Augenblicke

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Einen wunderschönen guten Abend meine Lieben!

Ich hoffe, euch geht's allen gut und alle Leser*innen aus den Hochwassergebieten haben alles heil überstanden? :/

Vielen tausend Dank auch diesmal wieder für eure vielen tollen Feedbacks und die neuen Empfehlungssternchen für die letzten beiden Kapitel - ich freu mich wirklich total, dass Charlie doch so gut bei euch ankommt! Nach dem unerwartet großen Erfolg von Junie hab ich mir ja doch ziemliche Gedanken gemacht, ob der Kleine da überhaupt eine Chance gegen die „große Schwester" hat, aber diese Zweifel zerstreut ihr wirklich zuverlässig mit all eurem superlieben Support... hach, ihr seid einfach spitze; sowas motiviert mich echt immer wieder ungemein und macht mich wirklich, wirklich happy!! *-*

Und ich hab noch was Tolles für euch: meine fantastische Zeichenfee Corviknight hat wieder mal gezaubert und ein absolut süßes Bild zum Epilog von „Die Farben des Phönix" gemalt: Junie und Marco mit ihrer Familie. Schaut unbedingt auf meinem Profil vorbei - ich bin total verliebt!! Vielen Dank auch an dieser Stelle nochmal an die großartige Künstlerin!! <33

So, und damit entlasse ich euch auch schon wieder. Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Lesen und danach schöne, entspannte vier Wochen. Bis zum nächsten Upload! :-*

GlG
Ancarda



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„Sieh hin!", hallte der emotionslose Befehl durch seinen Geist. Charlie wehrte sich, spürte Wiederwillen und Angst in sich hochkriechen, doch er konnte seine Augen nicht schließen. Er war gezwungen, hinzusehen.

Da war ein dünner, ärmlich gekleideter Mann. Er schlotterte am ganzen Leib, sagte kein Wort, doch seine panisch geweiteten Augen flehten um Gnade.
Sie wurde nicht gewährt.

„Sieh hin!"

Da war eine Frau, ihre Augen waren vor nackter Angst weit aufgerissen und ihr Mund bewegte sich hektisch, versuchte ihr Handeln zu erklären, bat um Verständnis.
Niemand hörte ihr zu.

„Sieh hin!"

Da war ein Junge, vielleicht vierzehn Jahre alt. Er war allein, hatte niemanden mehr und weinte ununterbrochen.
Es half ihm nichts.

„SIEH HIN!"

Große Kinderaugen blickten zu ihm hoch. Staunen und Hoffnung lag im Blick des kleinen Mädchens, das Haupt mit Blumen und Gold geschmückt.
Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht.

„Bitte... ich will das nicht sehen...", stöhnte Charlie gequält, doch er konnte seine Augen nicht schließen. Es ging einfach nicht! Immer mehr Menschen zogen an ihm vorüber; ein schier unendlicher Strom aus leidenden, schmerzerfüllten, hoffnungslosen, flehenden, hilfesuchenden, gebrochenen Blicken traf ihn, jeder Einzelne davon mitten ins Herz.
„Hört auf! Bitte... ich bin nicht schuld! Ich kann doch nichts tun... es tut mir leid!", wimmerte er und schluchzte, doch selbst seine Tränen versperrten seine Sicht nicht, obwohl sie ihm in Strömen über das Gesicht flossen. Es wollte einfach nicht enden... so viele Menschen... so viel Leid... und jeder sah nur ihn an...

„Shhht.. alles wird gut, mein Liebling..." Warme, sanfte, rehbraune Augen tauchten plötzlich vor ihm auf und verscheuchten die anderen Menschen aus seinem Blickfeld.
„Maman...", flüsterte Charlie erleichtert. Liebevolle Hände berührten sein Gesicht und sie lächelte traurig.
„Nicht mehr weinen, Liebling... du hast genug gesehen. Es ist vorbei. Lass uns die Augen gemeinsam schließen, ja? Ich verspreche es dir... du musst nie wieder etwas Böses sehen..."
„Aber Maman... ich will nicht, dass du deine Augen zumachst! Der Heiler hat gesagt..."
„Vergiss den Heiler, mein Schatz. Das Herz sieht mehr als die Augen, merk dir das! Unendlich viel mehr..."

Um ihn herum wurde es plötzlich heiß. Immer heißer. Das Atmen fiel ihm schwer, er schmeckte Rauch. Jemand zerrte an ihm, doch er umklammerte den Arm seiner Mutter. Er durfte nicht weg!! Wenn er jetzt ging... würde er sie nie wieder sehen!
„Nein! Maman... Maman ich will nicht!"
„Es ist in Ordnung, Liebling! Geh. Geh und mach die Augen zu, damit du leben kannst!"
„Aber... aber... ich will doch nicht..." Er wollte nicht weg, wehrte sich mit Händen und Füßen, obwohl er kaum noch Luft bekam und die Hitze ihn zu verschlingen drohte. Er wollte ihr noch so viel sagen! Er musste!
„Leb wohl, mein Schatz. Werde glücklich..."
„Nein!! Bitte..."
„Charlie... alles gut..."
„Nein... nein..."

„CHARLIE! Charlie, wach auf!"

Jäh fuhr Charlie hoch.
Ihm war unerträglich heiß; sein Hals war wie zugeschnürt und er rang nach Luft, während seine Hände orientierungslos über den Stein glitten.
„Hey, alles gut... beruhig dich", drang Marcos erschrockene, hörbar besorgte Stimme durch seine Panik und kühle Hände griffen nach seinem schweißnassen Gesicht. „Ruhig atmen... ganz ruhig... alles ist gut, yoi? Es war nur ein Traum..."
Hektisch, aber zunächst erfolglos, versuchte der Jüngere, seinen Worten Folge zu leisten und die Überreste des Albtraums abzuschütteln, woraufhin ihn sein Freund kurzerhand an sich zog und festhielt. Es dauerte aber trotzdem noch eine ganze Weile, ehe er sich langsam wieder beruhigte und das Zittern seiner Muskeln nachließ.
„Tut mir leid... danke...", murmelte er heiser, doch - zu seiner Erleichterung - ließ Marco ihn nicht los, sondern hielt ihn weiter fest.

„Schon gut", erwiderte Marco leise und atmete schwer aus. Er zögerte kurz, schien sich aber dann einen Ruck zu geben. „Erzählst du mir, was du geträumt hast? Es... es klang wirklich furchtbar. Du hast im Schlaf irgendwas davon gesagt... dass du etwas nicht sehen willst. Also hatte es was damit zu tun wie du... blind geworden bist?"
Charlie biss sich unsicher auf die Lippen. Er hörte aus seiner Stimme heraus, dass er das aus ehrlicher Sorge fragte und zugleich fürchtete, ihm zu nahe zu treten - wenn er jetzt nein sagte, würde er ihm das nicht übelnehmen. Aber... er hatte ihm doch auch seine Geschichte erzählt. Was wäre er für ein Freund, wenn er ihm nicht dasselbe Vertrauen entgegenbrachte?
„Ich... hab noch nie drüber geredet... und... ich hab Angst davor, dass... du mich dann doch für einen Feigling hälts", murmelte er unbehaglich, woraufhin er fühlte, wie Marcos betroffener Blick auf ihn fiel.
„Ich halte dich nicht für einen Feigling, Charlie! Egal was in der Vergangenheit war... es ist vergangen. Das sagt Vater immer. Es zählt nur, wer du heute bist - und du bist ganz eindeutig nicht feige, yoi?", gab der junge Pirat entscheiden zurück, und sein Respekt gegenüber dessen Vater stieg noch weiter. Es klang, als wäre das ein wirklich weiser, freundlicher Mann.

Trotzdem rang Charlie mit sich. Es... fiel ihm so unglaublich schwer, an früher zu denken. Aber etwas in ihm WOLLTE es. Marco war der erste Mensch, mit dem er sich so richtig verbunden fühlte. Er fühlte sich so unheimlich wohl in seiner Nähe. Vertraut. Auf seltsame Weise sogar beschützt, obwohl er nur ein Jahr älter war als er. Deshalb... schien es ihm irgendwie fair, wenn Marco über ihn Bescheid wüsste, oder?
Unwillkürlich verkroch er sich noch ein Stückchen näher zu ihm, woraufhin der junge Pirat ihn besorgt fester hielt. Eine Geste, die Charlie Mut fassen ließ. Tief holte er Luft, ehe er stockend zu erzählen begann.
„Ich hab wirklich von früher geträumt. Zuletzt von... meiner Mutter. Sie war so ein wundervoller Mensch... so lieb... so sanft und freundlich... und wunderschön. Meine Haare hab ich von ihr, haben alle immer gesagt. Und... sie war grade mal dreizehn Jahre alt, als sie die achte Frau des Sultans wurde...", flüsterte er brüchig.

Marco erstarrte, dann holte er scharf Luft und er fühlte seinen Blick schwer auf sich liegen.
„Mit Dreizehn? So alt wie du jetzt?! Scheiße, wie kann man da... Moment. Hast du grade... Sultan? Warte mal, heißt das... du bist..."
„...das dreizehnte Kind und siebter Sohn des Sultans von Khadir. Ja, genau das heißt es", bestätigte Charlie und sein Gesicht verzog sich vor Verachtung. „Meine Mutter hat mich kaum ein Jahr nach ihrer Hochzeit geboren..."
Geräuschvoll ließ der Lehrling die Luft entweichen.
„Uff... das... hab ich jetzt nicht erwartet. Also... bist du doch sowas wie... wie ein Prinz, yoi? Wie... kommt es dann, dass du hier bist?", fragte er leise, doch dann stockte er, als ihm offenbar etwas einfiel „Du hast mal gesagt, dass es Schlimmeres gibt, als ein armer, geächteter Krüppel zu sein... war das Leben in einem Palast mit so vielen Geschwistern wirklich so schlimm? Du warst doch nicht mal der älteste Sohn, der den Mist hier mal erbt!"

Bitter schnaubte Charlie, zog unwillkürlich die Beine an und machte sich klein, während er sich weiterhin dicht an seinen Freund lehnte.
„Du vergisst das Essenziellste hier: den Glauben!" Angewidert verzog er das Gesicht. „In... in der Blutlinie des Königshauses gibt es eine... seltene Anomalie, die etwa alle zwei- oder dreihundert Jahre mal in Erscheinung tritt. Und diese... Anomalie wird als Zeichen der Götter gesehen. Sie gilt als Segen, als ultimatives Zeichen göttlicher Wohlgesonnenheit. Bei wem sie in Erscheinung tritt... wird automatisch der nächste Sultan, egal wie viele ältere Brüder er hat", flüsterte er gequält und vergrub seinen Kopf in seinen Knien, während Marco geräuschvoll ausatmete.
„Und du hast diese Anomalie..."
„Ja...", wisperte er. „...und ich verfluche sie! Ich hasse sie!! Ich wollte nie was Besonderes sein. Ich wollte nicht von irgendwelchen grausamen, ignoranten Göttern gesegnet werden und erst recht wollte ich kein Sultan sein!!" Seine Stimme war getränkt vor Abscheu, sein ganzer Körper angespannt... darum schrak er zusammen, als plötzlich eine Hand etwas unbeholfen, aber ganz sanft durch seine Haare strich.

„Deshalb wolltest du die Teufelsfrucht nicht, yoi?", fragte Marco mit belegter Stimme. „Du hast gesagt, sie macht dir Angst... weil es für dich schon wieder nach was Schicksalhaftem, Göttlichen geklungen hat, stimmts?"
Niedergeschlagen nickte Charlie und ließ sich von seiner unerwartet liebevollen Geste beruhigen.
„Ja... ganz genau..."
„Was ist das für eine Anomalie? Ein Muttermal oder sowas?", tastete sein Freund sich behutsam weiter und spürte zweifellos, wie der Kleinere sich verkrampfte, denn er beschwichtigte ihn sofort. „Du musst es nicht sagen, wenn du..."
„Es sind die Augen!", stieß Charlie hervor und ließ die streichelnde Hand damit abrupt innehalten. „Diese verdammten... beschissenen... blöden Augen!! Nur weil... weil sie anders aussehen als die der anderen ist das alles passiert... nur deshalb!! Warum hab ich keine anderen Augen bekommen können?! Schwarze, grüne oder braune wie alle anderen hier?? Warum konnte ich nicht einfach solche haben? Dann wär all das nie passiert..." Mit ohnmächtiger Wut schlug er den Kopf gegen seine Knie, dreimal, viermal... bis Marcos Hand ihn vehement nach unten drückte.
„Hör auf, dir wehzutun, yoi? Bitte... du kannst doch nichts dafür, wie du geboren wurdest - das kann niemand!" Als er spürte, dass sein Freund sich ein wenig beruhigt hatte, atmete er schwer aus und begann erneut, ihn vorsichtig über die Haare zu streicheln. „Erzähl mir alles, Charlie. Von Anfang an... was ist dir passiert?"

Fest presste Charlie die Lippen zusammen. Alles erzählen... wenn das nur nicht so unheimlich schwer wäre!! Es dauerte einen Moment, doch dann riss er sich zusammen und fing zögerlich an zu sprechen.
„Als ich geboren wurde und... sie meine Augen gesehen haben, war das natürlich eine Sensation. Der Tag wurde traditionsgemäß zum Feiertag erklärt und zu Ehren des Sultans und seines gesegneten Nachwuchses sind überall im Land Feste gefeiert worden. Davon hab ich natürlich nichts mitbekommen... und die ersten fünf Jahre meines Lebens waren sogar erträglich... die hab ich nämlich hauptsächlich bei meiner Mutter verbracht, wie es bei allen anderen Kindern hier im Land auch üblich ist. Ich... musste zwar viel lernen, wurde streng unterrichtet und bei allen offiziellen Anlässen präsentiert wie ein Ausstellungsstück, aber... das ging noch. Doch als ich dann sechs wurde... war die Schonfrist vorbei. Weil ich ja ein Junge bin, wurde ich meiner Mutter entzogen, bekam ein eigenes Gemach im Palast und verbrachte meine Zeit vom Frühstück bis zum Abendessen mit meinem Vater... Sultan Jaspal der Vierte. Oder Kahn wie seine Korrekte Ansprache ist. Ich... musste überall dabei sein und neben ihm sitzen. Sämtliche Besprechungen mit seinen Beratern, politische Sitzungen, Verträge aushandeln und schließen, Feste, offizielle Anhörungen und Treffen mit Würdenträgern... aber... aber... am schlimmsten waren... die... die Eheschließungen und... das Gericht..."

Charlie erschauderte unwillkürlich, während der Druck hinter seinen Augen zunahm und ihn abgehackter atmen ließ. Und Marco schien zu ahnen, was kommen würde, denn sein Griff festigte sich und er stöhnte leise, doch er unterbrach ihn nicht.
„Davon... davon hab ich als erstes geträumt. Du hast es selber erlebt wie... w-wie die Frauen hier leiden... und... wie grausam d-die Strafen generell sind! Und ich... ich musste das jede Woche sehen, Marco!! J-Jede... wirklich jede Woche mindestens einen Tag... und ich... ich... durfte nicht w-wegsehen! 'Sieh hin!' hat er immer gesagt... 'SIEH HIN!!'... und ich m-musste hinsehen... musste zusehen, als sie... einen a-armen, alten Mann gehängt haben, weil... er aus der königlichen Weizenkammer eine Hand voll Korn g-gestohlen hat. Ich... musste zusehen als... sie einer v-verheirateten Frau... d-die N-Nase und die... die... Ohren abgeschnitten haben w-weil sie... weil... sie einen a-anderen Mann... g-geliebt hat...", stammelte Charlie, während heiße Tränen den Verband um seine Augen durchnässten und darunter hervorquollen.

„O-Oder wie sie... einem J-Jungen die Hand a-abgeschlagen haben w-weil er... e-eine Geldbörse gestohlen hat. Und... und w-weißt du wie v-viele... wie viele... M-Mädchen... ICH... v-verheiratet hab? M-Mädchen mit... mit manchmal erst... n-neun Jahren? Vielleicht Zehn? A-An erwachsene Männer! ICH HAB SIE V-VERHEIRATET, MARCO!! ICH!! Weil e-es eine h-hohe... EHRE ist, von... von dem Gesegneten ver-vermählt zu werden! Mich haben diese Mädchen angesehen... sie alle haben MICH angesehen! Und w-weißt du, wie viele... wie viele ich davon... NUR TAGE SPÄTER... BEERDIGEN MUSSTE?! Sie... sie haben die Hochzeitsnacht n-nicht überlebt... sind an inneren V-Verletzungen gestorben... und... all diese Augen... ich kann sie nicht v-vergessen... ich konnte doch nichts t-tun... a-aber alle haben m-mich angesehen..." Mit einem verzweifelten Laut brach Charlie ab und weinte. Augenblicklich schlang Marco beide Arme fest um ihn und atmete brüchig aus.
„Ach du scheiße... Charlie, das... das tut mir so leid, yoi? Jetzt weiß ich, was du gemeint hast... ich hab mich das die ganze Zeit gefragt, aber... scheiße...", flüsterte er hörbar betroffen. „Ständig sowas zu sehen... aber wie um alles in der Welt bist du dann hier gelandet?"

Es brauchte ein paar Minuten, bis Charlie sich so weit beruhigt hatte, dass er antworten konnte.
„Mein Leben war furchtbar... ich... ich hab es kaum ertragen. Die einzigen beiden Menschen, die mich haben durchhalten lassen, waren meine Mutter und ihr älterer Bruder, also mein Onkel. Er ist extra für sie der Palastwache des Sultans beigetreten, damit er meine Mutter oft besuchen konnte, weil er sich Sorgen um sie gemacht hat. Weißt du... er ist einer der wenigen Männer hier, der Frauen immer respektiert hat. Er war nie verheiratet und hat sich stattdessen immer sehr um seine drei Schwestern gekümmert. Ganz besonders aber um meine Mutter... ich hab dir ja schon gesagt, dass sie unheimlich lieb und sanft war... aber vielleicht war sie auch genau deshalb so... zerbrechlich und... dauernd krank", flüsterte er bebend und wischte sich über die Wangen, während Marco neben ihm unwillkürlich leicht zusammenzuckte. Jetzt verstand er wohl, warum ihm seine Vergangenheit so nahe gegangen war... Charlie lächelte bitter. „Unsere Geschichten haben einige Parallelen, was? Wir haben beide wundervolle Onkels gehabt... schwere Krankheiten haben uns geprägt und... wir haben beide unsere Liebsten im Feuer verloren..."

Charlie hörte Marco leise stöhnen.
„Oh nein... deine Mutter ist auch...?!"
„Ja, nur war es kein Attentat. Ich... ich durfte zu dieser Zeit eigentlich gar nicht allein zu ihr; ich hab sie nur zu der Abendmahlzeit gesehen und zu offiziellen Anlässen, für die man sie als gesegnete Mutter aus dem Bett gezerrt und hübsch gemacht hat. Aber ich hab mich nachts oft zu ihr geschlichen. Ich... ich war eben noch so jung, und... ich hab sie gebraucht! Und sie hat immer schon auf mich gewartet und mich getröstet... ihr konnte ich alles erzählen... sie hat mich verstanden. Sie... sie hat immer gesagt, dass ich bin wie sie... nur stärker. So hab ich mich aber nie gefühlt. Und dann... dann..." Er stockte, brachte die Worte kaum über die Lippen.
„...dann wurde sie richtig schlimm krank... und nicht wieder gesund", beendete Marco tonlos seinen Satz und Charlie brach erneut in Tränen aus.
„Ja... sie konnte nicht mehr a-aufstehen... konnte n-nichts mehr essen... und e-eines Tages haben die Heiler gesagt, dass... wenn sie heute die A-Augen schließt... wird sie sie n-nicht mehr... nicht mehr... nicht mehr öffnen...", stieß er mühsam hervor und unternahm nicht mal den Versuch, mit der Heulerei aufzuhören. „Ich hab mich... zu ihr geschlichen... wie jeden Abend. Und... s-sie hat wieder a-auf mich gewartet... nur noch auf mich, h-hat sie gesagt..." Erneut hielt er inne, weil er kaum noch ein verständliches Wort hervorbrachte und atmete mehrmals tief durch.
„Schon gut... du musst nicht...", setzte Marco besorgt an, doch er schüttelte vehement den Kopf.
„Doch. Lass es mich beenden, viel ist es nicht mehr", widersprach er ihm zittrig, doch wieder etwas gefestigter. Er wollte das jetzt durchziehen, dann wusste sein Freund alles über ihn.

„Mein Onkel war da... was mir komisch vorkam, weil er eigentlich Dienst haben sollte. Aber ich war froh drum. Meine Mutter... hat sich von mir... v-verabschiedet. Sie sagte aber... dass das hier kein E-Ende ist, sondern ein Neuanfang... ein Neuanfang für mich. Alles, was ich d-dafür tun muss, wäre meine Augen zu schließen... für immer. Weil sie mich in diesem Land immer verraten würden... jeder würde mich sofort erkennen. Außerdem hat sie gesagt, dass... ich genug Böses gesehen hab... und man mit dem Herzen ohnehin viel mehr sieht als mit den Augen. Dann hat sie... mich wegschicken wollen. Mir ist erst spät aufgefallen, dass es in ihrem Zimmer komisch gerochen hat, aber erst, als mein Onkel eine Fackel in der Hand hatte, wusste ich, dass es Lampenöl war. VIEL Lampenöl. Er... hat geweint und sich von ihr verabschiedet... ich habs nicht verstanden, was vor sich geht, bis es angefangen hat zu brennen..." Charlie schluckte, dann löste er sich ein Stück von Marco und zog sein dreckiges Hemd hoch, sodass er die breite Brandnarbe auf seiner Vorderseite sehen konnte.

Der junge Pirat biss hörbar die Zähne zusammen, ehe sanfte Finger vorsichtig das Mal berührten und ihm eine Gänsehaut bescherten.
„Du musstest offiziell tot sein... sonst hätten sie ewig nach dir gesucht...", verstand er sofort den traurigen Plan von Charlies Mutter. „Und dein Onkel hat geholfen, dich zu verstecken?"
Charlie nickte und bedeckte sich wieder.
„Ja. Aber lang konnte er das auch nicht, weil er viel zu nah am Palast gewohnt hat... und die Leute reden. Es wäre aufgefallen, wenn er plötzlich ein Kind bei sich gehabt hätte... oder selbst verschwunden wäre. Nein, so gern er für mich dagewesen wäre... ich... musste es allein schaffen. Also hab ich meinen Namen geändert und bin zu einem blinden Betteljungen geworden, der umgehend auf die Mineninsel hier gebracht wurde. Und... ich habs geschafft, Marco! Ich hab gelernt, allein zu leben... mich ohne Augen zurechtzufinden... und ich hab mich nie beklagt. Egal wie einsam ich war... egal wie oft ich rumgeschubst oder bespuckt worden bin... egal wie oft ich im Dreck gelandet oder verprügelt wurde, nichts davon war so schlimm wie dieses eine Jahr als Thronerbe...", beendete er schließlich seine Erzählung und eine nicht unerhebliche Menge grimmigem Stolz schwang in seiner Stimme mit.

Stille breitete sich in der Höhle aus, aber es war keine unangenehme. Beide Jungen hingen ihren Gedanken nach.
„Du bist also gar nicht blind...", stellte Marco leise fest und Charlie schüttelte langsam den Kopf.
„Nein. Oder jetzt vielleicht schon? Ich hab keine Ahnung, ob man seine Sehkraft wirklich verliert wenn man sie nicht benutzt... aber ich wills nicht rausfinden. Es ist in Ordnung so, wie es ist. Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber... ich will das Versprechen nicht brechen, das meine Mutter mir gegeben hat. Sie wollte, dass ich nichts Schlechtes mehr sehen muss. Das würde ich aber zwangsläufig tun, selbst wenn du mich wirklich auf eine andere Insel bringst, auf der ich leben kann!"
Sein Freund seufzte leise und stieß ihn kameradschaftlich an.
„Doch, das kann ich schon verstehen, yoi? Und ich kann dich beruhigen: ich halte dich noch immer nicht für feige. Im Gegenteil! Ich weiß nicht, ob ich das alles geschafft hätte..."

Jetzt lächelte Charlie wieder, und ein riesiger Stein fiel ihm vom Herzen. Er hielt ihn nicht für einen Feigling... und er verstand sogar, dass er freiwillig blind bleiben wollte! Himmel, womit hatte er so einen Menschen wie ihn verdient?!
„Klar hättest du das! Du warst doch auch ganz allein und hast nicht aufgegeben...", erinnerte er ihn, was Marco ein leises Schnauben entlockte.
„Nur ein paar Monate. Aber... wir sind uns wirklich ziemlich ähnlich, yoi? Ist ja schon fast gruselig!", scherzte er matt, doch Charlie stimmte ihm brummend zu, während er sich über den etwas steifen Nacken rieb. Dann fiel dem Piratenlehrling jedoch noch etwas ein. „Sag mal... wenn du deinen Namen geändert hast: wie hießt du früher?"
Der Jüngere verzog kurz das Gesicht.
„Genau wie alle anderen, die vor mir diese Augen hatten: Surya... nach unserem Sonnengott, weil der angeblich durch diese Augen in unsere Welt blickt. Blablabla... den Namen Charlie hab ich in einem Gefangenenlager gehört, das ich mit meinem Vater besichtigt hab, er gehörte einem Vogelfreien. Oder Piraten besser gesagt... der Name hat mir gefallen und er war ein wirklich beeindruckender Mann, darum hab ich ihn mir gemerkt... und mir nach meiner Flucht diesen Namen gegeben", erzählte er ein wenig verlegen, doch Marco klopfte ihm auf die Schulter.

„Find ich gut, der Name passt viel besser zu dir. Klingt lustiger und lockerer als Surya!"
Das zauberte wieder ein Lächeln in Charlies Gesicht.
„Danke! Ich mag ihn auch viel lieber..." Es war seltsam, aber trotz des Albtraums und der vielen Heulerei fühlte er sich besser. Erleichtert und... verstanden? Sogar die Last all der schlimmen Erinnerungen, die stets auf seinen Schultern lag, war leichter geworden. Marco musste ganz eindeutig eben doch Zauberkräfte haben, anders ließ sich das nicht erklären. Unwillkürlich lächelnd bei dem Gedanken streckte er vorsichtig seine vom unruhigen Schlaf steifen Glieder. „Wie spät ist es denn überhaupt?"
„Hmmm... früher Morgen, die Sonne ist grad erst aufgegangen", antwortete der junge Pirat und erhob sich leise ächzend. „Ich muss pinkeln, soll ich dich mitnehmen?"
Jetzt wo er es sagte... mit einem Nicken erhob sich Charlie, legte ihm eine Hand auf die Schulter und folgte ihm so nach draußen, wo sie von der noch erträglichen Hitze des beginnenden Tages begrüßt wurden. Einige Schritte vom Höhleneingang entfernt hielt Marco inne und drehte ihn ein Stück zur Seite.
„Wasser marsch", grinste er und entlockte seinem Freund damit ein belustigtes Schnauben. Das erste Mal war es ihm noch ein wenig merkwürdig vorgekommen, sich in Gesellschaft zu erleichtern, aber blind auf unbekanntem Terrain blieb ihm kaum eine andere Wahl, und er hatte sich schnell dran gewöhnt. Marco machte es ihm aber auch leicht... und jetzt, wo er so darüber nachdachte, ja nicht nur in dieser speziellen Sache, sondern allgemein. Hatte er sich dafür eigentlich schon mal so richtig bei ihm bedankt?

Als sie fertig waren, gingen sie gemeinsam zurück zur Höhle und teilten sich als mageres Frühstück eine einzige Dattel und einen Schluck Wasser - keiner von ihnen wusste, wie lange ihr mickriger Vorrat von nun an reichen musste. Seinen kleinen Schützling vergaß Charlie trotzdem nicht; auch Ziba hielt er eine Frucht hin und grinste, als ihre mittlerweile vertrauten Beinchen nach dem Leckerbissen tasteten. Die feinen Härchen kitzelten auf der Haut, als sie ihm die Dattel entwand um sie zu verspeisen.
„He Marco?", unterbrach Charlie die einträchtige Stille nach einer Weile und kratzte sich ein wenig verlegen an der Nase, unschlüssig, wie er am besten aussprechen konnte, was ihm im Kopf herumgeisterte.
„Mmh?"
„Ich... wollte dir nur sagen, dass du... hm... naja... ein echt toller Mensch bist", murmelte er schüchtern - und konnte prompt einen überrumpelten Blick auf sich liegen fühlen.
„Hat dich beim Pinkeln eben die Sonne zu kräftig erwischt oder wie kommst du da plötzlich drauf?", fragte er ungläubig, aber nun eindeutig ebenfalls verlegen. Charlie lachte kurz auf.

„Pah, bestimmt nicht. Ich glaub, ich halte wesentlich mehr Sonne aus als du blöder Vogel!" Dann wurde er jedoch wieder ernster und zuppelte an seiner abgelatschten Sandale herum. „Nein, was ich meinte, ist... einfach danke. Für alles. Mit dir zusammen ist alles so... so unfassbar einfach! Bei dir fühl ich mich einfach wohl, genauso wie ich bin, weißt du? Das ist mir noch niemals so gegangen... Du hilfst mir bei allen möglichen Sachen ganz selbstverständlich, ohne dass ich dich extra darum bitten müsste - und das auch noch auf eine Art und Weise, bei der ich mir weder nutzlos noch dumm oder sonst irgendwie lästig oder hinderlich vorkomme. Es kümmert dich nicht, ob ich blind bin oder wo ich herkomme oder welche Fehler ich hab... du bist... einfach so mein Freund geworden. Ich wollte nur, dass du weißt, wie... wie toll sich das anfühlt. Und wie viel mir das bedeutet. Es ist als hätte ich plötzlich so eine Art... naja... eine Art Beschützer, auch wenn sich das irgendwie komisch anhört. Ach, egal. Ich wollte nur sagen... ich hab dich wirklich echt gern!"

Stille folgte seinen zögerlich ausgesprochenen, aber aus tiefstem Herzen kommenden Worten. Es war eine bedeutungsvolle, nicht direkt unangenehme, aber eben doch leicht beschämte Stille.
Charlie lauschte aufmerksam Marcos leicht beschleunigten Atemzügen, hörte, wie er mehrmals zum Sprechen ansetzte, aber immer wieder abbrach und sich fahrig durch die Haare strich. Ganz offensichtlich hatte er ihn jetzt total überfordert, was aber wenig überraschend kam. Er hatte schon bemerkt, dass der junge Pirat mit aufrichtigem Lob, Komplimenten oder gar Bewunderung nicht wirklich umgehen konnte... darum beschloss er, ihn von der viel zu feierlichen Stimmung zu erlösen. Frech grinsend streckte er eine Hand aus und berührte Marcos eindeutig stark erhitztes Gesicht.
„Wer von uns beiden hat jetzt zu viel Sonne erwischt, hm? Du glühst ja wie ein Hochofen!", frotzelte er - und wich blitzschnell der erwarteten Kopfnuss aus.
„Na warte, Schokolöckchen... gleich glühst DU, yoi?", knurrte er mit hörbarer Erleichterung in der Stimme und stürzte sich angriffslustig auf ihn.

Fluchend, lachend und keuchend wälzten sich die beiden Jungen am Boden herum und rauften miteinander, verteilten derbe Tritte und Schläge und steckten auch wieder genauso viele ein. Sie waren einander ziemlich ebenbürtig; Charlie war durch seine langjährige, harte Arbeit deutlich kräftiger als Marco, der aber im Gegenzug um einiges mehr Erfahrung besaß und trickreicher angriff. Erst, als sie beinahe Zibas Gefäß zerdepperten und die Spinne empört zischte, beendeten sie erschöpft, aber breit grinsend ihre Rauferei und blieben keuchend auf dem Höhlenboden liegen.
„Haben wir... die Gefühlsduselei... jetzt beendet?", schnaufte Marco und knuffte ihn in den Oberarm. Charlie gluckste.
„Jep, jetzt find ich dich einfach wieder nur doof...", erwiderte er vergnügt und gab den Knuff großzügig zurück.
„Na dem Himmel sei Dank... hab mir schon Sorgen um deinen... Geisteszustand gemacht!", schnaubte Marco hörbar grinsend und dehnte knacksend seine Glieder. Kurz schwieg er, doch dann seufzte er kurz. „Aber... ich mag dich auch. Und ich bin gern dein Freund...", fügte er kaum hörbar murmelnd hinzu und brachte Charlie damit zum Lächeln.
Das Leben konnte wirklich schön sein! Es brauchte offenbar nur den richtigen Menschen dazu.

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In den folgenden vier Tagen entwickelte sich fast eine Art Alltag. Die Höhle wurde zu ihrer Basis, von der aus sie jeden Morgen nach einem kargen Frühstück aus einer Dattel und einem Stück in Wasser aufgeweichtem Brot losmarschierten und die knapp einstündige Wanderung zum Berggipfel absolvierten. Von dort hatte Marco einen freien Blick auf das Meer, das zu seiner Enttäuschung jedoch gänzlich leer blieb. Gegen Mittag, wenn die Hitze zu drückend wurde, gingen sie zurück in die Höhle und verbrachten dort ihren Tag, ehe sie gegen Abend noch einmal zum Gipfel wanderten, um Ausschau zu halten.
„Langsam könnten sie wirklich auftauchen...", murmelte Marco geknickt, als sie am Morgen des fünften Tages wieder in die Höhle zurückkehrten. Charlie verstand ihn; er machte sich Sorgen um seine gefangenen Brüder und langsam auch Sorgen, dass den anderen ebenfalls etwas passiert war, von dem er noch gar nichts wusste. Aufmunternd klopfte er ihm auf die Schulter, während er sich setzte und Ziba eine ihrer letzten Datteln verfütterte. Ihre Vorräte wurden jetzt wirklich knapp... die drei restlichen Datteln würden sie für die Spinne aufbewahren, während sie sich mit dem letzten halben Laib Brot begnügen mussten.

Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt