Hallo meine Lieben!
Zuerst einmal vielen lieben Dank für eure unglaublich tollen Feedbacks und auch für das neue Sternchen - jetzt haben wir schon volle 40 erreicht! Ich freu mich wahnsinnig über so viele Leser, vor allem in Anbetracht dessen, dass diese Geschichte ja doch eine eher speziellere Fanfiction ist. ^.^' Also bin ich wirklich froh, dass ich doch so viele Leser*innen gewinnen konnte!! Vielen Dank für all euren Support, ihr motiviert mich immer wieder ungemein und macht mich unheimlich fröhlich.
Und grade das hab ich in den vergangenen Wochen auch wirklich dringend gebraucht. Eigentlich hatte ich gehofft, diese Sache seit Jahren hinter mir zu haben, aber Depressionen sind hinterhältig, haben tausend verschiedene Gesichter (sind also immer anders) und knüppeln einen auch gern mal völlig unvorhergesehen nieder... und jetzt bin ich wieder in Behandlung. Frustrierend, aber offenbar leider notwendig. Warum ich euch das erzähle? Weil ich glaube, dass es nach wie vor wichtig ist, öffentlich drüber zu reden... weil man, selbst wenn man es vorher schon mal hatte, die Warnzeichen oft übersieht oder nicht ernst genug nimmt. Und weil es keine Schande oder ein Zeichen von Schwäche ist, sich Hilfe zu holen; im Gegenteil: es braucht meist viel Mut, das vor sich selbst und vor anderen zuzugeben. Also redet darüber... mit Freunden, Familie oder Anonym mit anderen im Internet, oder direkt mit entsprechenden Anlaufstellen.
In diesem Zuge möchte ich Mimabi, Sherrylock und auch Silberwölfchen von ganzem Herzen danken, die mir jede auf ihre Weise geholfen haben, das Schlimmste erst mal zu überstehen, sei es durch Gespräche, Zuspruch, Verständnis und/oder schöner Ablenkung rund um meine Geschichten. Wenn ich euch nicht gehabt hätte... <33
So, jetzt aber genug davon. Ich bin optimistisch, dass es nun wieder bergauf geht, also denken wir positiv und widmen uns den schönen Dingen im Leben! Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Lesen und einen guten Start in die Vorweihnachtszeit... vollgepackt mit hoffentlich ganz viel Entspannung und Ruhe! Pffft... Vorweihnachtszeit und Ruhe... muahahaha... xDD Okay, Korrektur: ich wünsche euch viel Kraft und Nerven für den üblichen Weihnachtswahnsinn! Wir lesen uns pünktlich im Dezember wieder... bis dann! <33
GlG
Ancarda
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„...an dem Tag hab ich dann Marco kennengelernt. Er war ihr Gefangener und sie haben ihn neben mich gesetzt. Zuerst hab ich mich nicht getraut, ihm zu helfen, weil von einem Krüppel ja niemand Hilfe haben will, aber... dann haben die Typen erwähnt, dass er gar nicht von hier kommt und ich habs doch riskiert. Zum Glück, er war nämlich wirklich froh darüber und hat sich sogar bedankt! Ich hab ihm heimlich gezeigt, wie er die Steine einfacher zerteilen kann, und als sie ihm nichts zu trinken geben wollten, hab ich mein Brot in meiner Suppe eingeweicht, damit er überhaupt was runterbringen konnte. Und dann hab ich mich sogar nachts zu ihm geschlichen, um ihm Wasser zu bringen!", erzählte Charlie munter und streichelte Zibas flauschigen Körper, die bequem auf seinem angezogenen Knie saß und genüsslich an einem Stück Apfel knabberte. Fossa lächelte und strich seinem Neffen in einer noch unbeholfen wirkenden Geste vorsichtig über den Arm.
Die beiden saßen dicht nebeneinander auf dem Boden der Lehrlingskajüte und redeten schon seit Stunden miteinander. Als Fossa heute Vormittag in der Krankenstation aufgewacht war, hatte er zunächst panische Angst gehabt, dass seine gestrige Begegnung mit Surya - nein, Charlie! - nur ein Traum gewesen war, doch zu seiner grenzenlosen Erleichterung hatte ihn dieser freundliche Kerl namens Paolo sofort beruhigt und in die Kombüse gebracht, wo sein Neffe mit ein paar anderen bereits beim Frühstück gesessen hatte.
Und bei allen Göttern, allein beim Anblick, wie der Junge ihm entgegenGRINSTE, hatte es ihm vor lauter Freude die Kehle zusammengeschnürt! Es war Marcos Vorschlag gewesen, dass sie doch zusammen in die Lehrlingskajüte gehen könnten, um sich endlich so richtig ausführlich zu unterhalten. Ein Vorschlag, den die beiden sofort umgesetzt hatten... und sie genossen dieses friedliche, ungestörte Zusammensein wirklich von Herzen.
„Das war wirklich anständig von dir. So habt ihr euch also angefreundet? Wie habt ihrs danach geschafft zu fliehen?", hakte Fossa interessiert nach und reichte ihm eine weitere Apfelspalte, als die Spinne mit ihrer fertig war. „Und wie seid ihr auf dieses hübsche Wesen gestoßen?"
„Wir haben sie gefunden, als wir in die Berge geflohen sind. Tja, und wie genau wir fliehen konnten..." Charlie schüttelte lachend den Kopf. „...das war so verrückt, das glaubst du mir sowieso nicht!"
Verdutzt zog Fossa eine Braue hoch, konnte sich beim Anblick seines ausgelassenen Neffen aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. Herrgott, bei jedem einzelnen Lächeln oder gar Lachen von ihm machte sein Herz einen Hüpfer! Wie oft hatte er sich damals gewünscht, den Jungen genau SO zu erleben? Wie ein ganz normales, glückliches Kind?
„Ahja? Dann versuchs mal, ich bin gespannt!", forderte er ihn belustigt auf und legte ihm eine Hand auf die schmale, aber kräftige Schulter. Der Junge lehnte sofort behaglich dagegen, was ihn nun wirklich breit lächeln ließ - noch immer genauso anhänglich wie früher! Er hatte sich sehr verändert, aber das ein oder andere war eben doch gleich geblieben.
„Erinnerst du dich noch an das Andenken, das ich von Maman hatte? Diese Frucht aus der königlichen Schatzkammer, die angeblich vom Baum des Sonnengottes stammt und die sie so mochte?", wollte Charlie vergnügt wissen und neckte Ziba ein wenig, indem er das nächste Stück Apfel in seiner leicht geschlossenen Faust festhielt. Die Spinne klackerte empört mir den Zangen und versuchte erfolglos, das begehrte Futter mit den Beinchen herauszufummeln, bis sie ihn vorwurfsvoll in den Handballen kniff. Kichernd gab er die Beute frei, die augenblicklich in Besitz genommen wurde. Diesmal wanderte Ziba jedoch sicherheitshalber zum Fressen auf seinen Kopf, wo sie sich in seinen langen Locken vergrub.
Fossa gluckste bei diesem Anblick.
„Endlich hast du ein Haustier gefunden, was? Du wolltest immer eins haben...", erinnerte er sich lächelnd, ehe er neugierig zum eigentlichen Thema zurückkehrte. „Aber ja, natürlich erinnere ich mich an das alte Ding. Deine Mutter mochte die Geschichten... aber was hat das mit deiner Flucht zu tun?"
Charlie schnaufte leise.
„Die Geschichten waren mehr oder weniger wahr. Weißt du, einige Tage nach Marcos Ankunft hat er die Aufseher verärgert und sie haben ihn zusammengeschlagen. Und ich... konnte ihm nicht helfen. Sie haben ihn weggebracht, er war bewusstlos. Das war so schrecklich, Onkel Fossa! Ich konnte mich erst wieder am Abend zu ihm schleichen. Davor hab ich für ihn Medizin gekauft und ich hatte Essen und Wasser dabei, aber... er war richtig schlimm verletzt", begann er stockend zu berichten und erschauderte dabei unwillkürlich - von den Geräuschen und dem schrecklichen Geruch nach Blut hatte er noch immer Albträume. Sein Onkel verzog bitter das Gesicht und verstärkte den Druck um seine Schulter beschützend.
‚Elende Bastarde... immer auf Schwächere losgehen, das habt ihr schon immer gekonnt', dachte er wütend und knirschte leise mit den Zähnen.
„Kann ich mir vorstellen... armer Kerl. Aber irgendwie scheinst du ihm ja doch geholfen zu haben, oder?", hakte er behutsam nach und spürte sein Nicken.
„Ja. Mit Mamans Frucht. Früher war sie doch aus Stein, aber nach dem Feuer... hat sie sich plötzlich anders angefühlt. Weicher. Als wäre sie auf einmal echt geworden, so seltsam das auch klingt. Aber ich hab nie ausprobiert, ob man sie wirklich essen kann, sie war doch alles, was ich von Maman hatte. Aber als es Marco so schlecht ging... oh man, Onkel Fossa... ich hatte solche Angst, dass er stirbt! Das... das hätte ich nicht ertragen, weil ich ihn doch wirklich gern hab. Er war der erste Mensch seit langem, der freundlich zu mir war... er hat mich zum Lachen gebracht, sogar in diesem furchtbaren Lager! Er hat richtig mit mir gespielt... und sich mit mir gerauft... und mir tolle Geschichten erzählt. Und er hat mir versprochen, dass er mit mir zusammen flieht - dass er mir zeigt, wie man richtig lebt und dass er mich glücklich machen will! Ich musste einfach alles versuchen, damit es ihm wieder besser geht... und das Einzige, das ich noch hatte, war Mamans Andenken. Und du wirst es nicht glauben: die Geschichten, die Maman immer so gern angehört hat, waren wahr! Mehr oder weniger jedenfalls. Aber ich hab das Ding aufgeschnitten und es Marco zu essen gegeben. Und auf einmal sind hellblaue Flammen aus seinem Körper gekommen!! Ich hab das Licht sogar durch die Binde hindurch gesehen und sie auch auf meiner Haut gespürt... sie fühlen sich angenehm warm an und sie verursachen ein Prickeln im ganzen Körper. Eine Minute später waren sie verschwunden... und Marco war plötzlich wieder ganz gesund!", erzählte er lächelnd mit hörbarer Erleichterung und grenzenloser Dankbarkeit in der Stimme. „Ich war so froh... Marco hat mir dann erklärt, dass es noch mehr von solchem mystischen Obst gibt. Sie heißen Teufelsfrüchte und verleihen demjenigen, der ein Stück davon isst, sowas wie magische Kräfte... und alle sind ganz verschieden! Sein Vater hat auch von so einer Frucht gegessen, und einer seiner Brüder auch. Marco hat erzählt, dass Epoida sich in eine riesige Raupe verwandeln und Fäden mit seinem Mund verschießen kann! Ist das nicht der Wahnsinn?"
Fossa blinzelte verblüfft. Er erinnerte sich tatsächlich gut an dieses seltsame Stück Obst aus Stein, das Anuya so fasziniert hatte... ständig hatte sie es mit sich herumgeschleppt und es für ihren Glücksbringer gehalten. Und dieses unscheinbare Ding war tatsächlich etwas Magisches gewesen? Das hätte er wirklich nie für möglich gehalten... aber es deckte sich mit dem, was Rakuyou ihm erzählt hatte, kurz bevor Andre ihn bewusstlos geschlagen hatte.
Teufelskräfte...
Uff. Und sowas gab es tatsächlich noch öfter auf der Welt? Solche mächtigen Kräfte? Wie sollte ein normaler Mensch da bloß mithalten? Ein wenig überfordert strich er sich durch sein schwarzes Haar und runzelte besorgt die Stirn. Die Welt da draußen war eindeutig ebenfalls gefährlich... er würde die Zeit hier an Bord so gut wie möglich nutzen, um von Rakuyou und den anderen alles zu lernen, damit er auch wirklich zurechtkommen und vor allem den Jungen beschützen konnte. Ihm schwante jedoch, dass das gar nicht so leicht sein würde... alles war so vollkommen anders als in Khadir.
Mit etwas Mühe unterdrückte er ein sorgenvolles Seufzen und lehnte seinen Kopf nach hinten gegen die Wand.
„Das ist allerdings der Wahnsinn, und es ist natürlich ein Wunder, dass dein Freund wieder gesund geworden ist... aber wie hat euch das bei der Flucht geholfen?", nahm er den Faden wieder auf, was Charlie leise kichern ließ.
„Naja, erst haben wir gedacht, dass seine magische Kraft darin besteht, dass in seinem Körper jetzt hellblaue Flammen sind, die jede Verletzung sofort heilen. Aber da haben wir uns geirrt. Wir sind danach erst mal in die Berge geflohen, weil die Aufseher Marcos Wunderheilung nicht bemerken durften. Auf dem Weg nach oben haben wir dann übrigens auch Ziba gefunden! Ich hab ihre Musik gehört... vermutlich wurde ihr Ei von einem Sandsturm in die Berge hochgetragen, anders kann ich mir nicht erklären, wie sie da hochgekommen ist. Ohne uns wäre sie verhungert, also haben wir sie mitgenommen. Wir haben uns dann ein paar Tage lang in einer Höhle versteckt und sind immer wieder hoch zum Gipfel, damit wir aufs Meer sehen konnten... Marco hat ja auf seine Familie gewartet und war überzeugt davon, dass sie ihn holen würden. Und eines Tages waren sie dann auch wirklich zu sehen! Wir haben uns so gefreut. Aber plötzlich bin ich gestolpert und... und ich bin abgestürzt. Ich wäre ganz sicher gestorben, doch Marco ist mir hinterhergesprungen - und auf einmal haben sich seine Arme in brennende Flügel verwandelt und seine Beine in Vogelklauen! Zumindest hat er mir das erzählt, weil ich da schon bewusstlos war. Er hat mich im Fall gegriffen und ist mit mir zu seinem Schiff geflogen... kannst du dir das vorstellen? Er hat mich gerettet... und so konnten wir fliehen!", beendete er begeistert seinen Bericht... und hörte die Fassungslosigkeit seines Onkels überdeutlich in dem Darauffolgenden Schweigen.
„Du... du bist vom Berg gefallen und... er... er ist dir NACHGESPRUNGEN und hat sich... in einen brennenden VOGEL verwandelt?", widerholte er ächzend und so ungläubig, dass sein Neffe in lautes Gelächter ausbrach.
„JA! Ich habs selber nicht glauben können, aber genau so war es... und jetzt bin ich hier. Jetzt sind wir BEIDE hier und haben Khadir tatsächlich für immer verlassen! Das ist wie ein Traum, oder? Ach, Onkel Fossa... ich bin so froh, dass Marcos Brüder dich mitgenommen haben und du wieder bei mir bist!", rief er ausgelassen und legte fröhlich seine Hand auf die viel größeren Finger seines Onkels.
Der Angesprochene schnaubte, noch immer fassungslos von dem gerade Gehörten, doch er hielt ihn liebevoll fest - wenngleich auch nach wie vor ein wenig unbeholfen. Er war so viel Körperkontakt schlichtweg nicht gewohnt; in Khadir waren Frauen für die Zärtlichkeiten zuständig, während die Männer für Ordnung und Respekt sorgten und ihre Familie ernährten und beschützten. Mehr als ein Schulterklopfen oder das scherzhafte Zerzausen seines Schopfes hatte es nie zwischen ihnen gegeben, obwohl er den Kleinen immer lieb gehabt hatte... oder halt, doch! Einmal, bevor er ihn seinem Schicksal hatte überlassen müssen... da hatte er ihn umarmt. Mit der furchtbaren Gewissheit, dass es das letzte Mal war, dass er seinen Neffen leben sehen würde. Tief atmete Fossa durch, um diese düsteren Gedanken loszuwerden.
„Ich bin genauso froh, Kleiner... wirklich, wirklich froh! Jetzt sind wenigstens wir beide wieder zusammen, und diesmal reißt uns nichts mehr auseinander - das schwöre ich dir! Egal, was da draußen auf uns zukommt", versprach Fossa mit grimmiger Entschlossenheit und legte kurz die Stirn gegen seine, ehe er ihn wieder freigab und zu ihm runter sah. Das Lächeln, das ihm entgegenstrahlte, wärmte sein Herz... auch wenn es ihm einen kleinen Stich versetzte, ihm nicht in die Augen sehen zu können. Behutsam berührte er die Augenbinde, was Charlie sofort zurückschrecken ließ. Leise seufzend ließ er seine Hand wieder sinken. „Du könntest sie wieder abnehmen, weißt du? Hier verraten dich deine Augen nicht mehr... und du könntest endlich auch schöne Dinge sehen..."
Doch noch während er sprach, wusste er, dass es umsonst war. Charlie hatte abwehrend die Schultern hochgezogen und war angespannt mit deutlich blasserem Gesicht zurückgewichen.
„Nein! Ich... ich... ich hab es versprochen und... ich kann nicht. Das... ist schon okay so. Ich komm damit klar! Ich brauch meine Augen nicht. Wirklich!", versicherte er ihm hastig und knetete fahrig seine Finger.
Fossa verzog unglücklich das Gesicht, doch er drängte ihn nicht weiter. Der Junge hatte panische Angst davor, die Binde wieder abzunehmen, das war in jeder Silbe zu hören und auch an seiner Körpersprache überdeutlich zu erkennen. Aber wie könnte er ihm das verübeln? Er wusste, dass er seine Augen zutiefst verabscheute... waren sie doch schuld daran, dass er zum göttlich auserwählten Kronprinzen geworden war und all diese furchtbaren Dinge hatte durchmachen müssen. Als nur einer von vielen Söhnen des Sultans hätte er es um Welten besser gehabt... keiner hätte sich wirklich um ihn geschert. Er hätte ein unspektakuläres Leben leben können, hätte eine gute Ausbildung genossen und wenn er gewollt hätte, auch einfach ein Künstler oder Gelehrter werden können. Man hätte nicht einmal von ihm verlangt, dass er jemanden heiratete. So hätte der Junge es ganz sicher irgendwie ertragen können... aber wegen der Augen war alles anders gekommen. Alles Unglück war nur wegen ihnen geschehen; gut möglich, dass er auch weit weg von Khadir noch Angst hatte, es könne etwas Schreckliches geschehen, wenn er sie wieder zeigte.
Erneut verkniff er sich ein Seufzen und klopfte ihm gutmütig auf den Rücken. Vielleicht war es jetzt auch einfach noch zu früh dafür... sie waren ja gerade erst geflohen und nun auf dem Weg in eine völlig unklare, unberechenbare Zukunft. Sie hatten beide noch keine Ahnung davon, wie es in der restlichen Welt zuging und wo sie hoffentlich einen Platz finden würden, an dem sie ein glückliches Leben führen konnten. Und wenn ihnen das gelang... dann würde der Kleine vielleicht auch wieder genug Vertrauen in die Welt fassen, um sie doch wieder sehen zu wollen. Vielleicht half ihm sein neuer Freund ja auch dabei. So, wie er von ihm sprach, hing er wirklich an ihm.
„Schon gut, ich glaubs dir. Wir kriegen das schon hin, ob mit Augen oder ohne!", erwiderte er deshalb optimistisch, sehr zu Charlies Erleichterung.
Eine ganze Weile lang schwiegen sie einträchtig. Beide hatten sie nun von den vergangenen Jahren erzählt, hatten in Erinnerungen an die wenigen schönen Momente von früher geschwelgt und gemeinsam an Anuya gedacht. Nun waren sie wieder in der Gegenwart angekommen... einer noch sehr seltsamen Gegenwart, die sich noch reichlich fremd anfühlte.
„Was denkst du über die Leute und das Leben hier? Meinst du, wir finden uns hier zurecht?", stellte Fossa schließlich nachdenklich die Frage, die ihm am drängendsten im Kopf herumschwirrte. Charlie zuckte ratlos mit den Achseln.
„Schwer zu sagen... es ist in so vielerlei Hinsichten total gegensätzlich zu dem, was wir kennen! Eigentlich sogar fast in jeder Hinsicht, zumindest fallen mir spontan keine Gemeinsamkeiten ein. Hier an Bord reden sie zum Beispiel alle ganz anders... oder wie sie miteinander umgehen! Ich hab oft keine Ahnung, ob sie sich grade gegenseitig ärgern, sich necken, lustig sind oder richtig streiten, was sie ernst meinen und wann sie mich aufziehen... sie nehmen auf der einen Seite fast gar keine Rücksicht aufeinander oder auf andere, aber dann halten sie doch fest zusammen. Sie sind nicht höflich und halten nichts von Manieren, aber sie sind so viel freundlicher und hilfsbereiter als alles, was ich bei all der herrschenden Höflichkeit in Khadir je erlebt habe!", zählte er auf und kratzte sich ein wenig überfordert am Kopf, doch dann lächelte er. „Aber was am tollsten ist: sie machen keinen Unterschied bei den Menschen. Es ist ihnen egal, woher man kommt, welchen Status man hat oder hatte, wie man aussieht oder ob jemand ein offensichtliches Gebrechen hat! Es... ist so unglaublich, wie nett sie hier alle zu mir gewesen sind... obwohl ich blind bin, behandeln sie mich gut, schenken mir Sachen, zeigen und erklären mir alles Mögliche... als ob ich dazugehöre! Das... ist ein wirklich schönes Gefühl..."
Fossa, der schweigend zugehört hatte, musste bei diesen Worten ebenfalls unwillkürlich lächeln.
„Ja, so ähnlich hab ichs mit Rakuyou und Andre auch erlebt. Und bei meiner Ankunft hier... ist schon seltsam, wenn sich niemand um dein Ansehen oder deine Herkunft schert, nichts über dich wissen will, sondern einfach freundlich ist. Sogar ein so mächtiger Mann wie ihr Kapitän...", stimmte er zu und dachte erneut ehrfürchtig an den Anblick im Gefangenenlager. „Jemand wie er könnte sich genauso gut zu einem Gott erheben... Menschen und Inseln unterwerfen... er hat es überhaupt nicht nötig, nett zu seinen Untergebenen oder irgendwelchen Fremden zu sein - aber er ist es trotzdem. Mehr noch: er lässt sich Vater nennen... wobei selbst diese Bezeichnung hier eine ganz andere Bedeutung zu haben scheint! Wie vorhin beim Frühstück, als sie ihn damit aufgezogen haben, dass er Krümel im Bart hatte... das hätte ich mich bei meinem eigenen Vater nicht getraut. Obwohl ich bisher dachte, dass dein Großvater zu den tolerantesten Menschen auf Khadir gehört hat, hatten wir doch nie so ein enges oder... herzliches Verhältnis zueinander, wie sie das hier zu haben scheinen. Väter sind Autoritätspersonen, man hat ihnen Respekt zu zollen und ihnen zu gehorchen, so hat man uns das beigebracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je einen Scherz mit mir gemacht hat..."
Interessiert hörte Charlie zu; von seinen Großeltern wusste er recht wenig... nur, dass sie wegen Ketzerei zum Tode verurteilt worden waren, weil sein Großvater illegaler Weise Bettelkindern essen und Obdach gegeben hatte. Aber das war lange vor seiner Geburt gewesen, er hatte sie nie kennengelernt und sowohl sein Onkel als auch seine Mutter hatten nie groß über sie gesprochen.
„Ja, Kapitän Whitebeard ist toll! Marco hat auch großen Respekt vor ihm. Aber vor allem liebt und bewundert er ihn sehr. Das kann ich ganz deutlich hören, wenn er von ihm spricht... und das hat er oft getan, als wir in den Bergen waren. Genau wie die anderen, da höre ich es auch. Ich bin mir sicher, dass sie alle einen unheimlich großen Respekt vor ihm haben, aber der hindert sie nicht daran, ihn auch mal aufzuziehen oder ihn zu ärgern oder mit ihm zu scherzen, weißt du? Das eine schließt das andere offenbar nicht aus... zumal er das glaub ich auch gar nicht mögen würde. Seine Stimme klingt so ruhig, so warm... so vollkommen zufrieden! Er mag es, wenn sie ihn ärgern, weil er sie dann zurückärgern kann - zumindest ist das mein Eindruck. Es macht ihm Spaß!", lautete seine Vermutung, ehe er grinste. „Ich glaube, das ist überhaupt das Wichtigste hier: Spaß. Ich hab Menschen noch nie so viel lachen und scherzen hören wie hier... es klingt immer so fröhlich auf dem Schiff! Und es war so schön zu hören, dass auch Frauen so richtig lachen können!"
Bei seinen letzten Worten strich Fossa sich verlegen durchs Haar, weil das die Erinnerungen an seine Begegnungen mit Whitey weckten. Sehr... überfordernde Begegnungen.
„Mh... Frauen scheinen sich hier auf jeden Fall auch ganz anders zu verhalten, als wir es kennen... zumindest diese Whitey", brummte er, was Charlies Lächeln auf den Schlag verblassen ließ. Ganz anders hielt er an dieser Stelle für eine haarsträubende Untertreibung. Mit hochgezogener Braue beobachtete Fossa das Mienenspiel seines Neffen. „Macht sie dir wirklich so viel Angst? Hat sie... dir irgendwie wehgetan oder warum hast du solche Panik vor ihr, dass du... sogar aufhörst zu atmen? Stimmt das wirklich?" Diese Sache hatte er gestern absolut nicht verstanden und machte ihm Sorgen. Gut, auch er hatte erschrocken reagiert, als er so unvermittelt von ihr umarmt worden war, aber nur, weil es unerwartet gekommen war und er so ein offensives Verhalten von Frauen nicht kannte. Im Nachhinein war es ihm peinlich... aber von einer Panikattacke konnte wirklich keine Rede sein.
„Ähm... nein, sie... sie tut mir nicht weh. Ragnar hat gesagt, dass sie mich sogar irgendwie mag, aber... auch, dass Whitey wie ein Hai ist und ich ein verletztes Tier...", stoppelte Charlie unbeholfen zusammen, was seinen Onkel jedoch nur noch mehr verwirrte.
„Hai? Verletztes Tier? Ich verstehs nicht, Junge..."
Der Angesprochene seufzte unbehaglich; selbst unschlüssig, wie er seinem Onkel das erklären sollte.
„Ich verstehs ja auch nicht richtig... weder mich selbst noch Whitey. Sie mag mich anscheinend, aber es... scheint ihr trotzdem irgendwie Spaß zu machen, mich zu erschrecken? Böse meint sie es aber laut den anderen nicht... und das glaube ich ihnen auch, sie tut ja wirklich nichts anderes, als mich plötzlich anzufassen, zu umarmen oder... mir sogar einen K-Kuss auf die Wange zu geben. Also eigentlich gar nichts Schlimmes. Aber... sobald sie das macht, kann ich mich plötzlich nicht mehr bewegen und... auch nicht mehr atmen! Ich bekomme... solche PANIK auf einmal, obwohl ich nicht mal sagen kann, wovor genau! Es ist... es ist... ich hab das Gefühl, als... als ob irgendwas Schlimmes mit ihr passiert, wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewege oder irgendwas sage oder sogar DENKE! Ich bin wie gelähmt...", erklärte er leise und schlang halb peinlich berührt, halb niedergeschlagen seine Arme um die Knie. „Ich... ich hab doch allen Frauen, denen ich bisher begegnet bin, nur Unglück gebracht... sogar meiner eigenen Mutter. Alle, die mir zu nahegekommen sind, mussten in irgendeiner Form leiden... ich... ich bin einfach nicht gut für Frauen. Ich will niemandem mehr Unglück bringen, verstehst du?"
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, war Fossa auch schon auf den Beinen, packte ihn unvermittelt am Kragen und riss den erschrockenen Jungen ebenfalls auf die Füße. In ihm tobte plötzlich eine Wut, die ihn selbst überraschte, als er sich nach vorn neigte und Charlies Gesicht ganz nah an seins zog. Am liebsten hätte er ihm die verdammte Binde auch noch runtergerissen, um ihm endlich in die Augen sehen zu können, aber zumindest soweit reichte seine Selbstbeherrschung noch. Doch was der Junge da von sich gegeben hatte, traf ihn an einer ganz, GANZ wunden Stelle.
„Was zum Henker redest du da, Junge?!", knurrte er ihn an und schüttelte ihn sogar leicht. „Das ist Blödsinn, was du da redest... verdammt großer Blödsinn! Du bringst niemandem Unglück und hast es auch nie getan - weder irgendwelchen Frauen noch sonst wem - und schon gar nicht deiner Mutter, hörst du?! Das war alles dein verdammter Erzeuger! Dieser Dreckskerl war es doch, der uns alle ins Unglück gestürzt hat! Er hat deine Mutter krank gemacht. Sie ist wegen IHM gestorben, nicht wegen dir! Dich hat er doch nur benutzt, um seine Macht zu festigen. Er hat dich als Sprachrohr für SEINE Befehle benutzt - nichts, was in seiner Gegenwart aus deinem Mund gekommen ist, war wirklich von dir, verstehst du das denn nicht, du Dummkopf? Die verhängten Strafen, die Urteile, die Eheschließungen... das alles warst nicht du, sondern ER! Schreib dir das ein für alle Mal hinter die Ohren, denn wenn ich nochmal so einen Mist von dir höre, werd ich dich übers Knie legen und ihn dir anderweitig austreiben, hast du mich verstanden?!"
Hektisch und mit vor Schreck blassem Gesicht nickte Charlie, so gut es mit der Hand an seinem Hemdkragen möglich war. Noch nie hatte er seinen Onkel so zornig erlebt, schon gar nicht ihm gegenüber! Oder dass er ihm sogar Prügel androhte...
„T-Tut mir leid, Onkel F-Fossa! Ich... ich werds nie wieder sagen! V-Versprochen!", stammelte er furchtsam - und brachte seinen Onkel damit wieder zur Besinnung. Seine Wut verschwand so schnell wie sie gekommen war und wurde durch eine erhebliche Menge schlechtem Gewissen ersetzt. Von sich selbst erschrocken ließ er ihn hastig wieder runter und verzog reumütig das Gesicht, als sein Neffe sofort mit eingezogenem Kopf vor ihm zurückwich. Verzeihend hob er die Hände, bis ihm einfiel, dass er das ja gar nicht sehen konnte und er sie mit einem schweren Seufzen wieder sinken ließ.
„He, Kleiner... das... das tut mir leid. Ich wollte nicht... so hart zu dir sein, ja?", entschuldigte er sich unbeholfen und strich sich frustriert durchs Haar. „Sag... sag sowas bitte nicht mehr, S... Charlie. Das ist falsch, wirklich ganz falsch! Ich... will einfach nicht, dass du so schlecht über dich denkst. Du bist nämlich nicht schlecht, sondern... ein wirklich guter Mensch, verstehst du?"
Vorsichtig nickte der Junge.
„Ja... ich hab es verstanden", erwiderte er gehorsam, und seine unnatürlich aufrechte Haltung dabei wirkte angespannt und wachsam... ganz genau wie früher, wenn er vor seinem Erzeuger gestanden hatte. Verdammt, das tat nun wirklich weh - er hatte grade ganz eindeutig großen Mist gebaut! Fieberhaft suchte er nach den richtigen Worten, um seinen Fehler wieder gutzumachen, doch die Sekunden verstrichen und ihm wollte einfach nichts einfallen. Wie sollte er es ihm auch erklären...
„Ich bringe Unglück, Fossa... ich hab schon immer Unglück gebracht. Wegen mir ist unser Vater erwischt und samt Mutter hingerichtet worden. So ist der Sultan überhaupt erst auf mich aufmerksam geworden... wegen mir hast du deine Arbeit als Flussschiffer aufgeben müssen, die du so mochtest, nur um bei mir sein können. Du musst dir ständig Sorgen um mich machen... und dann bringe ich meinen Sohn auch noch mit diesen Augen zur Welt, wegen denen er jetzt so leiden muss! Ach, Bruder... ich ertrag das nicht mehr. Ich... ich will nicht mehr und ich schaff es auch gar nicht mehr! Es ist eine Qual für mich, morgens aufzuwachen... und es kostet mich fast schon mehr Kraft als ich habe, aus dem Bett aufzustehen! Ich schaffe es nur dir zuliebe... und für Surya. Aber ich weiß nicht, wie lange noch... vermutlich seid ihr ohne mich ohnehin viel besser dran..."
Anuyas kraftlose, erschöpfte Stimme hallte durch seinen Kopf. Er sah sie wieder vor sich; zusammengesunken auf ihrem Bett sitzend, mit glanzlosen Augen in ihrem eigentlich so hübschen Gesicht... und einem Nachttischchen voller Phiolen und Pulver von den besten Hofärzten, die eine Krankheit heilen sollten, die es so gar nicht gab. Aber niemand hatte das verstanden... keiner außer ihm hatte verstanden, dass es kein körperliches Gebrechen gab, an dem seine kleine Schwester dahingesiecht war, sondern... dass sie schlichtweg ihren Lebenswillen verloren hatte. All seine Bemühungen, sie aufzumuntern, ihr Mut zuzusprechen oder ihr eine Stütze zu sein, hatten sie zwar ein paar Jahre lang durchhalten lassen, aber letztendlich... hatte er verloren. Er hatte sie gehen lassen müssen. Den Jungen hatten sie beide absichtlich in dem Glauben gelassen, dass seine Mutter oft krank sei und auch an einer körperlichen Krankheit gestorben war - er hätte sich am Ende nur selbst Vorwürfe gemacht, dass er sie auch noch mit seinen Sorgen belastet hatte. Wie es Kinder nun mal taten. Er hätte ihm wohl nicht geglaubt, dass er nichts hätte tun können, um ihr Ende zu verhindern. Aber immerhin hatte sie mit ihrem Tod ihrem Sohn eine Chance geben können...
...aber genau darum hatte es ihn so unvermittelt schmerzhaft getroffen, solche Worte nun auch noch von ihm zu hören!! Worte, die erschreckend denen seiner Mutter ähnelten, der er ohnehin in vielerlei Hinsicht viel zu ähnlich war. Himmel, er könnte es einfach nicht ertragen, auch noch den Kleinen auf diese schreckliche Art Dahinsiechen zu sehen! Oder ihn gar daran zu verlieren... nein, das würde er nicht zulassen. Egal wie, aber er würde es verhindern, dass solche giftigen Gedanken auch in ihm heranwuchsen! Allerdings war das hier wohl eher der falsche Weg. Frustriert rieb er sich über die Schläfe und überlegte, wie er seinen Fehler wieder gutmachen konnte. Sie hatten einander doch grade erst wiedergefunden, er wollte auf keinen Fall jetzt schon irgendwie streiten, doch ihm wollte einfach nichts einfallen, was er noch sagen konnte.
Die drückende Stille zwischen den beiden wurde in diesem Moment jedoch jäh unterbrochen, als die Tür aufgestoßen wurde und ein vollbepackter Marco gut gelaunt ins Zimmer stürmte - dicht gefolgt von Rakuyou.
„Hey! Na, habt ihr zwei? Ist der Mund schon fusselig vom Reden?", rief Marco übermütig und legte einen Stapel Klamotten auf Charlies Bett, hielt jedoch überrascht inne, als er die unbehagliche Stille der beiden bemerkte - und die angespannte Haltung seines Freundes. Besorgt ging er zu ihm, während Rakuyou einen prüfenden Blick zu Fossa warf.
„Alles okay bei euch?", wollte er ernst wissen, wobei allein der auf den Boden gerichtete, zerknirschte Blick des Schwarzhaarigen Bände sprach. Doch Charlie nickte hastig.
„Ja! Alles in Ordnung. Wir... wir haben viel geredet. Ähm... wolltet ihr uns schon für die Feier holen?", antwortete er und bückte sich, um nach seinem Stock zu tasten. Marco kam ihm zur Hilfe und hob das Gesuchte auf, das einen guten Meter von ihm entfernt lag. Er wirkte genauso wenig überzeugt wie sein älterer Bruder, doch nach einem kurzen, einvernehmlichen Blickwechsel beließen sie es dabei. Es sah nicht danach aus, als wäre einem von beiden grade groß zum Reden zumute.
„Nein, bis dahin ist schon noch ein bisschen Zeit... Marco wollte seine Eitelkeit pflegen, bevor er bei den Vorbereitungen mit anpacken muss, und ich dachte mir, dass ich dir währenddessen vielleicht mal das Schiff zeigen könnte! Du hast es ja noch gar nicht richtig gesehen", erwiderte Rakuyou daher betont locker und sah Fossa an, der erst einen unschlüssigen Blick zu seinem Neffen warf, doch dann mit einem Seufzen nickte.
„Ja, sehr gern. Dann... bis später, Charlie!", verabschiedete er sich etwas zögernd von ihm. Er hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte; mit Worten war er nie sonderlich gut gewesen... vielleicht war es besser, erst einmal eine kleine Pause einzulegen. Zumal er ja jetzt wieder seinen Freund bei sich hatte, der ihn sicherlich auf andere Gedanken bringen konnte, so gern wie er ihn hatte. Der Angesprochene schien auf jeden Fall keine Einwände zu haben und hob die Hand zum Abschied.
„Bis später Onkel, viel Spaß beim Rundgang!"
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, schoss Marcos skeptischer Blick sofort wieder zu Charlie - ehe er ihm unversehens einen kräftigen Rempler mit der Schulter verpasste. Mit einem Japsen stolperte er zwei Schritte zur Seite, bis er sich wieder fing.
„He! Was war das denn?", empörte er sich, was Marco mit einem Schnauben quittierte.
„Das könnte ich dich auch fragen, yoi? Seit wann stehst du da als hättest du einen Stock verschluckt?", lautete seine kritische Gegenfrage, weshalb der Lockenkopf erst verwirrt den Kopf neigte - und dann das Gesicht verzog. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er in seine alte Kronprinz-Haltung gerutscht war... verdammt. Aber so streng, wie sein Onkel mit ihm gesprochen hatte, war das wohl wie ein Reflex gewesen.
„Oh... alte Gewohnheit, hab ich gar nicht bemerkt...", murmelte er geknickt, was die Miene seines Freundes weicher werden ließ, ehe er ihn am Arm berührte.
„Was war denn los? Habt ihr euch etwa gestritten?", fragte er vorsichtig, woraufhin Charlie nur noch mehr zerknirscht den Kopf hängen ließ.
„Mehr oder weniger... es war meine Schuld, ich... hab was Blödes gesagt und Onkel Fossa ist wütend geworden. So hab ich ihn zum ersten Mal Mal erlebt... er war richtig, richtig sauer auf mich..."
Überrascht und erneut besorgt trat Marco noch ein wenig näher zu ihm und legte tröstend einen Arm um ihn.
„Oh... was hast du denn schlimmes gesagt, dass ihn so sauer gemacht hat?", wollte er wissen, doch sein Freund biss die Zähne zusammen und schüttelte sofort den Kopf.
„Ich hab versprochen, dass ichs nie wieder sage! Es ist falsch... ich darfs nicht mal denken!", wehrte er augenblicklich gehorsam ab, doch dann seufzte er tief und lehnte sich kurz an ihn. In Marcos Gegenwart fühlte er sich gleich wieder sehr viel ruhiger und entspannter; so fiel es ihm leichter, das eben Geschehene schnellstmöglich aus seinen Gedanken zu verdrängen. „Tut mir leid... vergessen wir es einfach, okay? Eigentlich wars nämlich ein echt schönes Gespräch... bis auf die letzten fünf Minuten. Ich bin doch ehrlich froh, dass ich ihn wiedergefunden hab!"
Erneut legte Marco die Stirn in Falten, während er seinen Freund nachdenklich musterte. Es gefiel ihm nicht, dass Charlie nicht über das reden wollte, was seinen Onkel so verärgert hatte... nicht aus Neugierde, sondern weil es den Jüngeren ja offensichtlich trotzdem zu beschäftigen schien. Und nur, weil er nicht drüber redete, hieß das ja nicht, dass das Problem dadurch gelöst war; es wurde schlichtweg totgeschwiegen. Trotzdem: vielleicht war es ja erst mal besser, ihn abzulenken und aufzumuntern. Nur wie? Eigentlich war er ja hergekommen, weil er sich den Kopf rasieren wollte, damit seine Frisur nicht mehr so unordentlich aussah, aber das würde ja Charlie nicht viel helfen. Doch dann fiel sein Blick auf das Kleiderbündel auf dem Bett und er zog seinen Freund dorthin, um es ihm zu zeigen.
„Hey, weißt du was? Ich hab dir von Epoida deine ersten neuen Klamotten mitgebracht, willst du sie für die Feier später nicht gleich mal anprobieren? Eine dunkelrote Hose hat er geschneidert, ein weißes Hemd und ein weißes Dreiviertelarm-Shirt mit schwarzen Streifen; sieht bestimmt toll aus! Aber... was genau treibt Ziba denn da eigentlich auf deiner Birne?", unterbrach er sich schmunzelnd, als er die Spinne zwischen Charlies Locken entdeckte, die sich dort offenbar häusliche eigerichtet hatte.
Der Angesprochene befühlte unterdessen staunend seine neuen Sachen.
„Wow... so schnell ist er fertig geworden? Wahnsinn, die fühlen sich echt gut an... natürlich will ich sie gern anprobieren!", rief Charlie überwältigt. Nie hatte er erwartet, dass Epoida so schnell sein würde... hoffentlich hatte er ihm nicht zu viele Umstände gemacht. Aber er verkniff sich immerhin die verbale Äußerung und stupste stattdessen die Spinne auf seinem Kopf an. „Und Ziba fand es wohl nicht besonders witzig von mir, dass ich sie ein bisschen geärgert und ihr den Apfel nicht sofort gegeben hab... da hat sie sich mit ihrer Beute da oben hin verkrochen", erklärte er belustigt und hielt still, als Marco sie mit dem letzten großen Apfelstück, das noch auf dem kleinen Teller am Boden lag, zurück in ihr Gefäß lockte und dann in seinen Haaren herumzupfte, um die silbrigen Spinnenfäden daraus zu entfernen.
„Verstehe... dafür siehst du jetzt aus, als hättest du schon graue Haare", grinste er - und sein Gesicht hellte sich plötzlich auf, als ihm eine Idee kam. „Hey, soll ich dir vielleicht auch die Haare mal schneiden?", schlug er mit glänzenden Augen vor und brachte Charlie mit diesem abrupten Themenwechsel erst mal gründlich aus dem Konzept.
„Meine... Haare schneiden? Wie kommst du jetzt darauf?", fragte er verdutzt, ließ sich jedoch protestlos erneut mitziehen, als er augenblicklich an der Hand gepackt und Richtung Schrank geschleift wurde, wo er Marco in einer Schublade kramen hörte.
„Ganz einfach, das wollte ich eigentlich grade bei mir machen... DAS meinte Rakuyou nämlich vorhin mit ‚seine Eitelkeit pflegen', yoi?", äffte er seinen Bruder nach und zog einen kleinen Beutel hervor, in dem sich seine Haarschneidewerkzeuge befanden. „Also wenn ich eh schon dabei bin, könnte ich das ja auch bei dir machen! Was meinst du?" Erwartungsvoll wandte er sich zu ihm um.
Ein wenig verlegen fasste sich der Angesprochene in die bis zum Schlüsselbein reichenden Haare. Das kam... unerwartet. SEHR unerwartet, denn in Khadir trugen sowohl Männer als auch Frauen die Haare (und Männer später auch die Bärte) lang. Geschnitten wurden sie kaum, nur Arme und Obdachlose hielten Haare kürzer, weil sie nicht genug Wasser hatten, um sie richtig zu waschen, und wegen der Läuse. Dass es hier allerdings anders war, hatte er schon bei Marco bemerkt, und später auch bei den Beschreibungen der anderen. Viele hatten hier offenbar kürzere Haare und gar keinen Bart.
„Seh ich... denn so schlimm aus?", wollte er deshalb etwas verunsichert wissen, denn um sowas wie eine Frisur oder überhaupt sein Aussehen hatte er sich in all den Jahren auf der Mineninsel natürlich nie gekümmert. Läuse hatte er zum Glück nie gehabt; er hatte seine Haare immer nur zweckgemäß mit seinem stumpfen Schnitzmesser abgesäbelt, wenn sie so lang wurden, dass sie ihn beim Arbeiten störten. Oh nein, das konnte ja eigentlich nur furchtbar aussehen, oder?
Doch Marco fasste ihn sofort erneut beruhigend an der Hand.
„Ach, Quatsch! Du siehst überhaupt nicht schlimm aus, yoi? Deine Haare sind einfach nur lang... und sehen vielleicht ein ganz kleines bisschen unordentlich aus...", erklärte er mit kritischem Blick auf das Haupt seines Freundes. „Doch, du hast eigentlich echt schöne Haare, aber ich glaub, kürzer würden sie dir viel besser stehen! Dann würde man auch deine Locken mehr sehen. Also was meinst du? Wollen wirs nicht einfach mal versuchen?"
Unwillkürlich musste Charlie lachen. Es war schwer zu überhören, dass Marco Feuer und Flamme für seine eigene Idee war und es ihm förmlich unter den Nägeln brannte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen! Aber warum eigentlich nicht? Besonders hübsch sah er sicherlich nicht aus, es war vermutlich nicht schwer, es besser zu machen... und schlechtesten Falls wuchsen sie ja wieder nach. Und... ja, je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke, auch mit dieser Tradition von Khadir zu brechen. Er war ja jetzt weg von da, wieso sollte er sich also nicht auch in dieser Hinsicht an etwas Neuem versuchen?
„Okay, wenn du willst, dann tob dich aus", gab er belustigt sein Einverständnis, was mit einem triumphierenden „JA!" quittiert wurde. Im selben Augenblick wurde er auch schon energisch auf den Boden gesetzt, ehe hörbar beschwingte Schritte durchs Zimmer flitzten.
„Und du bist sicher, dass du das kannst?", hakte Charlie dennoch ein wenig besorgt nach, woraufhin vom anderen Ende des Raumes ein empörtes Schnauben erklang.
„Klar! Ich mach mir schon seit Jahren die Haare selber, yoi? Außerdem... hab ich früher ganz oft meinem Kindermädchen beim Schneiden zugesehen... da lernt man einiges", antwortete er zuversichtlich, ehe auch schon ein Handtuch um seine Schultern gelegt wurde und mit einem leisen Klirren das benötigte Werkzeug samt Besitzer neben ihm auf dem Boden landete. Charlie grinste unwillkürlich, als energische Finger unter sein Kinn griffen und seinen Kopf etwas nach oben drückten.
„Du hast oft zugesehen? Wolltest du vielleicht mal ein Barbier werden?"
Heiteres Prusten war die Antwort auf seine Vermutung - inklusive eines kräftigen Schnipsens gegen die Stirn.
„Oh Gott, nein!! Ich bitte dich... ich hab zwar Sinn für Stil, aber sicherlich keine Lust, den lieben langen Tag irgendwelchen Leuten die Haare oder den Bart zu schneiden. Uäch. Dich natürlich ausgenommen, yoi? Du bist der einzige, bei dem ich das machen will!", erwiderte er geschäftig und griff nach der Schere, hielt dann jedoch auf einmal inne. Sein Schweigen klang besorgt. „Ähm... kannst du... vielleicht noch deine Binde abmachen? Sonst kann ich nicht richtig schneiden..."
Seine vorsichtige Bitte ließ Charlie trotzdem unweigerlich abwehrend die Schultern hochziehen. Daran hatte er gar nicht gedacht, obwohl es ja eigentlich logisch war... außer zum Waschen nahm er das Tuch allerdings nie ab, schon gar nicht in Anwesenheit irgendeines anderen! Es mochte sich vielleicht albern anhören, doch... ohne sie fühlte er sich seltsam nackt und verletzlich. Aber wenn er jetzt einen Rückzieher machte, wäre Marco doch enttäuscht... und das wollte er nicht. Sehr zögerlich hob er die Hände hinter den Kopf, um den Knoten zu lösen - doch zu seiner Überraschung wurde er aufgehalten.
„Warte, ich hab eine bessere Idee! Halt die Binde doch einfach mit einer Hand vor deinem Gesicht fest, ich mach den Knoten zum Schneiden auf und wenn ich fertig bin auch wieder zu, yoi?"
Warme Finger schlossen sich um seine Hand und legten sie zur Verdeutlichung behutsam auf sein Gesicht. Ein breites, erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht und jede Anspannung war augenblicklich verflogen. Wieder hatte Marco ihn ganz ohne Worte verstanden... und sein Problem gelöst, ohne ihm das Gefühl zu geben, lästig, unbequem oder gar hilfsbedürftig zu sein. Wann hatte er sich das letzte Mal bei einem Menschen so wohl gefühlt? Deshalb blieb er nun auch völlig entspannt, als der Lehrling wie angekündigt vorsichtig den Knoten löste und das Tuch locker herabfiel.
Eine Tatsache, die nicht unbemerkt blieb... und von ihm ungesehen mit einem sehr zufriedenen Lächeln quittiert wurde. Natürlich hatte Marco sofort bemerkt, wie unbehaglich sich Charlie bei dem Gedanken fühlte, die Augenbinde abzunehmen. Was ihn jedoch nicht weiter überraschte, denn schon während ihrem Aufenthalt in den Höhlen hatte er sich immer ein Stück von ihm weggesetzt und ihm den Rücken zugedreht, wenn er sie gewechselt hatte. Selbst hier an Bord hatte er es immer so hinbekommen, dass ihm beim Duschen oder Waschen niemand zusehen konnte. Auch wenn er ihn nie direkt danach gefragt hatte, war ihm völlig klar, dass er einfach nicht gesehen werden wollte... obwohl es schade war. Marco hätte seinen Freund wirklich unheimlich gern einmal ohne das Tuch vor den Augen gesehen... umso mehr hatte es ihn deshalb überrascht und gefreut, als Charlie ihm zuliebe grade eben tatsächlich seine Binde abgenommen hätte! Aber so gern er ihn auch mal ohne dieses Ding gesehen hätte: er wollte auf gar keinen Fall, dass er sich dabei unwohl fühlte. Dass er sich - egal warum - bei IHM unwohl fühlte.
Nein, es machte ihn sehr viel glücklicher, ihn wieder so völlig gelöst lächeln zu sehen, als er nun nach seinem Kamm griff und ihm erst einmal gründlich durch die Haare fuhr. Er wirkte wieder ganz entspannt und zufrieden... mehr wollte er doch gar nicht. Prüfend und hochkonzentriert ließ Marco nun eine von Charlies Locken durch seine Finger gleiten, um zu entscheiden, wie kurz sie werden sollten. Er hatte keineswegs vor, das hier zu versauen, also wollte er sich wirklich Mühe geben! Auch wenn sein Freund sich selbst nicht sehen konnte, wollte er ihm mit der neuen Frisur wenigstens eine kleine Freude machen. Bei etwa einer Handspanne Länge hielt er schließlich inne, schnitt die erste Strähne ab und hielt sie ihm hin.
„Hier, so viel kommt weg... bist du einverstanden?", wollte er geschäftig wissen. Charlie befühlte sie mit seiner freien Hand und legte unsicher den Kopf schief.
„Das ist... ja echt viel. Bist du sicher, dass das dann gut aussieht?", murmelte er etwas verzagt - denn das war wirklich ein langes Stück Haar! So kurz hatte er sie wohl das letzte Mal als Kleinkind gehabt. Doch Marco nickte energisch.
„Absolut! Sie sind noch lang genug, dass du sie dir hinter die Ohren streifen kannst. Vertrau mir einfach, yoi?", entgegnete er unbekümmert und entlockte dem Jüngeren ein leises Lächeln. Nun, das tat er ja ganz zweifellos... also richtete er das Gesicht wieder nach vorn und atmete tief durch.
„Okay... ich vertrau dir, leg los", gab er sein Einverständnis, woraufhin Marco nicht lang fackelte und sich mit Feuereifer an die Arbeit machte.
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„...und hereinspaziert, das ist unser Trainingsraum!" Schwungvoll betrat Rakuyou den weitläufigen Raum, dicht gefolgt von Fossa, der sich staunend umsah. Seit fast einer Stunde hatte der Blonde ihn schon quer durch das Schiff geführt, ihm die Mannschaftsunterkünfte gezeigt, das Gemeinschaftsbad, den großen Aufenthaltsraum mit der gewaltigen, runden Bar in der Mitte, das Besprechungszimmer, einen Karten- und Navigationsraum und sogar eine Art Lesezimmer oder Minibibliothek. Aber das hier war bisher eindeutig der größte Raum, auch wenn sie noch nicht im Bauch des Schiffes gewesen waren. Bei der einen Hälfte waren sowohl der Fußboden als auch die Wände mit hellgrünen Matten abgedeckt, die man aber offensichtlich nach Belieben auch wieder abbauen konnte. Die andere Seite dagegen war unbedeckt, stattdessen standen hier verschiedene Attrappen, Sandsäcke und Dummies aufgereiht an der einen Wand, an denen man vermutlich mit und ohne Waffen trainieren konnte. An der gegenüberliegenden Wand hingen dazu große Regale mit beeindruckend vielen verschiedenen Übungswaffen. Außerdem gab es noch eine offene Tür in den Raum dahinter; den Gewichten und Hanteln nach zu urteilen, die er dort sehen konnte, war das wohl ein Kraftraum.
„Unglaublich... das ist eine beeindruckende Ausstattung", gab Fossa verblüfft zu, was den Piraten grinsen ließ.
„Türlich... Stärke und Kampfkraft sind auf See nun mal essenziell wichtig; hier zu sparen würde uns eher schaden als nutzen. Die meisten von uns trainieren täglich", erwiderte er und nickte zu zwei seiner Brüder hinüber, die auf dem mit Matten belegten Bereich gerade einen Übungskampf absolvierten. Und Fossa staunte nicht schlecht, als er ihnen zusah! Der eine war ein muskulöser, noch recht junger Mann mit längeren, blonden Haaren, von denen er eine Strähne rot gefärbt hatte. Er trug ein offenes, schwarzes, kurzärmeliges Hemd und ein weißes Shirt darunter, in der Hand hielt er einen durchaus beeindruckenden Streithammer. Ihm gegenüber stand ein deutlich schmächtigerer, kleinerer Kerl etwa Mitte Dreißig mit aschbraunen, buschigen Haaren und zwei winzigen Dolchen in der Hand - und dieser kleine Kerl machte seinen Kontrahenten nach Strich und Faden fertig.
Bei allem, was ihm heilig war - wie schnell konnte ein Mensch sich bewegen?!
Verblüfft sah Fossa zu, wie der Kleinere einem kraftvollen Hammerschlag des anderen mit einem lässigen, fast spielerischen Tänzeln auswich, nur um einen Wimpernschlag später seinem Angreifer zwischen den Beinen hindurch zu rutschen und ihm von hinten in die Kniekehlen zu treten. Mit einem überraschten Laut fiel der Jüngling wie ein gefällter Baum um und starrte seinen Bruder von unten herauf an.
Rakuyou lachte gleichzeitig mit dem Sieger los.
„Sauberes Manöver!", gratulierte der Blonde seinem triumphierenden Bruder, trat auf die beiden zu und reichte dem am Boden liegenden die Hand, um ihn mit einem kräftigen Ruck auf die Beine zu helfen. „Gut gemacht, Kleiner! Aber pass besser auf deine Deckung auf, vor allem wenn du's mit schnelleren Gegnern zu tun hast. Da bist du mit schweren Waffen im Nachteil!"
Der junge Mann verzog ein wenig das Gesicht, nickte jedoch einsichtig.
„Werd drauf achten...", murmelte er, was Rakuyou mit einem gutmütigen Schulterklopfen quittierte, ehe er sich zu seinem Gast umdrehte.
„Brüder, das ist Fossa! Fossa, der junge Bursche hier ist Bray - er war unser erster Lehrling, aber seit drei Monaten ist er volljährig und gehört damit fest zur Crew - und der Giftzwerg mit den fiesen Messern da ist Watschi!", stellte er ihn gut gelaunt vor. Hastig hielt Fossa beiden die Hand hin und beide schlugen freundlich ein, wobei ihn der Name des Letzteren doch ziemlich irritierte. Hieß er wirklich so? Kurz rang er mit sich, ob es womöglich unhöflich wäre, nachzufragen... aber seine Neugierde war dann doch größer.
„Watschi? Das ist ein... ungewöhnlicher Name...", sprach er vorsichtig den kleineren Messerkämpfer an, doch er machte sich umsonst Sorgen. Der Angesprochene grinste breit.
„Ist sogar 'n saudämlicher Name. Oder vielmehr Spitzname. Eigentlich heiß ich Wjatscheslaw, aber das ist den meisten hier zu hoch. Und bevor ich mir Drölfzigtausend katastrophal falsch ausgesprochene Varianten meines Namens anhören muss, bei denen sich mir die Fußnägel bis zum Bauchnabel hochrollen, bleib ich doch lieber bei Watschi - ist wenigstens berechenbar bescheuert. Also tu dir keinen Zwang an, ab nem gewissen Pegel kanns nämlich eh nur noch schief gehen! Tihtihtihi...", erwiderte er fröhlich und brach gleich darauf in Gelächter aus. Ein hohes, verrückt klingendes und äußerst ansteckendes Lachen, das ihn unwillkürlich ebenfalls zum Prusten brachte. Es war schon eine wirklich bemerkenswerte Ansammlung von höchst unterschiedlichen, eigenwilligen Charakteren, die sich hier auf dem Schiff zusammengefunden hatten... aber auch, wenn ihn das im Augenblick noch etwas überforderte und er oft noch Probleme hatte, richtig damit umzugehen: es gefiel ihm. Sehr sogar.
„Ich geh dann mal duschen... für heute bin ich oft genug aufs Kreuz gelegt worden", ächzte Bray und strich sich durch die verschwitzten, blonden Haare. Er klang noch immer etwas geknickt; die Niederlage gerade eben war wohl nicht seine Erste heute gewesen. Watschi patschte dem Jüngling jedoch gut gelaunt auf den Rücken.
„Ach, Kopf hoch! Für dein Alter hat sich das wirklich sehen lassen können... und du hast dich seit dem letzten Mal verbessert!", tröstete er ihn, was das sichtlich angekratzte Ego seines Trainingspartners wieder etwas hob. Zumindest war sein Kopf wieder etwas aufrechter, als er hinter dem Kleineren den Trainingsraum verließ.
„Hab ich jetzt eigentlich alle deine... Brüder kennengelernt? Wie viele seid ihr?", wollte Fossa wissen, während er den beiden nachdenklich hinterher sah. Der Angesprochene dachte einen Augenblick lang nach.
„Mh... lass mich überlegen... mit Vater zusammen sind wir im Augenblick zwanzig Mann. Unsere beiden Lehrlinge hat du schon kennengelernt, und auch Ragnar, Manni, Vista, Atomos, Whitey, Dew, Epoida, Beanie, José, Paolo, Watschi und Bray. Andre und mich kennst du ja sowieso schon... also fehlen dir eigentlich nur noch Charoo, Flint und Barney - unsere berüchtigten Schiffsgeister!", antwortete er und lachte leise in sich hinein, was Fossa irritiert blinzeln ließ. Meinte... er das jetzt ernst? Oder zog er ihn auf?
„Schiffsgeister...?", wiederholte er deshalb vorsichtig, denn bei allem, was er schon in der kurzen Zeit zusammen mit den Piraten erlebt und gehört hatte, hielt er nichts mehr für unmöglich. Wenn es fleischgewordene Kriegsgötter und magische Kräfte gab, dann doch vermutlich auch Geister.
Der Blonde hörte den in der Frage mitschwingenden Ernst durchaus und gluckste belustigt, doch er verkniff es sich, seinen Freund damit aufzuziehen. Das wäre nämlich nicht sonderlich fair von ihm, solange er von allem noch so wenig Ahnung hatte und alles für bare Münze nahm.
„Keine echten Geister, keine Sorge. Ich meinte das eher im übertragenen Sinne... die drei wirst du nämlich nicht oft an Deck sehen, weil sie sich lieber in ihren persönlichen Reichen unter Deck aufhalten. Charoo ist unser Lager- und Schatzmeister; er bleibt am liebsten für sich allein und ist ne ziemlich eigene Persönlichkeit, aber das wirst du noch früh genug selbst feststellen. Und Flint und Barney sind absolute Waffennarren und deshalb auch die Hüter der Waffenkammer, wo sie sich auch am liebsten aufhalten und dort ihre Babys hegen und pflegen, sie reparieren oder Munition herstellen. Aber wenns ans Kämpfen geht oder es was zu feiern gibt, sind zumindest die beiden sofort da! Charoo beim Kämpfen auch, aber beim Feiern macht er nicht immer mit - weil er dafür nämlich immer für sich allein Vorglühen muss, bis er einen Pegelstand erreicht hat, bei dem er die Anwesenheit so vieler anderer Menschen über längere Zeit erträgt!", klärte er ihn auf und musste unwillkürlich lachen bei dem Gedanken an ihren eigenwilligsten Bruder. Er war schon eine Marke für sich, aber ein wirklich guter Kerl, auf den man sich verlassen konnte.
Fossa gluckste ebenfalls.
„Ihr seid mit weitem Abstand die seltsamsten Menschen, denen ich je begegnet bin", gab er offen schmunzelnd zu, was Rakuyou mit einem breiten Grinsen und einem kameradschaftlichen Schlag gegen die Schulter quittierte.
„Nachdem du aus einem Land voller ehrlich beeindruckender Vollzeit-Arschlöcher kommst, ist das tatsächlich ein Riesenkompliment für uns, Kumpel!"
„Ja... das stimmt wohl", entgegnete der Schwarzhaarige, ehe er leise seufzte und stirnrunzelnd die Matten betrachtete, auf denen grade der Übungskampf stattgefunden hatte. Den Manövern des Jünglings hatte er folgen können; und VIELLEICHT wäre er ihm sogar in einem Duell gewachsen, aber... Watschi war so schnell gewesen, dass er seine Bewegungen kaum gesehen hatte. Und das war ja nur ein Spiel gewesen - wenn ein Gegner wie er ihm ernsthaft ans Leder wollte, war er vermutlich tot, bevor er ihn überhaupt richtig kommen sah! Er wäre völlig chancenlos. Und von Titanen wie Kapitän Whitebeard brauchte er gar nicht erst anfangen. Angestrengt rieb er sich über die Schläfe, hinter der es unangenehm zu Pochen begann. „Hey sag mal... gibt es auf der Welt eigentlich viele wie euch? Die so verdammt stark und schnell sind?"
Fragend legte Rakuyou den Kopf schief und musterte seinen Freund nachdenklich; ihm war der Stimmungsumschwung keineswegs entgangen.
„Ja, da gibt's einige. Bei weitem nicht alle natürlich, die Mehrheit sind einfache Zivilisten wie die Menschen auf eurer Insel, aber eine Seltenheit sind wir keineswegs. Unter Piraten, Marine, Kopfgeldjägern, Soldaten, Gaunern und Banditen gibt's schon eine Menge beachtlicher Kämpfer von unserem Kaliber oder sogar stärker. Warum? Was geht dir durch den Kopf?", wollte er wissen und lehnte sich an die Wand des Trainingsraumes. Der Angesprochene verzog das Gesicht.
„Naja, ich dachte grade nur... wie zum Geier soll ich den Jungen da draußen beschützen?! Ich... ich hab doch nicht den Hauch einer Chance bei solchen Gegnern! Was bringt es, wenn wir zwar Khadir überlebt haben, aber stattdessen dann da draußen sang- und klanglos untergehen?", sprach er seine Gedanken aus und ballte frustriert die Fäuste. Auf seiner Heimatinsel hatte er zu den besten Soldaten gehört und sich auch selbst für einen fähigen Krieger gehalten, dem nicht viele das Wasser reichen konnten - aber hier, auf diesem Schiff, zweifelte er sogar daran, gegen einen Jüngling wie Bray bestehen zu können. Das war mehr als ernüchternd...
Und machte ihm ernsthaft Sorgen.
Der Blonde gab ein verstehendes Brummen von sich. Er konnte sich problemlos vorstellen, wie Fossa sich fühlen musste; vor allem im Hinblick auf sein unübersehbar großes Verantwortungsgefühl und dem starken Beschützerdrang seinem Neffen gegenüber. Verständlich, nachdem er ihn so lange für tot gehalten hatte.
„Ich weiß, was du meinst... aber wie gesagt: die Mehrheit der Bevölkerungen auf den Inseln sind kräftetechnisch so, wie du es kennst. Und davon abgesehen werden wir euch auch garantiert nicht auf einer Insel absetzen, die irgendwie für euch gefährlich wäre! Das kann ich dir auf jeden Fall versprechen", entgegnete er aufrichtig und ernst. Dabei musste er sich jedoch ein Seufzen verkneifen; er hatte eigentlich gehofft, Fossa als Bruder gewinnen zu können... doch Vater hatte auf seine vorsichtige Anfrage heute Morgen entschieden abgelehnt. Nicht wegen Fossa selbst, sondern weil er zweifellos nirgendwo ohne Charlie bleiben würde - und für einen blinden Jungen war leider kein Platz in einer Piratencrew. Eine Ansicht, die Rakuyou zwar nicht unbedingt teilte, aber er musste die Entscheidung seines Vaters wohl oder übel akzeptieren.
Nicht wirklich überzeugt sah Fossa ihn an.
„Mag ja sein, aber wohl fühl ich mich bei dem Gedanken trotzdem nicht", brummte er finster und warf einen Blick aus dem Bullauge, von dem aus er einen fantastischen Blick auf das in der Abendsonne rötlich glänzende Meer hatte, ehe seine dunklen Augen sich in die seines Freundes bohrten. „Wenn ich eins in den letzten Tagen zu spüren bekommen hab, dann dass diese Welt unglaublicher und größer ist, als ich es mir selbst in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können... und vor allem auch sehr viel gefährlicher. Ich komm mir hier also nicht nur dumm vor, weil ich von so vielem keine Ahnung hab, sondern auch noch schwach und hilflos! Und das ist das Schlimmste dran..."
Rakuyou hielt seinem Blick ruhig stand. Auch wenn er Fossa noch nicht lange kannte, wusste er doch, dass er ein stolzer, willensstarker und ziemlich sicher auch ehrgeiziger Mann war, der die Dinge gern unter Kontrolle hatte - eigentlich gute Eigenschaften, die sich aber mit seiner aktuellen Situation fürchterlich bissen und ihm eindeutig zusetzten. Aber das musste ja nicht so bleiben, oder? Immerhin hatten sie ja wenigstens noch ein paar Wochen, bis sie die nächste geeignete Insel erreichten... und diese Zeit konnte er doch nutzen, um ihm zu helfen.
Mit einem breiten Grinsen stieß sich Rakuyou von der Wand ab, betrat den gepolsterten Kampfbereich und hob mit einer herausfordernden Geste Richtung seines Freundes die Fäuste.
„Na dann arbeiten wir doch einfach dran! Du bist ja noch ne Weile an Bord, da könnte ich dir doch auf jeden Fall noch ne ganze Menge beibringen... was hältst du davon?", schlug er lässig vor - und überrumpelte Fossa mit sichtlich.
„Du willst... mir ernsthaft was beibringen? Mit mir trainieren? Jetzt?", wiederholte er verblüfft und starrte ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde an. Der Blonde grinste.
„Klar, bist zur Party ist noch Zeit! Da kriegen wir schon was reingehämmert in deinen Verstand - sogar durch deinen beachtlichen Dickschädel. Außer natürlich, du traust dich nicht... dann können wirs natürlich auch mit Samthandschuhen versuchen...", frotzelte er frech, was seine Wirkung keineswegs verfehlte. Fossas Brauen wanderten steil nach oben, ehe er mit einem ungläubigen Schnauben vor ihn trat und ebenfalls in Kampfstellung ging. Auf seinen Lippen lag ein eindeutig kampflustiges Lächeln.
„Die Samthandschuhe kannst du stecken lassen, mein Freund. Außer, du bist ein lausiger Lehrer... aber dann frag ich wohl lieber Andre nach Unterricht", gab er ungerührt zurück.
Sein Kontrahent lachte - und ging unvermittelt auf ihn los. Fossa konnte kaum den Arm in Verteidigungsposition hochreißen, so schnell krachte dessen Faust dagegen. Und zwar mit einer Wucht, die ihn einen Schritt nach hinten drückte. Hölle nochmal, so viel Kraft hatte er ihm gar nicht zugetraut! War er doch ein ganzes Stück kleiner und schmaler als er selbst... doch auf solche Oberflächlichkeiten kam es in dieser Welt eindeutig nicht an.
Viel Zeit, darüber nachzudenken, bekam er ohnehin nicht. Schon wurde er erneut attackiert, und wieder schaffte er es nur haarscharf, den Hieben auszuweichen oder sie zu blocken. Doch das entmutigte ihn keineswegs, sondern spornte ihn erst recht an - vor allem, weil er sich sicher war, dass Rakuyou ihn nicht mit ganzer Kraft angriff, sondern genau so, dass er sich eben doch noch wehren konnte.
Er testete ihn.
Also schön, dann wollte er auch sein Bestes geben! Mit grimmiger Entschlossenheit ging er nun selbst in den Angriff über und versuchte, den Blonden mit einer Reihe geschickter Hiebe zurückzudrängen, doch er traf kein einziges Mal. Fast schon tänzelnd wich Rakuyou jedem Schlag seitlich aus, bis er plötzlich unter einem hinwegtauchte - und Fossa mit einem wuchtigen Schulterstoß gegen die ungeschützte Brust rücklings auf die Matten beförderte.
Grinsend und ohne auch nur schneller zu atmen trat er neben ihn.
„Und, wie siehts aus, mein Freund? Bin ich gut genug als Lehrer?", fragte er triumphierend und reichte ihm die Hand.
Fossa sah schnaufend zu ihm hoch, ungläubig und ziemlich beeindruckt davon, was der Mann, der zusammen mit ihm in den Minen geschuftet hatte, eigentlich auf dem Kasten hatte. Sie spielten eindeutig nicht mal ansatzweise in derselben Liga... und trotzdem wollte er ihm helfen. Einfach so, ohne Gegenleistung oder Bedingung. Weil er sein Freund war. Und das bedeutete ihm eine Menge.
Mit einem entschlossenen Schnauben ergriff Fossa seine Hand.
„Bring mir alles bei, was ich wissen muss!", bat er ihn ernsthaft und ließ sich von ihm mit einem Ruck auf die Füße ziehen. Rakuyou schenkte ihm ein breites Lächeln und schlug ihm kameradschaftlich gegen die Schulter.
„Keine Sorge... ich mach nen respektablen Piraten aus dir!"
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Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und Hölle
FanfictionIm Jahre 1494 lernt der vierzehnjährige Piratenlehrling Marco den dreizehnjährigen Charlie kennen. Zwischen den beiden Jungen entsteht schnell ein tiefes, schicksalhaftes Band, das sie nicht nur durch viele, turbulente Abenteuer hindurch begleitet...