Gegebene und gehaltene Versprechen

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Einen wunderschönen guten Abend meine Lieben!

Uff, das waren jetzt vielleicht anstrengende Wochen. Eigentlich könnte ich jetzt schon wieder Urlaub brauchen... Ich hasse Schulanfänge und ich hasse diese „Sie benötigen 4 handgezupfte Einhornhaarpinsel, drölfzig Hefte mit exakt aufgelisteter Lineatur in Seltenheitswert doppelepisch (Fundort unbekannt, lila Umrandung, bitte beachten!), einen magischen Füller mit unsichtbarer Tinte und einen Mithrilharnisch aus den Minen von Moria"-Listen UND ich hasse gewisse Familienangehörige, die mich zusätzlich zu dem ganzen Bums zur Weißglut treiben. @_@ Ich hab mich echt gefreut, dass ich euch mit Fossas Auftritt so überraschen konnte. :D

Aber genug gejammert, jetzt erst mal vielen lieben Dank für eure tollen, grade extrem aufmunternden Reviews vom letzten Mal und ein ganz herzliches Willkommen an meine neuen Leser! Schön, dass ihr hergefunden habt und trotz der bisher eher düsteren, ernsten Anfänge geblieben seid – aber ich verspreche, das wird sich bald ändern! Meine „alten Hasen" (Bussi an dieser Stelle an eben diese! <33) kennen mich ja bereits und wissen, welche Sachen ich am liebsten schreibe... ;) Aber dazu nächstes Mal mehr!

Jetzt wünsche ich euch noch einen wunderschönen Abend und ganz viel Spaß wie immer beim Lesen! Bleibt gesund und lasst euch von niemandem ärgern! ;)
Bis zum nächsten Mal! :-*

GlG
Ancarda

P.S.: Wattpad hat mir (mal wieder!) die komplette Formatierung zerschossen und willkürlich Leerzeichen im ganzen Text gelöscht. Ich hoffe, ich hab alles wieder korrigiert... aber falls ihr doch noch über was stolpert: ich wars nicht! xD




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Langsam und sehr präzise zog Charlie sein Schnitzmesser über die fast fertige Holzfigur, an der er nun schon seit ein paar Stunden arbeitete, und entfernte sachte die letzten, winzig kleinen Unebenheiten. Nach jedem kleinen Schnitt glitten seine Fingerspitzen prüfend über die Stelle, ob es auch seinen Vorstellungen entsprach. Dabei lächelte er unwillkürlich; es fühlte sich erstaunlich gut an und das verschaffte ihm ein richtiges Hochgefühl.
„Nicht schlecht, Kleiner! Das ist ne wirklich schöne Blume... so eine hab ich noch nie gesehen, welche Farbe hat sie denn?", unterbrach Beanies Stimme die angenehme Stille, der soeben interessiert von seiner eigenen Schnitzarbeit aufsah. Nachdem Marco bei den Vorbereitungen für den heute Nacht geplanten Überfall half, hatte er Charlie gleich nach dem Frühstück eingeladen, in seiner Werkstatt vorbeizuschauen – und dort waren sie dann auch gleich bis auf eine kurze Unterbrechung zum Mittagessen direkt versumpft.
Der Junge war sofort begeistert gewesen von dem intensiven Geruch nach Holz und Späne in dem weitläufigen Raum, an den noch zwei weitere kleine Arbeitsräume angrenzten. Hörbar stolz hatte Beanie ihn herumgeführt und ihm dabei auch gleich seine Arbeit und Aufgaben erläutert – und in Charlie vermutlich den dankbarsten Zuhörer überhaupt gefunden. Restlos fasziniert hatte er seinen Ausführungen über die Eigenschaften der verschiedenen Holzarten gelauscht, die der Schiffszimmermann ihm nicht nur erklärte, sondern ihm dazu sogar kleine Stücke davon zum Befühlen in die Hände legte. Es war erstaunlich, wie sehr sie sich voneinander unterschieden; nicht nur in der Oberfläche und Maserung, sondern auch im Gewicht.

In seiner Heimat gab es nur recht wenig Holz, deshalb war er regelrecht überwältigt davon, als er hörte, wie viele verschiedene Bäume und damit Holzsorten es auf der Welt gab. Und Beanie wusste wirklich eine Menge darüber, weshalb er ihm auch sprichwörtlich an den Lippen gehangen hatte... bis der muskulöse, schwarzhaarige Hüne ihn grinsend gefragt hatte, ob er nicht vielleicht Lust zu Schnitzen hatte. Und Charlie war noch immer sehr stolz auf sich, dass er NICHT in Tränen ausgebrochen war, als er sich dafür nicht nur ein Stück Holz seiner Wahl aussuchen durfte, sondern Beanie ihn auch sein eigenes, hochwertiges Werkzeug mitverwenden ließ.
Nein, es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er sich an so viel Freundlichkeit gewöhnt hatte!

Oder an Lob.

Vor Freude und Stolz errötend, hielt der Junge ihm die etwa sieben Zentimetergroße Blüte entgegen, an der er gearbeitet hatte.
„Das ist eine Wüstenrose! Ihre Blütenblätter sind am Rand intensiv Pink, der Rest ist hellrosa und ganz innen der Kelch ist gelb. Sie wird in Khadir sehr geschätzt und gilt sogar als heilig...", erklärte er und tastete nach dem Schleifpapier, um sein Werk zu vollenden.
Beanie lächelte und sah ihm zu. Es erstaunte ihn schon, wie geschickt sich der Junge beim Schnitzen anstellte... es schien ihn wirklich gar nicht zu stören, dass er nichts sehen konnte. Sein Tastsinn musste unglaublich sensibel sein, und er musste zudem ein ausgezeichnetes Vorstellungsvermögen besitzen. Allein wie akkurat die einzelnen Blütenblätter gearbeitet waren, zeigte ihm das. Aber Hauptsache, der Kleine hatte Spaß dabei! Und so eifrig und konzentriert, wie er bei der Sache war, hatte er den ganz offensichtlich, was den Zimmermann zufriedenschmunzeln ließ. Das, was er alles von Marco über den Jungen erfahren hatte, hatte ihn eindeutig getroffen... es tat weh sich vorzustellen, wie so ein gutmütiger, kleiner Knirps jahrelang als von allen verachteter Krüppel in irgendwelchen Bergstollen hatte schuften müssen...

„Das ist schon in Ordnung... es muss dir nicht leidtun!", riss ihn unerwartet Charlies leise Stimme aus den Gedanken. Verblüfft blinzelte er ihn an, doch der Junge hielt den Kopf gesenkt und fuhr damit fort, die Oberfläche seiner Blüte zu glätten.
„Woher... weißt du, was ich denke?", fragte er überrumpelt. Hatte er etwa auch Teufelskräfte?
Charlie schüttelte den Kopf und gluckste belustigt.
„Ich weiß nicht, was du denkst... aber ich höre die Art deines Schweigens. Und ich fühle, dass du mich ansiehst, also kann ich mir ungefähr vorstellen, was du denkst", versuchte er ihm zu erklären, während er das eben verwendete Schleifpapier weglegte und nach einem Feineren griff. Beanie neigte sich interessiert zu ihm.
„Meine Art des Schweigens? Was meinst du damit?", hakte er unbestreitbar neugierig nach und legte seine eigene Schnitzerei beiseite. Es war ohnehin schon früher Abend; in absehbarer Zeit würde er zusammen mit Vater und den meisten seiner Geschwister aufbrechen, um Rakuyou und Andre endlich zu befreien.

Nachdenklich legte Charlie den Kopf schräg und überlegte, wie er ihm das am besten beschreiben sollte.
„Ich weiß, das klingt komisch... aber es gibt tatsächlich sehr viele unterschiedliche Arten, wie Menschen schweigen können. Das hab ich auch erst gemerkt, als ich nichts mehr gesehen hab... aber jedes Schweigen hat tatsächlich einen... ähm... naja, wie einen eigenen Klang! Es kann sich zum Beispiel bedrohlich anhören, lauernd, berechnend oder verächtlich... oder nachdenklich, aufgeregt oder angespannt. Deins hat sich mitleidig angehört... das hab ich schon oft gehört, das kenne ich. Aber das musst du nicht tun, mir geht's nämlich wirklich total gut hier, ehrlich!" Mit einem scheuen Lächeln hob er kurz den Kopf, um seine Worte zu unterstreichen. Es war ihm bis heute unangenehm, wenn jemand Mitleid mit ihm hatte... irgendwie tat das weh, auch wenn es derjenige natürlich nicht böse meinte. Es schien ihn noch schwächer zu machen, als er sich ohnehin schon fühlte, zumal er grade jetzt im Augenblick sowieso kein bisschen bemitleidenswert war.
Beanie lachte beeindruckt auf, ehe er dem Kleineren gutmütig durch den Schopfwuschelte. Er verstand, was er ihm sagen wollte – und auch, dass er Mitleid nicht mochte. Das respektierte er.
„Dann werd ich mir das Mitleid in Zukunft verkneifen, versprochen!", grinste er und begann, die am Boden liegende Späne aufzukehren. „Aber die Sache mit dem Schweigen klingt echt cool; ist schon erstaunlich, wie sich die Sinne schärfen, wenn einer wegfällt!"

Dem konnte Charlie nur zustimmen.
Ein letztes Mal strich er mit den Fingerspitzen über jedes einzelne Blütenblatt und prüfte sein Werk auf Unebenheiten, fand zu seiner Zufriedenheit aber keine. Im Gegenteil, es freute ihn ungemein, wie gut sich das Ergebnis anfühlte! Es war doch ein gewaltiger Unterschied, mit welchem Holz man arbeiten konnte - und mit welchem Werkzeug!
Hoffentlich gefiel es ihm...
Vorsichtig steckte er es in die Hosentasche und half Beanie so gut wie möglich beim Aufräumen. Wenige Minuten später wurde jedoch auch schon schwungvoll die Türaufgerissen.
„Ihr seid ja immer noch hier! Ich bin fertig, kommst du mit?", rief Marco fröhlich und brachte Charlie automatisch zum Lächeln, als er sich zu ihm umwandte.
„Klar doch! Aber ich bin auch gleich fertig, ich helf nur noch kurz...", setzte er an, doch da legte sich Beanies große Hand auf einmal zwischen seine Schulterblätter und gab ihm einen sanften Schubs zur Tür.

„Nicht nötig, das Bisschen mach ich noch selber. Macht euch ruhig vom Acker, na los! Komm jederzeit wieder, Charlie", verabschiedete sich der Zimmermanngutmütig und verkniff sich gleich darauf mühsam das Lachen, als der Junge bei seinem Angebot erst überglücklich strahlte – und sich im nächsten Momentverkrampft auf die Lippen biss, um sich mit sichtlicher Kraftanstrengung auf ein schlichtes „Sehr gerne, vielen Dank!" als Antwort zu beschränken.
Kein Wunder, dass der Kleine sogar das Herz der Eishexe zum Schmelzen gebracht hatte... wobei das in seinem Fall wohl eher nichts Gutes war. Er beschränkte sich also auf einen belustigten Blickwechsel mit Marco, der seinem Freund energisch den Stab in die eine Hand drückte und ihn an der anderen zur Tür zog.
„Bis später, danke Beanie!", verabschiedete er sich gut gelaunt und verließ zusammen mit Charlie die Werkstatt. Interessiert sah er ihn an. „Sieht so aus, als hättet ihr Spaß gehabt, yoi?"
„Und wie! Er weiß wirklich unheimlich viel und hat mir so viel erklärt... ich hätte nie gedacht, dass es so viele verschiedene Holzarten gibt! So viele verschiedene Bäume... Beanie hat versucht, sie mir zu beschreiben, aber... ich kann sie mir nur schwer vorstellen", erzählte er und seufzte halb andächtig, halb wehmütig, weshalb Marco tröstend seine Hand drückte. Und sich ein Seufzen verkniff.

Die Bäume waren ja erst der Anfang... es gab doch so unendlich viel, dass er nicht kannte oder wusste! Und es versetzte ihm schon einen Stich, dass er das alles niemals sehen würde. Einiges würde er zwar mit seinen übrigen Sinnen erkunden können, aber... irgendwie war das nicht dasselbe.
„Dann bring ich dich eben zu allen möglichen Bäumen und lass dich fühlen. Warts ab, das kriegen wir schon hin, dass du dir das vorstellen kannst!", versprach er ihm dennoch entschlossen. Dabei sah er aber absichtlich nicht zu ihm, denn sie würden gleich das Deck erreichen... und es machte ihn immer so furchtbar verlegen, wenn Charlie ihn so glücklich und dankbar anlächelte. Und er wusste ganz genau, dass er das grade machte!
„Danke, Marco...", antwortete Charlie leise – und das erwartete Lächeln war auch tatsächlich deutlich zu hören. Zu seiner Erleichterung wechselte er aber gleich darauf das Thema. „Ist alles fertig für den Überfall? Wie geht es jetzt weiter?"
„Ja, alles ist bereit. Sie versammeln sich grade alle an Deck, wo Manni noch eine Kleinigkeit zum Abendessen gemacht hat... und sobald es ganz dunkel ist, brechen Vater und die anderen auf. Nur Manni, Paolo, Charoo, Jozu und wir beide bleiben hier, yoi?", erklärte der Lehrling und öffnete die Tür nach draußen, wo ihnen bereits eine Vielzahl von Stimmen entgegenschlug.

„Charoo? Wer ist Charoo?", hakte Charlie verdutzt nach. Er hatte gedacht, dass er inzwischen schon alle Crewmitglieder zumindest kurz kennengelernt hatte, aber dieser Name war ihm noch nie untergekommen. Marco kicherte.
„Unser Lager- und Schatzmeister. Er ist... ehm... etwas speziell und bleibt am liebsten für sich unter Deck, darum hast du ihn auch noch nicht kennengelernt", antwortete er und lotste seinen Freund zum Hauptmast, wo ein Tisch mit großen Platten voller belegter Brote hergerichtet war, von denen er ihm eines in die Hand drückte.
„Was heißt speziell?", hakte Charlie sofort interessiert nach und biss hungrig in sein Abendessen, während er gleichzeitig den Stimmen um ihn herum lauschte. Sie klangen sehr viel ernster als zuvor, aber an ihren schwungvollen, entschlossenen Schritten merkte man auch ihren Tatendrang. Und auch eine gewisse grimmige Vorfreude hörte er aus ihrer Stimme heraus.
„Speziell... ihr redet über unseren geschätzten Meister der Zahlen, nehme ich mal an?", wurde Marco von José abgewürgt, der sich ebenfalls an den Broten bediente und seine gewohnten vier Pistolen geladen und bereit in seinem roten Haramaki stecken hatte. Auf Marcos Nicken hin schnaufte er belustigt. „In seinem Fallheißt speziell, dass er Zahlen und Formeln für seine besten Freunde hält und sich seine mathematischen Lieblingsgleichungen auf den ganzen Körper tätowiert hat. Und einen extremen Zähl-Tick hat!"

Sofort öffnete Charlie wieder den Mund, doch sein Freund kam ihm mit der Antwort zuvor.
„Zähl-Tick heißt, dass er immer alles zählt. Und zwar wörtlich. Er zählt, wie oft jemand während einem Gespräch mit ihm blinzelt, er zählt die Planken auf dem Boden, die Reiskörner in seinem Essen und beim Kämpfen wie oft er angreift, pariert, trifft oder verfehlt. Nur seine Schritte zählt er nicht, weil es unmöglich ist, seine Schritte immer exakt gleich lang zu gestalten und man auch sämtliche Sprünge, Hopser und Stolperer rausrechnen müsste UND auch seine unterschiedlichen Schrittlängen bei verschiedenem Tempo errechnen müsste... was wiederum ja nicht geht, weil die Schrittgrößen ja variieren und es deshalb zu einem mathematisch unbrauchbaren Ergebnis führen würde. Und damit reine Zeitverschwendung wäre!", gab er grinsend und sehr präzise die Antwort ihres Schatzmeisters wieder, die er damals auf seine entsprechende Frage erhalten hatte.

Neben ihnen lachte Vista auf, der dem Gespräch gelauscht hatte.
„Richtig... und habt ihr erwähnt, dass er ausschließlich Pyjamas trägt? Oder besser gesagt, immer denselben... irgendwas von wegen perfekter Farbabstimmung und Streifenanzahl, glaub ich. Ach, unser verrückter, seltsamer Bruder – er ist schon ne Nummer für sich! Aber auf ihn ist trotzdem immer Verlass. Er klingt zwar meistens knapp und ruppig, aber er ist 'n feiner Kerl und sehr hilfsbereit. Er ist nur am liebsten allein, weil er es nicht leiden kann, wenn sein Gesprächspartner unregelmäßig blinzelt... oder es ihm zu anstrengend ist, bei mehreren Leuten gleichzeitig ihr Geblinzel im Auge zu behalten!", fügte er hinzu und reichte dem Lockenkopf direkt das nächste Brot, kaum, dass der Rest des Ersten im Mund verschwunden war. „Schön weiter essen! Wir müssen dich päppeln!"
Charlie verschluckte sich fast bei dem Versuch, mit vollem Mund danke zu sagen, was für heiteres Gekicher sorgte.

Kaum, dass alle fertig gegessen hatten, wurde auch schon ein sehr großes Beiboot zu Wasser gelassen und Whitebeard trommelte seine Leute zusammen.
„Also dann, Kinder... packen wir's an und holen eure Brüder endlich zurück! Es wird höchste Zeit, dass unsere Familie wieder vollständig ist und wir das Drecksloch hier verlassen können. Seid ihr soweit?", donnerte er mit einem breiten, dunklen Grinsen, was mit einem einstimmigen, nicht weniger lauten und wildentschlossenen „AYE, VATER!" beantwortet wurde – und Charlie eine Gänsehaut verpasste, während die Piraten neben ihm nacheinander in das Beiboot sprangen.
Der bedingungslose Zusammenhalt und die unerschütterliche Gemeinschaft hier beeindruckten ihn tief. So fühlte es sich also in einer echten Familie an? Da konnte er wirklich gar nicht mitreden; natürlich hatte er seine Mutter und seinen Onkel gehabt, aber die starren Regeln dieses krankhaften Systems hatten verhindert, dass sie wirklich eine Familie hatten sein können... nicht einmal die vielen Geschwister, die er ja eigentlich gehabt hatte, waren ihm in irgendeiner Form nahe gewesen. Die waren lieber für sich geblieben... keiner von ihnen wollte etwas mit dem auserwählten Thronfolger zu tun haben, der sich da so unverschämt in den Vordergrund gedrängelt hatte. Als ob er das jemals gewollt hätte...

„Du gehörst auch dazu!"

Aus den Tiefen seiner Gedanken gerissen drehte Charlie den Kopf zu Marco. Überrascht bemerkte er, dass der Kapitän und die anderen das Schiff bereits verlassen hatten und sie allein an der Reling standen. Oh. Innerlich seufzend über seine gelegentlich sehr ausschweifenden Grübeleien schüttelte er als Antwort auf Marcos Aussage den Kopf.
„Nicht wirklich, nur für eine Weile. Aber auch das ist schon wundervoll genug! Ich mag deine Familie... ich bin wirklich froh, dass ich sie alle kennenlernen durfte", gab er aufrichtig zurück, doch zu seiner Verwunderung knurrte sein Freund unwillig und rempelte ihn mit der Schulter an.
„Nein, du gehörst ganz dazu – und zwar von jetzt an und für immer! Ich gehör nämlich zu dieser Familie... und du gehörst zu mir, so einfach ist das, yoi?", stellte er stur klar und verschränkte entschieden die Arme. Es versetzte ihm einen wirklich schmerzhaften Stich, wenn Charlie von etwas sprach, dass auch nur annähernd nach Abschied klang. Davon wollte er weder jetzt noch sonst irgendwann etwas hören! Weil es ganz einfach nicht passieren würde. Egal wie, er würde schon dafür sorgen, dass sein Freund bei ihm bleiben durfte!
Charlie hatte ihm schweigend zugehört. Und auch, wenn er in dieser Hinsicht keineswegs so zuversichtlich war wie Marco... seine Worte bedeuteten ihm die Welt und wärmten ihn vom Kopf bis in die Zehen. Er gehörte... wirklich zu ihm? Das war so vielmehr Glück, als er sich je hätte vorstellen können zu haben. Einen Moment lang herrschte friedliche Stille zwischen ihnen, während sie dem sich immer weiter entfernenden Platschen der Ruder lauschten und Charlie gegen seine zugeschnürte Kehle ankämpfte. Als er diesen Kampf endlich gewonnen hatte, griff er in seine Hosentasche und zog seine Schnitzerei hervor.
„Marco? Ich hab was für dich..." Ein wenig nervös drückte er ihm die Blüte in die Hand und hoffte, dass sie ihm gefallen würde.

Verblüfft blickte der Lehrling auf die kelchförmige, exotische Blume. Ein Geschenk? Für ihn? Beeindruckt fuhr er mit den Fingerspitzen über das weiche, glatte, sehr fein gearbeitet Holz und war erneut erstaunt darüber, wie präzise er das trotz seiner Blindheit hinbekam – und diese Schnitzarbeit war sogar noch schöner als die, die er in den Bergen von ihm gesehen hatte. Daran hatte sein Freund also heute den ganzen Tag gearbeitet... und sich offensichtlich viel Mühe gegeben.
„Wow... die ist echt toll geworden! Ist die echt für mich? Was ist das für eine Blume?", wollte er interessiert wissen und versuchte nicht mal, die Freude darüber in seiner Stimme irgendwie dämpfen zu wollen. Das war das erste Mal, dass er von einem Freund etwas geschenkt bekommen hatte...
Erleichtert, dass es ihm offensichtlich wirklich gefiel, lächelte Charlie.
„Eine Wüstenrose. In Khadir ist sie heilig... und ein Symbol. Und... und wenn man sie jemandem schenkt, dann... ist das ein Versprechen", begann er ein wenig verlegen und fühlte Marcos Blick auf sich liegen.
„Ein Versprechen...?"
Tief atmete Charlie durch, ehe er entschieden nickte.
„Ja. Sie ist ein Symbol für Leben... und Loyalität. Du hast mir versprochen, dass wir gemeinsam fliehen und du mir zeigst, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein... darum will ich dir auch was versprechen. Nämlich, dass ich für immer dein Freund sein werde, Marco! Egal was kommt, du kannst du mich zählen. Ich halte zu dir und werde immer alles tun, was ich kann, damit du auch glücklich bist. Das verspreche ich dir!", erklärte er leise, aber fest entschlossen.
Mit brennenden Augen betrachtete Marco erneut das Geschenk, das plötzlich soviel mehr an Bedeutung gewonnen hatte. Vor allem, weil...

Er hatte sich sein Leben lang einen Freund gewünscht.

Wegen seiner anfälligen Gesundheit hatten seine Eltern ihm nie erlaubt mit anderen Kindern zu spielen... die meiste Zeit seiner Kindheit hatte er eingesperrt im Haus verbracht, nur von Erwachsenen umgeben. Natürlich hatten sie sich um ihn gekümmert und wann immer es möglich gewesen war auch mit ihm gespielt, aber... das war einfach nicht dasselbe gewesen. Er hatte nie jemanden gehabt, mit dem er herumalbern hätte können... oder für den er hätte da sein können oder mit dem er zwanglos über Gott und die Welt hätte reden können. Geschweige denn jemanden, mit dem er sich hätte raufen oder messen können. Jozu war tatsächlich der erste Junge in seinem Alter, den er überhaupt getroffen hatte; er kam zwar gut mit ihm klar und mochte ihn auch, aber er war sehr zurückhaltend und ruhig und beschäftigte sich viel allein, darum war zwischen ihnen noch keine engere Freundschaft entstanden.
Mit Charlie war das ganz anders.
Er hatte ihn von Anfang an gemocht und sich gut mit ihm verstanden; und mit jeder gemeinsam verbrachten Minute war ihre Beziehung zueinander enger geworden. Es war so leicht, mit ihm zu reden... eigentlich war alles leicht mit ihm. Sie hatten so viel gemeinsam, dass sie sich wortwörtlich blind verstanden, und sogar ihre Unterschiede oder Gegensätze ergänzten sich kurioserweise oderglichen einander aus. Es war... einfach schön mit ihm. Er war so gern in seiner Nähe. Darum hatte er ihm ja damals auch dieses Versprechen gegeben - aber nicht erwartet, dass er eines zurückbekam.

„Danke, Charlie...", antwortete er schließlich leise und rückte ein wenig enger an ihn.
Schulter an Schulter standen sie an der Reling; der eine sah hoch in die Sterne und der andere lauschte mit leicht schief gelegtem Kopf dem Rauschen der Wellen. Aber in beiden Gesichtern lag dasselbe Lächeln.

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„Da vorne ist die Kette!", meldete Vista eine halbe Stunde später. Die riesigen, leicht rostigen Glieder schimmerten schwach im diffusen Licht der Sterne.
„Gut. Haltet drauf zu, dann folgen wir ihr so lang es geht, ohne sie zu berühren", befahl Whitebeard grimmig. Es war wirklich gut, dass sie von der Glocke am anderen Ende wussten... sonst wären sie wie bei den anderen Inseln hierdeutlich unbekümmerter an die Sache herangegangen – und dadurch ziemlich schnell aufgeflogen. Es dauerte allerdings nicht lang, bis Dew und Atomos an den Rudern trotz größter Anstrengung wegen der starken Strömung kaum mehr etwas erreichen konnten. In stummer Absprache griffen der am Bug sitzende Kapitän und Ragnar hinten am Heck gleichzeitig nach der Kette und stabilisierten sie, sodass Epoida zielsicher einen Faden aus seinem Mund an ein weiter entferntes Kettenstück schießen konnte. Langsam und vorsichtig zogen er und Vista das Bootdaran weiter, während die anderen beiden die Kette ruhig hielten. Es war ein hartes Stück Arbeit, und eine furchtbar zähe noch dazu, weil Epoida die Fäden nicht zu weit vorschießen lassen konnte – sonst hätte das den lockeren Teil der Kette zu stark schwingen lassen. Deshalb schoben sie sich mühsam Meter für Meter durch das auch noch teuflisch unruhige Wasser. Aber zum Glück waren sie alle keine Anfänger auf See und Schwierigkeiten gewohnt.

„Land in Sicht!", wisperte Dew endlich nach mehr als zwei Stunden verbissener Anstrengung und sorgte damit für allgemeines Aufatmen.
„Wurde verdammt nochmal auch Zeit!", knurrte Ragnar leise schnaufend. „Ihr wisst Bescheid: sobald wir das Boot in Sicherheit gebracht haben, zieht ihr sicherheitshalber direkt die Tücher vor den Mund und schaltet so viele Wachen unbemerkt aus, wie es nur irgendwie geht! Die Dreckskerle sollen unsere Anwesenheit erst bemerken, wenn es zu spät ist!"
„...und es gibt keine Gnade, für niemanden!", fügte Whitebeard grollend hinzu. „Wer sich mit unserer Familie anlegt, zahlt den Preis. Holen wir eure Brüder endlich aus dieser Hölle und verschwinden dann aus diesem Drecksloch! Aber passt aufeinander auf, verstanden?"
„Aye, Vater!", erklang die geflüsterte, aber nichtsdestotrotz wildentschlossene Antwort seiner Kinder. Die letzten fünfzig Meter bis zur Anlegestelleverhielten sie sich mucksmäuschenstill, die Gesichter grimmig nach vorn gerichtet. Auf diese Art hatten sie noch nie agieren müssen; bisher hatten sie nur wilde Gefechte auf See bestritten oder waren auch mal bei Landgängen in hitzige Kämpfe verwickelt worden. Das waren Herausforderungen, die sie kannten und liebten! Sich aber wie Attentäter heimlich nachts anzuschleichen, um andere im Schlaf umzubringen... das gefiel keinem von ihnen, auch wenn ihnen die Notwendigkeit dahinter vollkommen bewusst war. Sie waren nicht besonders viele und ihre Feinde hatten Geiseln. Trotzdem: sie alle waren ehrbare Kämpfer, die sich ihren Feinden am liebsten offen entgegenstellten, und keine hinterhältigen Mörder. Wenn sie allerdings an all das dachten, was diese Scheißkerle allein schon ihrem kleinen Bruder angetan hatten, verflog das ungute Gefühl ziemlich schnell und ein finsteres Lächeln breitete sich stattdessen auf ihren Gesichtern aus.

Wenige Minuten später knirschte es leise, als das Boot endlich auf Grund lief. Ohne auch nur das leiseste Platschen stiegen sie in das knietiefe Wasser und wateten an Land, während Atomos und José das Boot auf den Strand zogen, auf dem Whitebeard und Epoida noch saßen, um dem schwächenden Salzwasser zu entgehen. Dort sprangen dann auch die beiden Teufelsfruchtnutzer in den Sand und Epoida schoss einen stabilen Faden zum Boot, den er um einen kleinen Felsen band, damit es nicht abgetrieben wurde.
Whitebeard kniff währenddessen die Augen zusammen und konzentrierte sich auf sein Observationshaki. Er spürte tatsächlich mehr als hundert Mann außerhalb deseisernen, locker zehn Meter hohen Gitterzauns, der das Gefangenenlager umschloss. Also hatte der Junge mit seiner Schätzung recht behalten. Aber viel wichtiger: er spürte auch seine vermissten Kinder da drin. Dem Himmel sei Dank, sie waren am Leben!
Zeit, sie nach Hause zu holen.

„Knapp Hundertvierzig Feinde, die meisten in den Zelten da drüben. Außerdem mehrere Patrouillen um die Absperrung herum", raunte er den anderen zu und nickte zu den schemenhaft erkennbaren Umrissen von gut zwanzig größeren, in ordentlichen Zweierreihen stehenden Zelten. Im vorderen Bereich brannte ein Lagerfeuer, um das etwa zwanzig Soldaten saßen und sich unbekümmert und lautstarkunterhielten. „Epoida, Atomos und Whitey, ihr versteckt euch in der Nähe des Eingangs zum Lager und wartet ab. Wir anderen nehmen uns so leise wie möglich die Zelte vor. Wir fangen an der vom Lagerfeuer abgewandten Seite ganz hintenan und eliminieren von da aus nacheinander so viele Ratten wie möglich. Wenn wir auffliegen, werden wir laut und ziehen alle Aufmerksamkeit auf uns, sodass ihr drei ins Lager einbrechen könnt. Sucht so schnell wie möglich eure Brüder, bevor sie sie am Ende noch als Druckmittel gegen uns verwenden können! Sie sind im nördlichen Teil, relativ weit hinten Richtung Meer. Wir anderen halten die Wachen in Schach, bis ihr wieder da seid. Sobald Andre und Rakuyou in Sicherheit sind – mach ich mit den Würmern kurzen Prozess!"

Ein vorfreudiges, dunkles Lächeln trat auf sein Gesicht. Oh, er würde es genießen, diese Folterstätte bis in die Grundfesten zu erschüttern! Eine Vorstellung, die auch den anderen sichtlich gefiel, als sie stumm salutierten und sich wie befohlen aufteilten.
Bis auf die drei Genannten schlichen sich die Whitebeards um das Lagerfeuerherum zu den im Dunklen liegenden, großen Zelten der Soldaten. Ihr Kapitän postierte sich vor dem ersten und sah zu, wie sich auch der Rest in Zweierteams auf die Zelteingänge verteilten und so leise wir möglich ihre Waffen zogen. Stummwarteten sie, bis alle in Position waren... dann stieß der Riese als Startsignal sein Bisento in die Luft.
Nahezu gleichzeitig verschwanden sie nach drinnen... und das Töten begann.

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Ein lauter Schrei, der jäh in einem erstickten Gurgeln endete, riss Rakuyou wenig später aus dem Schlaf. Verwirrt rieb er sich über die Augen und fragte sich, ob er geträumt hatte – doch im selben Augenblick brach draußen buchstäblich die Hölle los. Gellende Alarmrufe, noch mehr Schreie, Flüche und Befehle zerrissen die Stille der Nacht, unmittelbar gefolgt von Waffengeklirr und wildem Kampfgebrüll.
Allerdings ein sehr bekanntes, lang herbeigesehntes Kampfgebrüll!
Sofort war er hellwach und rüttelte grob an Andres Schulter, den vor lauter Müdigkeit von der Arbeit in den Minen nicht mal der Lärm draußen aufweckte.
„Aufwachen, Großer! Na los, doch... sie sind endlich da, wir werden abgeholt!!",zischte er hektisch und schüttelte ihn fester, bis er endlich verschlafen brummte und unwillig die Augen öffnete.
„Wasnlos", murmelte er träge, was seinen Bruder ungläubig schnaufen ließ.
„Bist du taub?! Komm auf die Beine, Mann – ich sagte, wir werden abgeholt! Vater ist da!", rief er leise und mit vor Begeisterung fast überschlagender Stimme. Genau in diesem Moment fühlte er auch schon seine unvergleichlich machtvolle Präsenz, die jeden Winkel dieses verfluchten Höllennestes durchdrang und ihm eine wohlige Gänsehaut bescherte... und eine Welle entsetzter Schreie auslöste. Gottverdammt, er war noch nie so froh gewesen, das zu fühlen!!

Und endlich drang es auch zu seinem Bruder durch, der jäh die Augen aufriss und so schnell aufsprang, dass er kurz ins Taumeln kam.
„Verdammt, das wurd auch Zeit...", knurrte er hörbar erleichtert und tauschte gleichdarauf einen unheilvollen, blutdurstigen Blick mit Rakuyou, der demonstrativ die Knöchel knacken ließ.
„Dann kommen wir ihm mal entgegen und bedanken uns artig für die Gastfreundschaft, was meinst du?"
Der Hüne lachte boshaft.
„Nix lieber als das... wir dürfen nur unser Souvenir nicht vergessen!", gab er zurück, doch diese Erinnerung wäre nicht nötig gewesen, denn just in diesem Moment wurde ihre Zeltplane aufgerissen und Fossa schoss nach drinnen. Er lächelte ihnen grimmig zu.
„Ah, ihr habts mitbekommen. Ich schätze, das ist euer Abholservice, oder?" Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, drückte er ihnen eilig zwei seiner Hemden in die Hand. „Schnell, bastelt euch daraus einen Mund- und Nasenschutz und bindet ihn euch um! Die Wärter haben für den Fall eines Aufstands Pulverbeutel, die sie werfen – wenn ihr was davon einatmet, lähmt euch das vollständig! Also wirklich fest und lückenlos um den Kopf wickeln!", ermahnte er sie hektisch und zog sich gleich darauf selbst einen vorbereiteten Stofflappen vors Gesicht.

Rakuyou grinste ihm zu, ehe er ein großzügiges Stück Hemd abriss und es sich wie befohlen vor die Atemöffnungen band.
„Danke, Kumpel! Hast du's dir überlegt und willst vielleicht doch mitkommen?", fragte er ihn erneut und gab ihm damit die Chance, sich freiwillig für das Richtige zu entscheiden. Doch wie erwartet schüttelte der Schwarzhaarige sofortentschlossen den Kopf, obwohl in seinen Augen ein Lächeln zu sehen war.
„Ich halte nur mein Versprechen und sorg dafür, dass ihrs hier rausschafft. Aber ich weiß euer Angebot wirklich zu schätzen... es war mir eine Freude und eine Ehre, euch kennengelernt zu haben!", entgegnete er aufrichtig, weshalb sich Rakuyou ein nachsichtiges Seufzen verkneifen musste. Dieser sture Hund... na schön, dann ließ er ihnen keine Wahl. Aber zuerst mussten sie es zu Vaterschaffen! Umso besser, wenn Fossa ihnen dabei helfen wollte.
„Wie du meinst... is halt dämlich, aber das weißte vermutlich selber...", erwiderte Andre mit einem Achselzucken, was Fossa kurz auflachen ließ.
„Ich werd euch auch vermissen...", schnaubte er erheitert und wandte sich um. „Kommt endlich, die Wachen wissen sicher, dass sie euretwegen angegriffen werden und sind vermutlich schon auf dem Weg hierher!"

Mit grimmiger Entschlossenheit folgten die beiden Piraten ihrem Freund raus in die sternenklare Nacht. Hier waren die Geräusche einer heftigen Auseinandersetzung noch deutlicher zu hören. Auch andere Gefangene waren aus ihren Zelten gekommen und starrten entsetzt zu dem immer höheren und heller werdenden Flackern am Lagereingang – irgendwas brannte da anscheinend lichterloh und breitete sich schnell aus.
„Oooh, der Anblick gefällt mir!", feixte Andre und lief mit den anderen beiden los. Doch kaum hatten sie ein paar Schritte Richtung Tor gemacht, tauchten auch schon sechs Soldaten direkt vor ihnen auf. Fossa hatte recht behalten.
„Wohin denn so eilig, ihr elenden Würmer? Ihr bleibt schön hier...", schnarrte der Vorderste und zog sein Schwert, während ein anderer hinter ihm etwas auf den Boden warf, das in einer gewaltigen Staubwolke explodierte.

„Hey, ihr habt da was verloren", bemerkte Rakuyou sarkastisch und schossungehindert nach vorn. Zu spät bemerkten die Soldaten ihre verhüllten Gesichter, da krachte die Faust des Blonden schon mit brutaler Wucht mitten ins Gesicht des Ersten. Es knackte befriedigend laut, bevor er rücklings umkippte. Hektisch fasste er sich mit einer Hand an die stark blutende Nase und riss mit der anderen seinen Krummsäbel schützend vor sich, während er versuchte, sich wiederaufzurichten. Doch der Pirat war schneller. Mit einem gezielten, wuchtigen Tritt beförderte er den Griff der Waffe erneut in das bereits lädierte Gesicht des Aufsehers. Einen Herzschlag später hatte er ihm die Klinge aus denkraftlosen Fingern entwunden und stieß sie in den Bauch eines zweiten, der herangestürmt kam und nun mit einem gepeinigten Ächzen in die Knie ging. Ein Stück neben ihm hielt Andre gleich zwei Männer am Hals in seinen mächtigen Pranken gepackt und quetschte ihnen mit boshafter Befriedigung auf den Lippen die Luft ab, während Fossa mit geradezu animalischer Wildheit auf einen weiteren Aufseher einprügelte. Neben ihm lag der letzte bereits leblos auf dem Boden.
Rakuyou grinste böse auf sein erstes Opfer herab und hielt ihm dessen eigenen Säbel an die Kehle. Zu seiner grenzenlosen Befriedigung war es einer von denen, die ihm ganz am Anfang gleich mehrere schmerzhafte Verletzungen zugefügt hatten, weil er sich gegen sie gewehrt hatte... und der Typ, der ihm erst gestern diese Beleidigung aus dem Schatten seiner Palme zugerufen hatte.

„So schnell wendet sich das Blatt, hm?", raunte er ihm süffisant zu. Er war eigentlich kein grausamer Mann, aber in diesem Fall tat ihm der wütende, ohnmächtige Blick aus den Augen dieses Mistkerls wirklich gut. „Unser Kumpel hier hat uns was Interessantes erzählt. Wenn ich dir jetzt den Kopf abschneide und ihn ganz weit wegwerfe...sagen wir zum Beispiel ins Meer... muss deine arme Seele in deinem vor sich hin verwesenden Körper bleiben und kann gar nichts zu euren widerlichen, sadistischen Gottheiten aufsteigen. Hab ich das richtig verstanden?" Sein Lächeln wurde breiter, je entsetzter der Blick des Aufsehers wurde. „Also ja? Oh, weißt du...ich glaube, das gefällt mir. So ein erbarmungsloses Arschloch wie du hat nichts Besseres verdient. Wer andere wie Dreck behandeln, sieht zu, wie er selbst zu Dreck wird... ist doch passend, oder?"
„W-w-warte... d-du...", stieß der Kerl hervor, doch Rakuyou hatte kein Interesse daran, seine letzten Worte zu hören. Mit einem Knurren stieß er den Säbel nachunten und brachte erst ihn, dann den schwerverletzten Kerl neben ihm für immer zum Schweigen. Und weil er kein Mann leerer Worte war, packte er die beiden abgetrennten Köpfe und warf sie schwungvoll über den Eisenzaun in die dunklen Wellen der See. Irgendwelches Getier würde sich schon über dieses Festmahlfreuen.

Mit angewidertem Blick richtete er sich auf und sah zu den anderen beiden – ehe er mit einem leisen Fluchen Fossa bei den Schultern packte und ihn von seinem letzten Opfer wegzog, auf das er noch immer wie besessen einschlug.
„Woha... ganz ruhig, der ist mehr als tot, Kumpel. Tief durchatmen!", redete er dem schwer atmenden Mann beruhigend zu und musterte ihn besorgt. Er ahnte allerdings, was in ihm vorging: das hier war vermutlich das allererste Mal, dass er sich aktiv gegen diese Typen zur Wehr setzte... und damit allgemein gegen das Regime. Und bei allem, was sich da im Laufe der Jahre in ihm an Wut, Abscheu und Hass aufgestaut hatte, war es wohl kein Wunder, dass er nun regelrecht explodiert war und die Hirnmasse seiner Peiniger im Sand verteilte.
Viel Zeit zum Sorgen machen oder durchatmen hatten sie aber nicht, denn schon tauchte der nächste Trupp Wächter auf. Als sie die verstümmelten Leichen ihrer Kameraden sahen, hielten sie abrupt inne. Hasserfüllte Blicke trafen nun vor allem Fossa, auf dessen Schulter noch immer die Hände des Feindes langen. Fluchend und drohend hoben sie ihre Schwerter.

„Elender Verräter... die Götter werden deine schwarze Seele bis in alle Ewigkeiten mit Verdammnis strafen!", spie ihm einer davon entgegen. Der Angesprochene, der grade noch regelrecht fasziniert seine blutige Faustbetrachtet hatte, sah langsam wieder zu ihnen auf – und brach in schallendes Gelächter aus. Es war höhnisch, bitter und eiskalt. In seinen Augen lag noch immer dieses manische Glühen.
„Verdammnis, ja? HA! Ich bin doch schon längst verdammt... diese ganze kranke Scheiße hier, bei euch verblendeten Maden angefangen bis rauf zu diesem widerlichen, selbstherrlichen, schwanzgesteuerten Bastard von Sultan und seinem Haufen machtgeiler, verlogener Geistlicher: IHR SEID DIE SCHLIMMSTE ART DERVERDAMMNIS, DIE MICH ODER DIESES LAND JE HÄTTE HEIMSUCHEN KÖNNEN!!", brüllte er ihnen mit einer so inbrünstigen Wut entgegen, dass sie fast greifbar war. Es hätte kaum deutlicher sein können, dass diese Worte wie auch die Schläge zuvor tief in seinem Inneren schon sehr lange darauf gewartet hatten, endlich ausgelebt zu werden. Nicht nur an seiner befreit klingenden Stimme, an seiner ganzen Haltung konnte man sehen, wie sehr er es genoss, den entsetzten Soldaten seinen ganzen Zorn und seinen geballten Hass vor die Füße zu kotzen.

Die beiden Piraten weideten sich an den fassungslosen, vor Schreck über so viel Lasterhaftigkeit regelrecht erstarrten Wärtern. Er sprach ihnen eindeutig aus dem Herzen... und sie wussten, wie wichtig es war, dass Fossa all das endlich loswerden konnte. Es dauerte jedoch nicht lang, bis das Entsetzen seiner Landesmänner in blinde Wut umschlug.
„WIE KANNST DU ES WAGEN! STIRB MIT DEM REST DIESES VERDORBENEN PACKS, DU ELENDERKETZER!", schrien sie völlig außer sich und stürzten sich auf die drei Gefangenen. Rakuyou und Andre packten kampfbereit die erbeuteten Waffen ihrer Feinde, um sich gegen die Schwerter zu verteidigen, während Fossa lediglich vorfreudig die Fäuste hob – solange er noch ein paar dieser Dreckssäcke mitnehmen konnte und seinen Freunden die Flucht ermöglichen konnte, scherte er sich nicht um sein eigenes Leben; im Gegenteil, das schien ihm ein guter Tod zu sein. Endlich bekam er ein klein wenig Rache für seine Schwester und ihren Jungen, und obendrein hatte das Sterben auch noch einen ehrbaren Sinn. Rakuyou erriet seine Gedanken jedoch und hechtete schützend vor ihn...

...doch die Soldaten erreichten sie gar nicht.
Kurz vor den Gefangenen wurden die Männer allesamt plötzlich von einer Art Seil in die Kniekehlen getroffen, sodass sie durch den unerwarteten Stoß ins Straucheln gerieten und im Sand landeten. Zugleich tauchten drei dunkle Gestalten hinter ihnen auf.
„Das sehen wir aber anders", brummte eine vertraute Stimme, während der kleinste, schlankste der Schatten auf dem Rücken eines Soldaten landete. Eine lange, dünne Klinge blitzte im Mondlicht auf, ehe sie erbarmungslos herabgestoßen wurde und den erstickten Aufschrei jäh abwürgte.
„Hände – weg – von – meinen – Brüdern!", fauchte die eisige Stimme einer Frau und stieß bei jedem einzelnen Wort ihr Schwert in einen Körper. Zwei weitere wurden gleichzeitig von dem größten Angreifer mit Schwertern niedergestreckt, während der Letzte es immerhin auf die Knie schaffte – ehe er von einer Lanze durchbohrt wurde.
„Atomos! Whitey! Epoida! Gott, bin ich froh, euch zu sehen!", rief Rakuyou zutiefst erleichtert und schloss seine Geschwister zusammen mit Andre geradezu übermütig in die Arme.
„Jaja... wir uns auch... aber... puuh, geht bitte weg von mir, ihr stinkt ja grässlich!", empörte sich Whitey und flüchtete sich neben Fossa, der ebenso erschrocken wie überrumpelt vor ihr zurückwich und sie fassungslos anstarrte. Noch nie hatte er gesehen, wie eine Frau jemanden so kaltblütig ermordete! Oder so derb sprach. Oder... in so knappen Sachen unterwegs war...? Hektisch riss er den Kopfherum und hoffte, dass man in dem spärlichen Licht seine glühend roten Ohren nicht sehen konnte. Leider umsonst.

Die Piratin musterte ihn interessiert und grinste dann breit, während sie demonstrativ ihren kurzen, blauen Rock glattstrich.
„Ooooh... noch so ein schüchternes Kerlchen, hm? Nur diesmal in groß und nicht ganz so schnuckelig wie mein niedlicher kleiner Liebling. Wer ist das, euer neuer Freund?", säuselte sie unbekümmert, was Fossa sichtlich in noch größere Verlegenheit stützte. Hilfesuchend sah er zu Rakuyou, der sich nur mühsam das Lachen verbeißen konnte.
„Jep, das ist Fossa... er hat uns hier drin den Arsch gerettet. Fossa, das ist unsere spitzzüngige Schwester Whitey Bay. Aber sag mal... hab ich mich da grad verhört oder hast DU allen Ernstes Worte wie ‚niedlich' und ‚schnuckelig' in den Mund genommen?! Was zum Teufel ist bloß alles passiert, als wir weg waren? Hat sie ganz fürchterlich was auf den Kopf bekommen?", wollte er ungläubig wissen, was Epoida kichern ließ.

„Och, einiges ist passiert, Bruderherz. Ob du es glaubst oder nicht: unsere Eishexe hat sich verliebt – ohne äußerliche Gewalteinwirkung!", grinste er, woraufhin die beiden Ex-Gefangenen die Kinnladen runterfielen.
„NEEEE! Das gibt's ja nich... dieser Eisklotz kann sowas wie Liebe empfinden?", stieß Andre fassungslos hervor, während Atomos ihm sein Schwert in die Hand drückte und danach auch Rakuyous geliebten Morgenstern seinem Besitzerzurückgab. Dankend nahmen die beiden ihre Waffen entgegen und fühlten sich gleich viel wohler damit. Ungerührt von dem Gerede trat Whitey mit gerümpfter Nase wieder zu ihnen, zog einen Dietrich aus ihrem federgeschmückten Hut hervor und erlöste sie endlich auch von ihren Fesseln.
„Stellt euch vor, ich kann! Aber heben wir uns die Geschichten lieber fürs Schiff auf. Na los jetzt, wenn ihr in Sicherheit seid, kann Vater sich endlich so richtig austoben!", würgte sie die geschwisterliche Neckerei ab, was wieder für den nötigen Ernst sorgte.
„Was ist mit Marco? Geht es ihm gut? Ist er in Sicherheit?", stellte Rakuyou nur noch die eine, drängendste Frage, die ihnen schon die ganze Zeit so auf der Seele gelegen hatte - und atmete gleich darauf gemeinsam mit Andre auf, als ihre Geschwister lächelten.

„Klar, der hats schon vor 'n paar Tagen wieder aufs Schiff geschafft und wartet da schon putzmunter auf euch", beruhigte Atomos die beiden. Eine Aussage, die auch Fossa erleichterte. Er freute sich sehr für seine beiden Freunde.
„Dann solltet ihr euch jetzt auch beeilen und endlich heimkehren! Auf geht's, ein paar Köpfe können wir sicherlich noch rollen lassen", brummte er gehässig und schnappte sich nun doch das Schwert eines der getöteten Soldaten. Andre grinste und schloss sich ihm an, ehe sie gemeinsam Richtung Ausgang liefen, wo der Kampf noch heftig tobte.
„Eigentlich wollten wir die meisten im Schlaf töten, bevor Alarm gegeben wird...aber ich glaub Dew ist über irgendwas gestolpert und hat sie damit rechtschnell aufgeweckt", seufzte Whitey und rollte quasi hörbar mit den Augen. Andre gluckste.
„Naja, kann man ihm nich verübeln, wir sin' ja schließlich keine Meuchelmörder, oder?"
„...und wir beschweren uns ganz sicher nicht, wir freuen uns schon seit Wochendrauf, uns für die Nettigkeiten erkenntlich zu zeigen", stimmte Rakuyou mit einem boshaften Glitzern in den Augen zu, ehe er zur Seite ausbrach und einem auf sie zulaufenden Aufseher mit seinem Morgenstern den Schädel einschlug.„Jaaaah... verdammte Scheiße, das fühlt sich gut an!"

Epoida spuckte indes einem anderen gezielt einen Faden ins Gesicht, ehe er ihn mit seiner Lanze tötete und seinem Bruder mit grimmigem Verständnis zuzwinkerte.
„Ich gönns euch von Herzen! So wie ihr aussehet... und was unser Nesthäkchen alles erzählt und durchgemacht hat... haben diese Hunde wirklich alles verdient!", antwortete er und fachte die Wut seiner Brüder damit nur noch an. Fossa hatte also leider recht gehabt und auch Marco war in so einem Lager gelandet... sie konnten problemlos erahnen, was ihm dort angetan worden war. Zeit, die Zeche zu bezahlen!
Mit neuer, finsterer Entschlossenheit schlugen sich die sechs gemeinsam einen Weg durch das überall herrschende Chaos aus Soldaten und kopflos herumlaufenden Gefangenen. Rauch und glühende Funken stoben von mehreren lichterloh brennenden Zelten auf und der Wind trug sie ins Lager, wo sich nach und nach auch die Zelte der Gefangenen entzündeten.
Als sie endlich den Eingang erreichten, stieß Rakuyou einen Freudenschrei aus.
„VATER!! VATER HIER SIND WIR!", brüllte er enthusiastisch – und erntete vielfach triumphierendes Jubeln. Er und Andre rannten zusammen mit den anderen nach vorn... nur Fossa blieb wie erstarrt stehen und sah mit weit aufgerissenen Augen auf das sich ihm bietende Bild.

Die großen Zelte der Aufseher und Soldaten standen allesamt in Flammen.
Es roch intensiv nach But, reglose Gestalten lagen überall verstreut auf dem Boden und mehrere Gruppen Aufseher und Soldaten hatten sich über den Strand verteilt, wo sie sich verzweifelt gegen die Angreifer zu wehren versuchten. Vergeblich, denn einer nach dem anderen wurde niedergestreckt und stand nicht wieder auf. Und vor all dem Tod und der Zerstörung erhob sich eine wahrhaft eindrucksvolle Gestalt.
Es war ein Mann, aber um ein Vielfaches größer als jeder, den Fossa je gesehen hatte. Sein langes, sonnenfarbenes Haar glänzte im Feuerschein, er besaß einen großen, weißen, mondsichelförmigen Bart und schwang eine gigantische Stangenwaffe. Dieser Riese strahlte eine tatsächlich physisch spürbare Macht aus, die ihn beinahe in die Knie gehen ließ vor Ehrfurcht.
Fossa schluckte, unfähig, sich von diesem fast schon mythischen Bildloszureißen. Wenn es tatsächlich Götter gab... dann war das hier einer davon. Ein Kriegsgott, wie man ihn in Liedern und Legenden beschreiben würde. Und diesen gewaltigen Mann nannten die Piraten VATER??
Bei Rakuyous Ruf wandte er sich ihm zu und lachte laut und kampflustig auf, während er grüßend seine mächtige Waffe in den Himmel streckte.

„GUARHARHAR! Na endlich - willkommen zurück, Kinder! Verdammt schön, euch endlich wiederzuhaben!", donnerte er mit einem breiten, grimmigen Grinsen, ehe er seine Klinge in einem tödlichen Halbkreis nach unten schwang und sieben Angreifer zugleich schreiend gegen eine Felswand schmetterte. „Dann wollen wir das hier mal beenden! Lasst euch das eine Lehre sein, ihr verdammten Bengel: niemand vergreift sich ungestraft an meinen Kindern!"
Wie auf Zuruf wichen die Piraten plötzlich zurück und postierten sich hinter ihren Kapitän, der sich den verbliebenen, etwa fünfzig Soldaten zuwandte. Fossa erkannte den Hauptmann unter ihnen, außerdem die ranghöchsten Aufseher. Alles hervorragende Kämpfer, die er von seiner eigenen Dienstzeit her noch teilweise kannte... die sich nun jedoch mit sichtlicher Furcht in den Augen zu einem engen Verteidigungskreis zusammentaten.
Plötzlich wurde Fossa am Arm gepackt.
„Da willst du nicht im Weg stehen. Wär schade um dich, mein Lieber...", schnurrte Whitey ihm unerwartet ins Ohr und warf ihm auch noch einen Luftkuss zu, was ihm augenblicklich wieder die Hitze ins Gesicht trieb und ihn so aus dem Konzeptbrachte, dass er sich widerstandslos ebenfalls hinter den Riesen ziehen ließ. War das... außerhalb von Khadir normal, dass Frauen sich so verhielten? Was um alles in der Welt meinte sie mit ihren Worten? Wieso war er auf einmal ihr Lieber? Und... wieso lachte sie jetzt auch noch?!

Er wurde aus seiner Verwirrung gerissen, als sich auf einmal die Härchen in seinem Nacken aufstellten. Die Luft selbst schien sich auf einmal mit Energie zu füllen... und sich an der erhobenen Faust des Kapitäns zu bündeln.
Was zum...?
Was hatte er vor? Die Soldaten waren doch viel zu weit weg für einen Schlag!
Doch dann riss dieser fleischgewordene Kriegsgott seinen Arm knurrend nach vorn und die Luft vor ihm schien mit einem hellen Klirren wie Glas zu zerspringen. Nur den Bruchteil einer Sekunde später explodierte der ganze Strand – samt dem kompletten, riesigen Gebirgszug dahinter. Mit einem dröhnenden Krachen wurden Sand, Felsen, Soldaten, Zelte, Zaun und Palmen von einer gewaltigen Druckwelle erfasst und wie Spielzeug weggerissen.
Fassungslos sah Fossa mit an, wie die ganze Bergflanke in sich zusammenstürzte; und dem noch lange anhaltenden, dumpfen Poltern nach zu urteilen brachen auch die in jahrhundertelanger Zwangsarbeit erschlossenen Minentunnel einer nach dem anderen in sich zusammen. Als sich die riesige Staubwolke langsam legte und das volle Ausmaß der Zerstörung im fahlen Mondlicht sichtbar wurde, sank Fossa wirklich auf die Knie vor Ehrfurcht. Von dem Gefangenenlager war kaum noch etwas zu erkennen, nur ein kleiner Teil stand noch, wo sich die überlebenden Gefangenen verkrochen hatten. Aber der eiserne Zaun, die Loren, die Wege, das Aufseherlager... alles war weg. Die zuvor hoch aufragende Gebirgskette war vollkommen deformiert und in sich zusammengesunken, ganze Felswände hatten sich in Gerölllawinen verwandelt und alle Eingänge zu den Minen restlos verschüttet.

Wie konnte jemand solch eine Macht haben?!

„Das nennt sich Teufelskräfte. Von denen gibt es ganz verschiedene auf der Welt, aber jede ist absolut einzigartig; sie können einen zum Beispiel Tiergestalten annehmen oder Elemente kontrollieren lassen... oder sowas hier bewirken", erklang Rakuyous ruhige Stimme neben ihm, ehe er ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Er konnte erahnen, wie das hier auf jemanden wirken musste, der von diesen Dingen noch niemals etwas gesehen oder auch nur gehört hatte. Die Soldaten hier waren ganz passable Kämpfer gewesen, aber das war nichts im Vergleich zu Vater oder anderen Menschen seines Kalibers. Selbst ihn und Andre hatten sie nur bezwingen können, weil sie so in der Überzahl gewesen waren und sie wegen all der Zivilisten dort nicht richtig hatten kämpfen können. Er warf dem noch immer knienden Mann ein schiefes Grinsen zu. „Wenn du mit uns kommst, dann siehst du noch viel unglaublichere Dinge, die du dir in deinen wildesten Träumen nicht hättest vorstellen können! Also... letzte Chance, mein Freund: willst du uns nicht doch begleiten?"
Noch immer überwältigt musste Fossa mehrmals heftig blinzeln, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Dann jedoch seufzte er unbehaglich, sich der neugierigen Blicke der umstehenden Piraten bewusst, und rappelte sich langsam auf.
Verlegen rieb er sich über den Nacken und schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich hab gesagt, ich bleib h...", setzte er ruhig an – doch da traf ihn Andres Faust auch schon am Hinterkopf.

Grade noch rechtzeitig fing Rakuyou den Bewusstlosen auf und sah seinen Bruder etwas skeptisch an.
„Meinst du nicht, dass es etwas weniger brutal auch funktioniert hätte?", fragte er sarkastisch, was der Angesprochene aber mit einem unbekümmerten Grinsen und einem Achselzucken abtat.
„Bei dem Dickschädel wollt ich auf Nummer sicher gehen...", gab er sorglos zurück, packte ihren neuen Freund und warf ihn sich kurzerhand über die Schulter.
„Was ist mir entgangen?", wollte Whitebeard mit einem belustigten Glanz in den Augen wissen und betrachtete seine lang vermissten Kinder mit einem warmen Lächeln. Zwar sahen auch sie deutlich magerer aus als zuvor, starrten nur so vor Dreck und auf ihren Rücken hatte er blutige Striemen entdeckt, aber zu seiner Erleichterung schien es nicht allzu schlimm um sie zu stehen. Ihre Augen sprühten zumindest nur so vor ungebrochenem Kampfgeist, auch wenn man ihnen die Erschöpfung deutlich ansah.
Bei seiner Frage grinsten sie beide.
„Das ist ein neuer Freund von uns, Fossa. Er hat uns hier ziemlich den Arsch gerettet und war der Einzige in diesem verdammten Loch, der uns nicht wie Ungeziefer behandelt hat. Er ist 'n wirklich guter Kerl, dem das Leben aber echt übel mitgespielt hat... darum wollte er hier in diesem Drecksloch einfach nur sein restliches Dasein absitzen und aufs Sterben warten. Fanden wir nicht gut, darum haben wir beschlossen, seinem Wollen ein wenig auf die Sprünge zu helfen", erklärte der Blonde verschmitzt und sah zu seinem Vater hoch. Doch dann wurde er ernster. „Ich will ihn nicht hier sterben lassen. Er hat gesagt, er wäre nichts als ein Mann mit leeren Händen...mit deiner Erlaubnis würde ich gern versuchen, sie wieder zu füllen!"

„...und ihn nach den Sternen greifen lassen, was?", schmunzelte Whitebeard und legte seinem Sohn sichtlich stolz die Hand auf die Schulter. Er erinnerte sich ganz genau daran, von ihm ziemlich genau dieselben Worte gehört zu haben, bevor er ihn doch davon überzeugen konnte, sich ihm anzuschließen. Es machte ihn unheimlich stolz, dass er nun einem anderen helfen wollte, der offenbar in einer ähnlichen Lage war wie er selbst früher. „Na schön, dann packt ihn ein. Vielleicht kannst du ihn ja davon überzeugen, dem Leben noch eine Chance zu geben. Hier sollte wirklich niemand sterben müssen... und wir haben sowieso schon einen Reisegast, da macht einer mehr oder weniger keinen Unterschied mehr!"
„Ahja? Da is schon jemand an Bord?", hakte Andre interessiert nach, was Whitey mit einem Kichern quittierte.
„Mein neuer kleiner Liebling natürlich. Unser Küken hatte auch Glück im Unglück und hat während seiner Gefangenschaft einen Freund gefunden, den er uns mitgebracht hat... ein ganz zurückhaltendes, schüchternes, bezauberndes Kerlchen!"
„...ein Kerlchen, das panische Angst vor ihr hat und vor Schreck sogar aufhört zu atmen, wenn sie ihn umarmt", fügte Vista halb belustigt, halb vorwurfsvoll hinzu, was Andre und Rakuyou erheitert losprusten ließ. Gott, es tat so verdammt gut, wieder von seiner Familie umgeben zu sein! Dieses Hochgefühl drängte sogar Schmerzen und Müdigkeit vorerst zurück und die beiden genossen es von Herzen.

„Oh weia... aber nur für mich zum Verständnis: ist unser Schwesterherz jetzt hinter ihm her, weil sie ihn quälen WILL, oder ist sie hinter ihm her, OBWOHL es ihn quält?", grinste der Blonde.
„So oder so, der arme Kleine hat auf jeden Fall ziemlich aufs Brett geschissen...", fügte Andre feixend hinzu, was die anderen erneut zum Lachen brachte.
„Bedauerlicherweise ist er Junge wohl tatsächlich das erste Wesen, das unsere Eishexe süß findet...er kann also nicht mal drauf hoffen, dass es ihr irgendwann langweilig wird, ihn zu quälen!", antwortete Dew mit gespieltem Bedauern in der Stimme und jaulte gleich darauf gepeinigt auf, als ziemlich harte Absätze auf seinen Fuß traten. Whitey warf erhaben ihr eisblaues Haar zurück und lächelte unbekümmert.
„Ach was, wir freunden uns schon noch an... das kriegen wir schon hin!", erwiderte sie zuversichtlich, was nicht nur Epoida einen eher skeptischen Lautentlockte. Doch ehe sie weitersticheln konnten, mischte sich Ragnar entschieden ein.
„Das reicht jetzt, verschiebt das aufs Schiff! Jetzt müssen wir erst mal hier weg", befahl er und wandte sich an Whitebeard. „Sollen wir deren Flachboot nehmen und unseres hinten dranhängen? Damit kommen wir schneller und leichter durch die Stromschnellen. Und was ist mit den anderen Gefangenen hier? Sollen wir sie nicht auch von hier wegbringen?"

Doch bei seiner letzten Frage schüttelten sowohl Andre als auch Rakuyou energisch den Kopf.
„Die Mühe kannste dir sparen... des sind alles Einheimische und streng gläubig. Für die sind wir das personifizierte Böse. Keiner von denen hat je mit uns geredet, geschweige denn angefasst... höchstens angespuckt. Fossa war der Einzige, der nicht an den Götterwahnsinn hier geglaubt hat und freundlich zu uns war", brummte der Schwarzhaarige Hüne und warf einen angewiderten Blick in die Richtung, wo sich die Überlebenden panisch versteckt hielten. Whitebeard schnaubte.
„Soll mir recht sein, dann sollen sie doch ihre Götter um Hilfe anflehen, wenn sie glauben, die hören ihnen zu. Kinder, wir gehen! Wie Ragnar vorgeschlagen hat, nehmen wir für den Rückweg das Flachboot und nehmen unseres in Schlepp", befahl er laut, schulterte sein Bisento und ging als Schlusslicht hinter seinen endlich wieder vollzählig anwesenden Kindern her.
Er war wirklich verdammt froh, dass alles so glimpflich abgelaufen war... und noch viel glücklicher würde er sein, wenn er dieses Höllenloch endlich hinter sich gelassen hatte. Nur für Marco tat es ihm leid, denn damit hatte sich die einzige Spur, die er zu den Mördern seiner leiblichen Familie hatte, als Fehlschlag entpuppt. Höchstwahrscheinlich würde er also niemals erfahren, warum sie alle – und eigentlich ja auch er selbst – sterben sollten. Der Riese seufzte leise; er hätte ihm wirklich gern geholfen, die Antwort darauf zu finden, damit der Junge besser damit abschließen konnte. Unwissenheit war nämlich oft das Schlimmste an solchen Tragödien.
Nun ja, er würde darüber mit ihm reden.

Und zum Glück hatte er ja Charlie, der ihn davon ablenken würde... auch wenn Whitebeard befürchtete, dass auch Charlie noch zu einem großen Problem werden würde. Nämlich dann, wenn er das Schiff wieder verlassen musste. Es war schwer zu übersehen, wie sehr Marco jetzt schon an dem Jungen hing... und die Zeit, die sie in den kommenden Wochen auf See miteinander verbringen würden, würde das garantiert nicht besser machen. Doch daran konnte er nichts ändern. Er hatte schließlich ein Versprechen gegeben und das würde er auch halten! Das schuldete er Charlie auch, weil er seinen Sohn gerettet hatte... mehrfach sogar, indem er Marco ohne zu zögern seine Teufelsfrucht geschenkt hatte, die ihn nicht nur von seinen akuten Verletzungen vollständig geheilt hatte, sondern laut Paolo offenbar auch den allgemeinen Gesundheitszustand seines Sohnes in absolute Bestform gebracht hatte. Gut möglich, dass er sogar nie wieder krank sein würde! Und allein damit hatte Charlie sich auch seine ehrliche Anerkennung und Dankbarkeit verdient.

Angestrengt rieb Whitebeard sich über die Schläfe.
Nein, er brauchte sich keine Illusionen zu machen: wenn die Zeit des Abschieds gekommen war, würde es hart werden für die Kinder. Sehr hart. Es tat ihm ja selber leid, weil Charlie ein wirklich aufrichtiger, gutherziger Bursche war und er den beiden ihre Freundschaft gern gönnen würde... aber Fakt blieb:
Einen Blinden konnte er an Bord leider nicht gebrauchen.
Das wäre eine Schwachstelle, die ein hohes Risiko für alle anderen darstellen konnte, und das wollte er nicht verantworten.

Er konnte nur hoffen, dass Marco das verstehen würde.




Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt