmel. Es war nicht zu übersehen, dass der Junge fast platzte vor Stolz.
Fossa zog erst irritiert die Brauen zusammen, doch dann erinnerte er sich wieder. Oh, richtig... er hatte ganz vergessen, dass er sich ja einen neuen Namen hatte zulegen müssen nach seinem vermeintlichen Tod. Der Name Surya war als Göttername einzig den Auserwählten erlaubt. Bah.
Nein, es war nicht schade um den alten Namen. Charlie hieß er nun also... ein neuer Name für ein ganz neues Kind; das gefiel ihm.
„Guter Name... er passt zu dir. Erzählst du mir, wie du auf den gekommen bist? Und auch wie du's hier her geschafft hast?"
„Klar! Dazu musst du mich aber langsam wieder loslassen, ich krieg hier nämlich nicht so viel Luft..." Verdeutlichend stupste er gegen seine Brust, gegen die er noch immer ziemlich fest gedrückt wurde. Glucksend ließ Fossa von ihm ab und entlockte ihm damit ein erleichtertes ausatmen, als der Druck endlich nachließ. Die Erleichterung hielt jedoch nicht lange.
„Ooooh, das war ja so süß! Lasst mich euch auch mal fest drücken..."
Schnell wie eine Viper schoss auf einmal Whitey nach vorn und warf mit einem schalkhaften Grinsen die Arme fest um ihre beiden Opfer.
Die Reaktionen hätten unterschiedlicher kaum sein können.
Während sich in Charlie vor lauter jäh einsetzender Panik sofort wieder alles verkrampfte und er zur Salzsäule erstarrte, hechtete Fossa mit einem entsetzten Schreckenslaut zur Seite weg. Noch immer auf den Planken hockend, starrte er sie heftig schnaufend derart überfordert an, dass die Piraten allesamt hilflos in schallendes Gelächter ausbrachen. Dieser Anblick war aber auch schlichtweg unbezahlbar!
Einzig Marco sprang geistesgegenwärtig nach vorn und zog seinen Freund aus den Armen seiner tückischen, ebenfalls laut lachenden Schwester hervor, ehe er ihm hastig zwischen die Schulterblätter schlug. Japsend schnappte Charlie nach Luft und taumelte zugleich eilig ein paar Schritte zur Seite, um etwas Sicherheitsabstand zu dieser unberechenbaren Frau zu bekommen.
„Man, du alte Ziege... würdest du ihn vielleicht endlich nur so viel ärgern, dass er weiteratmet?", fauchte Marco sie an und drückte dem Lockenkopf seinen vorhin fallengelassenen Blindenstab wieder in die Hand.
„Ach, hab dich doch nicht so, kleiner Bruder! Ich pass schon auf, dass er nicht umkippt", winkte sie ab und streckte ihm bodenlos erheitert die Zunge raus. Ihr kurzer Wortwechsel ließ jedoch Fossa aufhorchen, der sich mit hochrotem Kopf und höchst verlegen wieder aufrichtete. Sein Blick war allerdings besorgt auf seinen noch immer atemlosen Neffen gerichtet.
„Was soll das heißen? Warum um alles in der Welt hörst du auf zu atmen?", fragte er ihn alarmiert, was der Junge jedoch nur mit einem ratlosen Achselzucken beantworten konnte. Vista gluckste.
„Vermutlich aus demselben Grund wie du? Ihr reagiert ja beide ziemlich heftig auf Whitey..." Gutmütig stieß er den Neuankömmling an, was ihm erneut die Röte ins Gesicht trieb.
„Was? Naja, das... ich... also... es ist eben... dass sich eine Frau so benimmt, das... das kennen wir nicht", stammelte er tapfer, was Andre und Rakuyou jedoch ein regelrecht glückliches Lächeln ins Gesicht zauberte. Na, endlich... endlich sah Fossa einmal aus wie ein ganz normaler, junger Mann, auch wenn ihm die ganze Situation sichtlich peinlich war.
„Hey! Kriegen wir jetzt vielleicht mal kurz ein Update, damit auch der gemeine Pöbel kapiert, was hier grade vor sich gegangen ist?", maulte Dew und sah genau wie die meisten anderen etwas verwirrt zwischen Fossa und Charlie hin und her. Marco, der nun wieder ungemein fröhlich wirkte und seinen Freund am Arm gepackt hielt, lachte.
„Fossa ist Charlies Onkel! Sie haben sich ausgerechnet hier wiedergefunden, nachdem sie vor Jahren voneinander getrennt worden sind!", posaunte er endlich für alle gut hörbar heraus und sorgte damit für viele verstehende Blicke und erstaunte, begeisterte Ausrufe. Das war in der Tat ein wirklich wundervoller Zufall... und zum ersten Mal bekam nun Fossa einen Eindruck vom gänzlich ungewohnten Zusammenhalt unter Piraten, als er und Charlie plötzlich von allen Seiten herzlich beglückwünscht wurden und auf die Schultern geklopft bekamen. Von so vielen, ihm Großteiles noch vollkommen unbekannten Menschen... und sie freuten sich alle wirklich für sie! Das war nicht gespielt oder aus Höflichkeit - es war aufrichtige Freude auf ihren Gesichtern. Völlig verdattert blieb er auf dem Boden hocken und bekam nicht einmal wirklich mit, als ihm ein gefüllter Becher in die Hand gedrückt wurde, so überfordert war er von all dem.
Charlie, der das fassungslose Schweigen seines Onkels bemerkte, trat wieder neben ihn, fasste beruhigend nach seiner Hand und beugte sich näher an sein Ohr.
„Es ist so anders hier, stimmts? So hab ich mich an meinem ersten Tag hier auch gefühlt... aber wir gewöhnen uns noch dran, ganz bestimmt!", flüsterte er ihm zuversichtlich zu und drückte seine Finger, was mit einem verlegenen, aber auch belustigten Schnauben quittiert wurde. Dankbar zupfte der Hüne am Arm seines Neffen.
„Gut zu wissen... und wollen wir es hoffen. Du lieber Himmel... sieht so aus, als hätten wir eine ganze Menge Nachholbedarf, was?", seufzte er ernüchtert und wollte sich am Kopf kratzen, als ihm endlich der Becher auffiel. Verdutzt blinzelte er und roch daran. „Was ist das?"
„Bester Sake, mein Freund! Und neben Rum ein Grundnahrungsmittel für Piraten!", beantwortete Rakuyou seine Frage bestens gelaunt und erntete tosende Zustimmung von seinen Geschwistern.
„Wir haben Saft...", raunte Marco mit leiser Enttäuschung Charlie zu und reichte auch ihm ebenfalls einen kleinen, gefüllten Krug, den er dankend entgegennahm. Als er jedoch davon trinken wollte, hielt er ihn auf. „Warte noch, yoi? Wir trinken alle gemeinsam, das ist ne Art Schiffstradition. Vater wird vorher was sagen, und dann wird in drei Etappen getrunken: erst auf das bestandene Abenteuer, dann wird die Insel verabschiedet und dann kommt der Ruf nach neuen Abenteuern! So wird es immer gemacht, wenn wir eine Insel verlassen und zur nächsten aufbrechen."
Erstaunt ließ Charlie den Saft wieder sinken und wartete zusammen mit seinem Onkel gehorsam, aber unbestreitbar neugierig ab.
Als Letzter füllte Whitebeard seine riesige Sakeschale an dem genau für solche Momente immer an Deck bereitstehenden Fass samt der daneben auf den Planken angenagelten Truhe voller Krüge, Schalen und Becher. Man konnte schließlich nie wissen, wann es einen Grund zu feiern gab!
Genauso gut gelaunt wie alle anderen an Bord, hob der Kapitän seine Schale in den dunkler werdenden, zunehmend mit Sternen übersäten Nachthimmel, woraufhin die anderen erwartungsvoll verstummten und es ihm - in Charlies Fall mit Marcos Hilfe - feierlich gleichtaten.
„Meine Kinder und Freunde... ich denke, das ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um gemeinsam auf unser überstandenes Abenteuer anzustoßen! Endlich sind wir wieder alle gesund hier an Bord versammelt und wir haben den elenden Bälgern, die uns ans Bein pinkeln wollten, einen saftigen Arschtritt verpasst! Und auch, wenn wir unser eigentliches Ziel nicht erreicht haben, war dieses Abenteuer doch nicht umsonst: wir haben nicht nur wieder nen Haufen neuer Erfahrungen gewonnen, sondern auch noch eine Teufelsfrucht für meinen Sohn gefunden und auch zwei neue Freunde, die uns eine Weile begleiten werden... Freunde, die sich als Onkel und Neffe herausgestellt haben und sich ausgerechnet hier an Bord nach Jahren der Trennung wiedergefunden haben. Und DAS sind genau die Geschichten, für die sich das Leben trotz aller Widrigkeiten, allem Leid und sämtlichem Schmerz immer wieder aufs Neue lohnt - merkt euch das! Manche nennen solche Dinge Zufall, andere Schicksal und wieder andere ein Wunder... ich nenne es aber einfach LEBEN!" Breit grinsend und mit glänzenden Augen streckte er seinen Arm noch höher in die Luft. „AUF UNS - UND AUF DAS LEBEN!"
„AUF UNS - UND AUF DAS LEBEN!", schallte es lautstark im Chor zurück und bescherte Charlie und Fossa gleichermaßen eine ergriffene Gänsehaut am ganzen Körper, als sie sich nach einem Schluck aus ihren Gefäßen gleichzeitig an die Hand nahmen und sich mit klammen Fingern festhielten. Wie von Marco vorhergesagt, hob Whitebeard seine Schale als nächstes in einer regelrecht spöttischen Geste Richtung Heck und damit hin zu der Insel, die sie nun endlich hinter sich ließen.
„AUF NIMMERWIEDERSEHEN AN DAS ELENDE DRECKSLOCH, DAS SICH KHADIR NENNT - ich würd ja sagen ‚Fahr zur Hölle', aber wenn die da noch tiefer da reinfahren, landen sie direkt im Arschloch des Teufels... GUARHARHAR!", lachte er unbestreitbar dreckig, in das auch der Rest nur allzu gern mit höhnischem Gelächter einfiel. Gleich darauf verwandelte sich das Lachen der Piraten jedoch in lautstarke, wüste Beschimpfungen, die sie energisch und mit sichtlicher Genugtuung in die Nacht hinaus brüllten - allen voran Rakuyou und Andre. Die einzigen beiden, die vollkommen überrumpelt schwiegen, waren Charlie und Fossa, weshalb Marco sie energisch mit dem Ellbogen anstieß.
„Na los, ihr auch! Das hier ist euer Abschied... sagt eurer ehemaligen Heimat nur ein einziges Mal so richtig die Meinung, egal ob leise oder laut... aber sprecht es aus, yoi?", drängte er sie und gab vor allem seinem Freund auffordernd mit der Schulter an. Er hatte die vage Ahnung, dass es ein wichtiger Schritt für die beiden sein könnte... aber besonders für ihn.
Unschlüssig biss sich Charlie auf die Lippe und wusste nicht so recht, was er darauf nun antworten sollte. Einer Insel... die Meinung sagen? Wozu? Die konnte das doch gar nicht hören, oder? Und was sollte er „ihr" überhaupt sagen?
„Leb wohl, du Ausgeburt der Hölle... Ich hab dich mein ganzes verdammtes Leben lang gehasst!", knurrte auf einmal Fossa neben ihm. Es ging fast völlig unter in dem ausgelassenen Geschreie und Gefluche um sie herum, aber es klang so inbrünstig, dass es Charlie erneut erschaudern ließ. Der brennende Blick seines Onkels bohrte sich lodernd in die Dunkelheit hinter ihnen. „Ich hasse alles, wofür du stehst. Und am meisten hasse ich die verdammten Dämonen, denen du und die ganze verblendete Bevölkerung dienen! Denn genau das hab ich endlich erkannt: ihr dient hier keinen Göttern, ihr betet Dämonen an. Kein Gott würde so etwas wollen... so viel sinnloses Leid... so viel grundlose Qual..." Zornig spuckte er ins Meer. „Ich bin froh, dass ich dir entkommen bin, zusammen mit dem letzten geliebten Menschen, den du mir nicht hast entreißen können. Von diesem Tag an werde ich nie mehr zu dir zurückblicken... nie, nie wieder. Auf Nimmerwiedersehen!" Ein grimmiges, düsteres Lächeln trat nach seinen Worten auf seine Züge, ehe er sanft die Hand seines noch immer schweigenden Neffen drückte. „Sag auch leb wohl, Kleiner... es tut wirklich gut, glaub mir!"
Doch Charlie presste so angespannt die Kiefer aufeinander, dass es leise knirschte.
Leb wohl sagen... das hörte sich so leicht an! Und bei seinem Onkel hatte es auch leicht geklungen, aber für ihn war es das nicht! Er wusste nicht warum, aber ihm wollte kein einziges, lausiges Wort einfallen, das er noch an diesen Ort hätte richten wollen. Sein ganzes Leben dort war eine einzige, grauenhafte Aneinanderreihung von Zwang, Druck, Angst, Schmerz, Leid, Qual, Unterdrückung und vor allem Einsamkeit gewesen, was Khadir zu etwas ungemein Bedrohlichem, Gefährlichen machte, das dort in der ferne lauerte wie ein Monster. Er wollte diesem Monster nichts sagen... er wollte sich einfach nur abwenden und so weit wie möglich davor fliehen...
„Du hast verloren, Khadir!"
Erschrocken zuckte er zusammen, als plötzlich Marcos Stimme in sein Ohr flüsterte. Er stand ganz dicht hinter ihm und legte sein Kinn auf seiner Schulter ab, sodass sein warmer Atem ruhig über seine Wange strich.
„Na los... sag es! Sprich mir einfach nach: Du hast verloren, Khadir...", raunte er ihm auffordernd zu... und ließ Charlies Herz doppelt so schnell schlagen, als er verstand, was er da tat. Er war schon wieder für ihn da... er half ihm auch jetzt, ohne dass er ihn um Hilfe gebeten hatte und ohne überhaupt gewusst zu haben, dass er Hilfe brauchte. Aber sein Freund hatte es gewusst... er hatte gemerkt, dass er es nicht allein schaffen würde. Oh, Marco...
„Du... hast verloren Khadir!", wiederholte Charlie leise und ein wenig stockend, doch die innere Anspannung begann augenblicklich nachzulassen. Zufrieden sprach der Lehrling weiter:
„Ich hab mich von dir nicht unterkriegen lassen... ich war stärker als du!"
Charlies Augen begannen zu brennen, doch er schluckte tapfer und vertraute blind auf Marcos Worte, die er - wie auch immer er das machte - direkt aus seiner Seele zu holen schien.
„Ich hab mich... von dir nicht unterkriegen lassen... ich... ich war stärker als du!"
„Du warst lang genug mein Gefängnis, aber jetzt bin ich endlich frei von dir..."
„Du... du warst lang genug mein Gefängnis, aber jetzt... jetzt bin ich endlich frei von dir..."
„Jetzt kann ich endlich mein eigenes Leben leben - und so richtig glücklich sein!"
„Jetzt kann ich endlich mein eigenes Leben leben - und so richtig glücklich sein!"
„Also leb wohl und auf Nimmerwiedersehen, du dampfender Haufen Scheiße; ich hoffe wirklich, du krepierst eines Tages an deinem eigenen, widerlichen Gestank!"
Unvermittelt prustete Charlie los und bekam gleichzeitig rote Ohren vor Verlegenheit, doch Marco ließ sein Kinn unnachgiebig an seiner Schulter liegen und pustete ihm mahnend ins Ohr.
„Nicht aufhören, jetzt sag es schon! Ich hab dir schon mal gesagt, dass du noch ordentlich fluchen lernen musst, yoi? Und das hier ist die perfekte Bühne für deinen ersten richtigen Fluch!"
„Ja, aber... ich..."
„Nix aber... raus damit! Muss ichs wiederholen?"
„Nein... okay...", gab sich Charlie seufzend geschlagen. In diesem Punkt würde sein Freund nicht nachgeben, was wusste er. Also beschloss er, ihm einfach weiter zu folgen und beendete seinen Abschied mit heißem Gesicht. „Also leb wohl und auf Nimmerwiedersehen, du... du... du dampfender Haufen Sch-Scheiße; ich hoffe wirklich, du krepierst eines Tages an... an deinem eigenen, widerlichen Gestank!"
So wie diese Worte seinen Mund verlassen hatten, spürte er nicht nur überraschend viel Erleichterung und eine geradezu boshafte Genugtuung in sich, sondern auch Marcos breites Lächeln.
„Na also, geht doch, yoi? Jetzt hast du dich angemessen von diesem Inbegriff der Hölle verabschiedet... und, wie hat sichs angefühlt?", wollte er neugierig wissen und trat ein kleines bisschen von ihm zurück - wo er Fossas aufmerksamem Blick begegnete, der erstaunt, aber unheimlich dankbar auf ihm lag. Diesmal war er es, der verlegen den Kopf abwandte, während parallel dazu auch die letzten, derben Flüche von Rakuyou in der hereinbrechenden Nacht verhallten. Charlie lächelte.
„Komisch irgendwie... aber ich glaub, mir hat es... gefallen? Ja, das hat sich wirklich gut angefühlt!", antwortete Charlie leise, ehe er nach Marcos Fingern tastete und sie unendlich dankbar drückte. Das einzig Gute, das ihm Khadir geschenkt hatte... und wahrlich auch das Allerbeste, das er hätte bekommen können. „Danke... vielen Dank, Marco..."
Die verlegene Erwiderung blieb Marco zu seinem Glück erspart, denn in diesem Moment erhob sich erneut der tiefe Bariton von Whitebeard, der seine Schale zum letzten Mal hob... diesmal Richtung Bug. Sofort waren auch alle anderen Gefäße wieder mit derselben Geste in der Luft.
„Also dann, meine Kinder und Freunde... im Morgengrauen brechen wir auf und erobern gemeinsam den nächsten Horizont! Mal sehen, was uns erwartet - aber scheißegal was da kommt, wir sind für alles bereit, oder? AUF INS NÄCHSTE ABENTEUER!", donnerte er herausfordernd zu den Sternen hinaus. Ein Ruf, dem sie alle Folge leisteten... diesmal auch Charlie und Fossa. Auch wenn sie nicht zu den Piraten gehörten, war dies doch auch für sie der Beginn eines neuen Abenteuers... oder vielmehr der Beginn eines ganz neuen Lebens. Zum ersten Mal fühlten sie diese prickelnde, berauschende Gefühlsmischung aus Vorfreude, Begeisterung, Neugierde und Hoffnung... und Freiheit.
So fühlte sich Leben an!!
Ein Leben, das sie von nun an gemeinsam leben würden.
„AUF INS NÄCHSTE ABENTEUER!"
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...und damit einen wunderschönen guten Abend meine Lieben!
Ich hoffe, euch geht's allen gut?
Diesmal melde ich mich im Nachwort - denn hier endet bereits der erste Arc der Geschichte. Ich hoffe sehr, dass es euch trotz des recht düsteren Settings gefallen hat! Das nächste Kapitel wird nochmal ruhiger, aber dann geht's konstant aufwärts mitten rein ins Piratenleben!! :D
Weil zuletzt mehrere Nachfragen darüber kamen, wo wir in der aktuellen Geschichte genau sind und wo die Reise hingeht, möchte ich euch an dieser Stelle mal eine kleine Übersicht über den geplanten Verlauf von Charlies Story geben.
Das Wichtigste zuerst: ich folge auch in dieser Geschichte der originalen Handlung von One Piece. Sprich die mir bekannten Details dieser Ära werden auch nach Vorlage eingehalten, ich baue nur meine eigenen Charaktere ein bzw. gebe denen von Oda Namen und/oder Backgrounds. ;) Wir befinden uns aktuell vier Jahre vor dem berühmten Kampf zwischen Whitebeard und Roger - und dieses Ereignis wird auch das große Finale des ersten Teils werden. Soll heißen, der erste Teil dreht sich jetzt um eben diese vier vergehenden Jahre, in denen die Whitebeardbande so langsam erwachsen wird, kontinuierlich wächst, ihren Ruf festigt und ein Abenteuer nach dem nächsten bestreitet. Und davon hab ich eine ganze Menge parat... gepaart mit viel Piratenalltag, Chaos, Humor und einem sicherlich häufig überforderten Piraten-Papa. :D
Der nächste Arc schließt sich diesem hier noch nahtlos an und wird weitergehen bis Wano Kuni, wo sie auf Oden, Toki und natürlich Izou treffen. Danach beginnt dann der dritte und vermutlich größte Arc, der einzelne, zum Teil mehrere Kapitel umfassende Abenteuer mit unterschiedlich großen Zeitsprüngen dazwischen umfassen wird, bis sie am Ende, wenn Marco Achtzehn Jahre alt ist, schließlich auf die Rogerpiraten treffen.
Soweit zumindest mein aktueller Plan... Änderungen natürlich vorbehalten. :P
Was ich aber jetzt schon weiß: früher oder später werden die Kapitel unregelmäßiger kommen; ich hab leider einfach nicht mehr so viel Zeit zu schreiben wie früher. Aber ich werde euch auf meinem Profil auf dem Laufenden halten, wenn es soweit ist und abgebrochen wird hier auch nix, versprochen! ^.^
So, dann wünsche ich euch ein fantastisches Wochenende, bleibt gesund und bis zum nächsten Mal! <3
GlG
Ancarda
DU LIEST GERADE
Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und Hölle
FanfictionIm Jahre 1494 lernt der vierzehnjährige Piratenlehrling Marco den dreizehnjährigen Charlie kennen. Zwischen den beiden Jungen entsteht schnell ein tiefes, schicksalhaftes Band, das sie nicht nur durch viele, turbulente Abenteuer hindurch begleitet...