„Okay... hier... ist es gut. Ich kann... keinen... Schritt mehr... weiter!", keuchte Marco viele Stunden später und zog seinen Freund vorsichtig ein paar Meter nach rechts. Ebenfalls schwer atmend ertastete Charlie eine relativ glatte Felswand, an der er sich langsam herabsinken ließ und sich erschöpft anlehnte.
Die Sonne war bereits aufgegangen. Die ganze restliche Nacht und einen guten Teil des Vormittags waren die beiden nun von der Küste aus einem kaum mehr erkennbaren Pfad in die Berge hoch gefolgt. Für den blinden Jungen war der Weg bisher eine regelrechte Zerreißprobe für die Nerven gewesen; ihm zitterten die Beine nicht wegen der Anstrengung. Zunehmend orientierungslos hinter Marco her zu stolpern, auf unebenen, steinigen Wegen mit überall tückisch lauernden Steinen und Rissen und das auch noch immer höher hinauf... nein, das war beileibe kein angenehmes Gefühl. Vor allem, weil der Pfad stellenweise verdammt dicht an irgendwelchen Abgründen entlangführte, und der Wind ihn mit unvorhersehbaren Böen in unsichtbare Tiefen zu befördern drohte.
Jetzt war es aber eher die sengende Hitze der Sonne, die sie zum Anhalten gezwungen hatte. Die Sonne und ihre schmerzenden Füße, denn beide trugen nur Sandalen, die nun wirklich nicht unbedingt für Bergwanderungen geeignet waren. Immerhin hatten sie ein bisschen Glück gehabt und dieses schattige Plätzchen gefunden.
„Wo... sind wir hier?", schnaufte Charlie und spürte, wie Marco sich direkt neben ihm niederließ.
„Ist ne Felsnische. Ungefähr drei Schritte lang und zwei Schritte breit, zum Teil sogar durch einen Vorsprung überdacht... auf drei Seiten ist Fels und nur nach vorne ist es offen, wir können uns also gefahrlos ausruhen und schlafen, yoi?", antwortete er und stellte ächzend das Wasser neben sich ab. Erleichtert von dieser Information kramte Charlie nun in seinem provisorischen Sack herum und zog vier Datteln hervor, von denen er zwei an seinen Freund reichte. Ein karges Mahl, aber sie hatten nicht viel und wer wusste schon, wie lange es reichen musste.
Klaglos nahm der junge Pirat seinen Anteil entgegen und reichte ihm gleich darauf eine Kelle voll Wasser, die er durstig, aber langsam trank. Schweigend verzehrten sie die süßen Früchte und lauschten erschöpft den entfernten Möwenrufen, die zusammen mit dem leisen Rauschen des Meeres von der Küste aus zu ihnen drangen.
„Wie fühlst du dich? Geht es... dir immer noch gut?", durchbrach Charlie ein wenig zögerlich nach einem langen Augenblick die friedliche Stille. Die meiste Zeit seit ihrem eiligen Aufbruch war er zu beschäftigt mit seiner wachsenden Höhenangst gewesen, um an die unglaublichen Ereignisse zu denken, die sie vor wenigen Stunden erst zur Flucht gezwungen hatten... aber jetzt kamen die Erinnerungen umso deutlicher zurück und beschäftigten ihn sehr. Denn selbst mit einer kleinen Weile Abstand kamen sie ihm nicht greifbarer oder realer vor. Wie hätte er denn auch ahnen sollen, dass es sowas wie magisches Obst gab, das Menschen... Zauberkräfte verleihen oder heilen konnte?! Und war sein Freund dadurch wirklich vollständig geheilt oder... ließ die Wirkung vielleicht irgendwann nach?
Marco wusste sofort, worauf er hinauswollte, und stieß ihn beruhigend mit der Schulter an.
„Klar... ist alles verheilt, yoi? Mach dir keine Sorgen, ich habs dir doch gesagt: da ist wirklich gar nichts mehr übrig von den Verletzungen, nicht mal der allerkleinste blaue Fleck. Diese Teufelskräfte... ich weiß nicht, was genau das ist, aber... sie sind der totale Wahnsinn, oder? Ich fühl mich echt gut. Genau genommen... sogar besser als je zuvor..." Seine Stimme, am Anfang noch locker und begeistert, wurde gegen Ende hin immer leiser und bekam einen seltsamen Klang. Irgendwie... schwermütig? Oder ungläubig? Zweifelnd? Charlie konnte es nicht ganz greifen, aber er war sehr erleichtert, dass er offenbar wirklich Zeuge einer Wunderheilung geworden war. Er hatte nur noch immer keine Ahnung, wie war das möglich gewesen war... aus den vagen Erklärungen seines Freundes vor ihrer Flucht war er nicht sonderlich schlau geworden.
„Oh man, da bin ich echt froh! Aber... kannst du mir beschreiben, was genau passiert ist? Da war ein flackerndes Licht... und dann so ein komisches Gefühl in meiner Hand... was war das?", hakte er vorsichtig, aber unbestreitbar neugierig nach. Marco schwieg einen Moment. Es war ein unsicheres, fast schon nervöses Schweigen und er hörte, wie er sich angespannt durchs Haar fuhr.
„Hm... ich weiß es selber nicht genau. Kurz nachdem ich die Teufelsfrucht gegessen hab, da... da war es, als ob plötzlich irgendwas in mir... erwacht ist? Es war seltsam... als ob... da noch jemand in mir wäre. Oder etwas. Und dann... dann war da auf einmal diese Energie und... und überall auf meinem Körper waren türkise Flammen! Sie haben aber nicht wehgetan, sondern haben sich unheimlich gut angefühlt... nicht heiß, nur sehr angenehm warm. Irgendwie beschützend... und sie haben den ganzen Schmerz einfach... naja... ausgelöscht? Und eine Minute später sind sie wieder verschwunden... genau wie das Gefühl dieser anderen Präsenz in mir, yoi? Aber ich war vollkommen geheilt... es tat überhaupt nichts mehr weh und ich hab mich... so seltsam leicht gefühlt", berichtete er stockend, was sich für Charlie gleichermaßen faszinierend wie unheimlich anhörte. Trotzdem rückte er noch ein Stück näher an seinen Freund, bis sich ihre Schultern und Knie berührten; er hatte das deutliche Gefühl, dass ihm das alles selbst noch nicht ganz geheuer war. Und tatsächlich lehnte er sich dankbar an ihn, was den Jüngeren lächeln ließ.
„Wow... das ist wirklich unglaublich. Und was ist jetzt mir dir? Kannst du... dir jetzt nie wieder wehtun? Kommt dann immer diese... diese... Präsenz zurück?", wollte er nachdenklich wissen, was jedoch nur mit einem ratlosen Achselzucken quittiert wurde.
„Ich hab ehrlich keine Ahnung... kann schon sein, dass wirklich nur was passiert, wenn ich mich verletze, falls es sowas wie eine Heilfrucht gewesen ist...", brummte der junge Pirat und seufzte etwas überfordert. „Irgendwie ist dieses... dieses... Etwas schon noch da, ganz tief in mir drin, aber... ach verdammt, das ist so schwer zu beschreiben! Es fühlt sich gleichzeitig fremd an und trotzdem so als... als hätte es schon immer zu mir gehört. Als wärs ein Teil von mir, den ich bisher noch gar nicht gekannt hab. Aber andererseits... auf dem Weg hierher hab ich immer wieder versucht, diese Kraft zu rufen oder... zu beschwören, aber es hat überhaupt nicht geklappt. Ich weiß echt nicht, wie das gehen soll... wie denn auch, wenn ich nicht mal wirklich weiß, was es eigentlich ist, yoi?" Hörbar frustriert schüttelte er den Kopf. „Oh man... das ist echt viel komplizierter als ich dachte..."
Schweigend hatte Charlie zugehört; bemüht, sich das Ganze einigermaßen begreiflich zu machen.
„Klingt auch echt kompliziert, ehrlich gesagt...", gab er schließlich mit einem schiefen Lächeln zu, ehe diesmal ER seinen Freund spielerisch anstieß. Nachdem er weder einen hilfreichen Rat noch eine Erklärung bieten konnte, wollte er ihn wenigstens wieder aufmuntern. „...aber hey, irgendwie wären das auch ziemlich lahme Zauberkräfte, wenn du sie gleich beherrschen könntest, oder? Vielleicht fehlt dir ja auch einfach nur der richtige Zauberspruch! Versuchs doch mal mit ‚hex, hex'!"
Unwillkürlich prustend vor Lachen bei dieser Vorstellung gab Marco den Rempler kräftig zurück.
„Oi, ich bitte dich, Schokolöckchen... so funktioniert das nicht!! Und sag nicht dauern ‚Zauberkräfte' dazu - das sind TEUFELSkräfte, yoi?", belehrte er ihn empört, doch Charlie hörte sein Grinsen deutlich heraus... also genau das, was er hatte erreichen wollen. Er kicherte.
„Wieso? Sind Zauberkräfte dem eitlen Vogel nicht eindrucksvoll genug? Hex, hex - hinfort mit dir!", rief er übermütig - und japste gleich darauf, als sich der junge Pirat ohne Vorwarnung auf ihn warf und ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden drückte. Allerdings lachte er dabei so heftig, dass er ihn dort nicht halten konnte und sich Charlie nach einer kurzen Rangelei wieder hochkämpfen konnte.
„Du bist... so... dämlich, yoi? Hex, hex... ich fass es nicht...", schnaufte der Ältere, noch immer atemlos lachend, und setzte sich wieder neben seinen ebenfalls glucksenden Freund an die Felswand. Der Angesprochene störte sich nicht daran, sondern war einfach glücklich, dass er ihn wieder zum Lachen gebracht hatte. So gefiel ihm das schon wieder sehr viel besser! Ihre Lage war ernst genug... da brauchte er vorerst wirklich nicht mehr düstere Gedanken.
Und ganz davon abgesehen klang das für ihn eben doch nach Zauberkräften!
„Werden sie nach uns suchen?", kam schließlich auch Marco nach einer kleinen Weile müde auf ihre aktuelle Situation zurück, doch Charlie schüttelte beruhigend den Kopf.
„Nein, dazu haben sie weder Grund noch Muße... eine Flucht von hier ist eigentlich unmöglich und wir sind realistisch betrachtet auch absolut wertlos für sie - Bettelkinder gibt es genug in Khadir, wir werden sicherlich schnell ersetzt. Also weshalb sollten sie sich die Mühe machen, uns in den Bergen zu suchen? Nö, da haben sie echt besseres zu tun", antwortete er vollkommen sicher und hörte ein erleichtertes Aufatmen neben ihm.
„Gut... dann brauchen wir keine Wache halten und können beide schlafen, yoi? Wir müssen uns echt ausruhen..." Seine Worte wurden von einem herzhaften Gähnen unterstrichen, das Charlie augenblicklich ansteckte.
„Seh ich genauso..." brummte er zustimmend, breitete die Matten auf dem Stein aus und rollte ihre beiden Decken zusammen, damit sie sie als Kissen benutzen konnten. Erleichtert streckten sie sich dicht nebeneinander aus und versuchten, es sich auf dem harten Stein halbwegs bequem zu machen. Die dünnen Strohmatten halfen da aber nicht besonders viel.
„Nochmal danke, Charlie... für alles...", murmelte Marco auf einmal und gähnte erneut herzhaft. Der Angesprochene lächelte.
„Quatsch, ich muss eher DIR danken. Bis auf gestern waren das... die absolut schönsten Tage meines Lebens!", erwiderte er müde, aber aus tiefstem Herzen. Sein Freund grummelte verlegen, ehe er schnaubte und nach seiner Hand fasste.
„Warts ab, das krieg ich noch viel besser hin, wenn wir erst auf dem Schiff sind! Dann kommst du mit dem schöne-Tage-zählen gar nicht mehr mit, yoi?", prophezeite er mit einem hörbar selbstsicheren Lächeln in der Stimme, das Charlie leise lachen ließ.
„Weißt du, das glaub ich dir auf der Stelle. Ich freu mich drauf!"
„Und ich mich erst! Gute Nacht, Schokolöckchen!", grinste Marco und bekam postwendend einen Tritt verpasst.
„Gute Nacht, blöder Vogel...", kicherte der Jüngere und erntete dafür eine Kopfnuss. Keine drei Minuten später waren sie erschöpft eingeschlafen - ohne einander loszulassen.
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Als sie erwachten, war die Sonne schon fast wieder untergegangen. Ihre Felsnische lag im Schatten und der hindurchpfeifende Wind ließ sie tatsächlich frösteln - nachts wurde es in dieser Wüstenregion immer empfindlich kalt. Gähnend und mit schmerzenden, steifen Gliedern rappelten sie sich auf.
„Okay, auf Stein schläft es sich echt mies...", ächzte Marco streckte vernehmlich knacksend seine Glieder. Charlie stimmte ihm mit leidvoll verzogenem Gesicht zu und faltete ihre Decken zusammen, während Marco in ihrem provisorischen Sack wühlte, um ihnen etwas zu essen zu suchen.
„Wie spät ist es?", wollte der Lockenkopf wissen und tastete sich zum Wassergefäß, um seine trockene Kehle loszuwerden.
„Mmh... schätze etwa fünf oder sechs? Ich würde sagen, wir essen kurz was und machen uns dann nochmal auf die Socken, solange es noch halbwegs hell ist. Auch wenn du sagst, dass sie uns nicht suchen... mir geht's besser, wenn wir mehr Abstand zwischen uns und diese Penner bringen. Und ein paar Stunden ist es ja noch hell, die sollte wir nutzen...", antwortete er grimmig, ehe er unvermittelt innehielt. „Wow... hast du das alles geschnitzt?"
Charlie legte ein wenig verlegen den Kopf schief.
„Ja, wozu brauch ich sonst ein Schnitzmesser. Gefällts dir?"
„Und wie! Die sind echt gut... was hast du da alles? Eine Seerose... einen fliegenden Kranich... ein Mond mit Wolken und Sternen... und was ist das?", fragte Marco interessiert. Sein Freund tastete danach und lächelte.
„Eine Gottesanbeterin. Ein sehr seltenes Insekt, aber ein echt Faszinierendes! Es ist spannend, wenn man es beim Jagen beobachtet... meine Mutter hat sie mir immer gezeigt, wenn sie eine gefunden hat", antwortete er versonnen und erinnerte sich daran. Marco schwieg, während er offenbar die Schnitzwerke betrachtete.
„Du konntest also mal sehen... und das sind alles Dinge, die du nicht mehr sehen und auch nicht fühlen kannst, yoi?", lautete nach einer Weile seine leise Vermutung. Charlie zog unbehaglich die Schultern hoch.
„Ja... und ja. Die schönen Dinge im Leben fehlen mir manchmal schon. Die Tiere, die Farben, der Himmel, die Natur... weißt du... früher hab ich gern gemalt. Meine Mutter konnte das unglaublich gut und hat es mir beigebracht... das vermisse ich schon. Darum versuche ich, meine Erinnerungen daran zu schnitzen, sodass ich sie wenigstens irgendwie anfassen kann. Das Schnitzen hat mir mein Onkel mal gezeigt. Darin war ich nicht ganz so gut, aber naja... Übung macht den Meister, oder? Und so kann ich wenigstens noch ein bisschen was Schöneres mit den Händen machen als nur zu arbeiten", seufzte er und schmunzelte kurz darauf. „He, weißt du, dass das der erste Tag seit Jahren war, an dem ich nicht gearbeitet hab? Und ich hab ihn größtenteils verschlafen..."
Marco entging die gewollte Ablenkung vom Thema sicherlich nicht, aber er ging drauf ein und schnaubte belustigt, ehe er ihm zwei Datteln in die Hand drückte.
„Dann wurds ja höchste Zeit. Und schlafen oder faulenzen ist das Beste, was man an freien Tagen machen kann! Auf dem Schiff hab ich viel frei, grade bei langen Seereisen hat man oft tagelang kaum was zu tun. Aber das wirst du dann schon selber sehen!"
Interessiert hörte er zu und biss ab. Dieses Thema gefiel ihm besser als über Dinge zu sprechen, die nun mal vergangen waren.
„Wow... ehrlich? Ist das nicht langweilig? Und was musst du machen, wenn du doch was zu tun hast?", hakte er neugierig nach.
„Nö, wirklich langweilig isses selten. Dazu hab ich ja meine Familie, yoi? Irgendwie kann man sich immer beschäftigen. Und ansonsten... naja, ich bin ja zusammen mit meinem Bruder Jozu einer der Schiffsjungen an Bord, also... machen wir quasi die Drecksarbeit. Wir schrubben das Deck, flicken Segel, streichen oder wachsen das Holz wenns nötig ist, helfen in der Küche und gehen auch sonst jedem zur Hand, der uns braucht. Aber wir lernen auch viel, da legt Paps großen Wert drauf! Er und meine Brüder bringen uns kämpfen bei und auch sonst alles, was wir über das Meer und die Seefahrt wissen müssen!", berichtete Marco mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. Charlie legte nachdenklich den Kopf schief.
„Das klingt echt toll... aber sag mal, wie kam deine Familie dazu, über das Meer zu segeln und Piraten zu werden? Wo habt ihr vorher gewohnt? Und wie viele seid ihr?"
Marco stutzte bei seiner Frage zunächst fühlbar verwirrt, dann lachte er jedoch laut auf.
„Hahahaha... entschuldige, aber das hast du falsch verstanden: Wir sind keine blutsverwandte Familie, sondern eine bunt zusammengewürfelte Piratencrew aus allen möglichen Ecken der Welt, yoi?", erklärte er belustigt und trank etwas Wasser, bevor er aufstand. „Hey, bevor wir weitergehen... darf ich mir eine Garnitur deiner Klamotten nehmen? Meine Sachen sind inzwischen einfach nur eklig, ich kann mich echt nicht mehr riechen und es sieht nicht so aus, als kämen wir bald zu einem Bad!"
Charlie gluckste.
„Na klar, bedien dich ruhig und nimm dir, was du brauchst... auch wenn ich befürchte, dass dir das alles ein bisschen zu klein sein könnte!"
„Danke! Ach, das geht schon irgendwie... so viel kleiner bist du jetzt auch nicht. Hauptsache, ich bin den Dreck, den Schweiß und das getrocknete Blut los. Und die Fliegen, die das anlockt...", brummelte der Ältere angewidert, wühlte in dem Sack und zog sich gleich darauf um. „Uff, das fühlt sich gleich um Welten besser an... Sollen wir weiter?"
Charlie nickte, erhob sich und schulterte das Wasser, ehe er zu seinem Freund trat und ihm wie schon auf dem Weg zuvor die rechte Hand auf die Schulter legte. In der Linken hielt er seinen Stock, mit dem er den Boden seitlich abtasten konnte, aber das war zumeist nicht nötig - Marco führte ihn ausgesprochen gut. Gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg.
„Wenn ihr gar nicht verwandt seid... warum nennst du ihn dann Vater? Ist er dann nicht dein Kapitän?", nahm Charlie das Gespräch von vorhin wieder auf. „Sag es, wenn ich zu viel frage..."
Doch der lachte unbekümmert.
„Quatsch, wir haben eh nichts anderes zu tun. Also so gesehen hast du natürlich recht, Pops IST mein Kapitän. Aber eben nicht nur, yoi? Weißt du, normalerweise haben Piratencrews eine Art zweckdienliches oder eher hierarchisches System - also ähnlich wie bei Soldaten. Es gibt einen Kapitän und den Vizekapitän, dem gehorcht werden muss und je nach Größe der Crew noch Offiziere oder Kommandanten. Oder aber sie pflegen ein enges, kameradschaftliches Verhältnis zueinander und sind gute Freunde oder sogar wie Brüder. Aber Pops ist in der Hinsicht ziemlich einzigartig..." Ein sehr warmer Unterton schlich sich in seine Stimme. Ein Ton, so voll aufrichtiger Bewunderung und... Liebe, dass Charlie unwillkürlich lächeln musste. „Er ist einer der wenigen Piraten, die es nicht auf Ruhm oder Reichtum abgesehen haben - sein großer Traum war es schon immer, eine Familie zu haben. Familie und Freiheit. Und den hat er sich vor über zwei Jahren erfüllt, als er seine eigene Piratencrew gegründet hat... denn er behandelt uns wie seine eigenen Kinder. Er kümmert sich um uns, beschützt uns, gibt uns Ratschläge, ist für uns da... er kennt uns und er liebt uns, so wie wir sind, und dabei ist es ihm ganz egal, wo wir herkommen oder was in unserer Vergangenheit passiert ist! Nur, wer wir jetzt sind, zählt für ihn, und das bedeutet uns unheimlich viel. Er mag vielleicht nicht unser Erzeuger sein, aber er ist unser Vater, in jeder nur denkbaren Hinsicht - und dafür lieben wir ihn. Wir würden durch die Hölle für ihn gehen, so wie er das auch für jeden von uns tun würde!"
Staunend lauschte Charlie ihm und schwieg, während er über all das nachdachte. Das klang... wunderschön. Eine Familie sein, ohne tatsächlich verwandt zu sein - das hätte er nie für möglich gehalten. Aber Marcos Stimme hatte mehr als nur deutlich gemacht, dass es genau das war.
„Sag mir, über was du nachdenkst", bat eben jener nach einer ganzen Weile und ergriff kurz seine Hand fester, um ihn besser führen zu können, als sie an eine Engstelle kamen. Konzentriert hielt Charlie sich an ihm fest und tastete sich vorsichtig an dem zerklüfteten Felsstück vorbei, das vermutlich bei einem Erdrutsch auf dem Pfad gelandet war. Erst als sie daran vorbei waren, atmete er auf.
„Über das, was du gesagt hast. Es... klang zuerst ein bisschen komisch, sich seine Familie einfach so auszusuchen. Aber eigentlich... eigentlich ist das ein schöner Gedanke. Wenn man sich nicht wegen seinem Blut zu irgendwas verpflichtet fühlen muss... sondern es aus freien Stücken tut, weil man sich bewusst für etwas entschieden hat", antwortete er langsam und lächelte wehmütig. „Doch, es hört sich wirklich schön an, sich für eine Familie entscheiden zu können!"
Marco schwieg nun ebenfalls einen Augenblick, ehe er seufzte und kurz Charlies Hand drückte.
„Klingt, als hättest du auch gern eine andere gewählt...", mutmaßte er bedauernd, aber zutreffend, denn er spürte sein ertapptes Zusammenzucken. „Keine Sorge, das versteh ich. Von meinen Geschwistern weiß ich, dass viele Eltern einfach nur scheiße sind!"
Unwillkürlich prustete Charlie bei dem trockenen Kommentar seines Freundes, doch es erleichterte ihn auch gleichzeitig ungemein, das zu hören. Er war von klein auf strengstens dazu erzogen worden, seine Eltern und vor allem seinen Vater mit dem höchstmöglichen Respekt zu behandeln - auch nur schlecht von ihm zu denken fiel ihm schwer, geschweige denn, schlecht von ihm zu reden.
„Stimmt, zumindest hätte ich... gern einen anderen Vater gewählt. Meiner war echt... ehm... nicht so toll", gab er seufzend zu und kratzte sich verlegen am Kopf. „Wie war das bei deinen richtigen Eltern? Und darf ich fragen, wie du... ähm... wie du bei... naja..."
„...wie ich bei Pops gelandet bin, yoi?", beendete der junge Pirat schmunzelnd seinen Satz und lachte. „Himmel, ich muss dir mal so richtig das Fluchen beibringen! ‚Nicht so toll'... pah, du bist viel zu höflich! Und natürlich darfst du fragen, ist kein Geheimnis. Nur keine besonders schöne Geschichte, fürchte ich... ach, shit!" Er fluchte plötzlich und hielt an, weshalb Charlie ebenfalls innehielt und seine Aufmerksamkeit wachsam auf seine Umgebung richtete. Doch er konnte weder etwas Besorgniserregendes hören noch fühlen.
„Was ist los?"
Marco atmete geräuschvoll aus, griff nach seiner Hand und legte sie auf einen Felsen neben sich.
„Bleib mal kurz hier stehen, yoi? Der Weg wird da hinten wohl etwas... schwierig. Ich kundschafte ihn lieber erst mal alleine aus bevor wir weitergehen. Setz dich ruhig hin und wart auf mich, okay?"
Der Weg wurde schwierig? Charlie schwante übles, doch er nickte nur und ließ sich vorsichtig auf den steinigen Boden nieder, während er den Sack von Marco entgegennahm und dann den sich entfernenden Schritten seines Freundes lauschte. Tonlos seufzte er. Na, herrlich... ein schwieriger Weg in den Bergen... als ob es für einen Blinden nicht so schon schwierig genug wäre! Aber vielleicht fand Marco ja einen anderen Weg... oder er war gar nicht sooo schlimm, wie er auf den ersten Blick schien? Er betete dafür.
Um sich von der aufkommenden Furcht abzulenken, tastete er den Boden um sich herum ab, fand jedoch nichts sonderlich Spannendes. Nichts als Felsen, unterschiedlich große Steine und vom Wind hochgetragenen Sand... doch nach ein paar Minuten Stille hörte er plötzlich etwas. Eine Art feines, sehr melodisches Zirpen drang an seine Ohren. Es klang fast wie ein Lied oder eine Melodie. Oooh, das war doch... aber ausgerechnet hier? Neugierig legte er den Kopf schräg und konzentrierte sich auf seinen ominösen siebten Sinn, bis er ein kleines Stück entfernt eine schwache Präsenz spürte. Mit Hilfe seines Stockes kroch er noch etwas weiter, bis er das Gesuchte fand, das offenbar zwischen zwei größeren Steinbrocken kauerte. Vorsichtig tastete er über den Rand der Öffnung, bis er die charakteristischen, hauchfeinen, aber äußerst widerstandsfähigen Fäden spürte, die er dort schon vermutet hatte. Sobald seine Finger einen Faden berührt hatten, erstarb das leise Geräusch. Mit einem Schmunzeln stupste Charlie rhythmisch gegen das Gespinst, doch entgegen seiner Erwartung ließ sich niemand blicken.
„He, ich weiß doch, dass du da bist!", murmelte er und beugte sich näher an den Spalt heran, sodass er die Präsenz besser wahrnehmen konnte. Sie war tatsächlich sehr schwach, schwächer als sie sein sollte. Oder kleiner? „Ohje... du findest hier nicht zu fressen, stimmts? Aber du solltest hier doch auch gar nicht sein!" Grübelnd legte er die Stirn in Falten und betastete die Umrisse des Felsspaltes. Wenn das Tier da reinpasste, handelte es sich eindeutig um ein Jungtier. Na, so ein Glück! Er richtete sich wieder auf, tastete sich zurück zu ihrem Gepäck und kramte eine Dattel hervor, die er mit seinem Schnitzmesser in zwei Hälften schnitt. Wieder bei dem Felsspalt angekommen, legte er eine Hälfte davon auf seine flache Hand und legte sie vorsichtig ein Stück in den Spalt hinein.
„Wehe, du beißt mich! Ich will dir nur helfen, ja?", warnte er den Bewohner scherzhaft und verharrte dann möglichst regungslos. Es dauerte jedoch nur wenige Sekunden, dann stupste ein haariges Beinchen prüfend gegen seine Finger und zog sich hastig wieder zurück.
‚Da hat wohl jemand mächtig Hunger', dachte er und sein Lächeln wurde breiter, als sich das Spiel wiederholte und er erneut angestupst wurde. Als auch dann nichts geschah, waren es ein paar mehr Beinchen, die langsam auf seine Hand krochen und sich der Dattel näherten. Auch sie wurde kurz angestupst, doch dann machte sich das Tier direkt über die lang ersehnte Mahlzeit her, ohne sich überhaupt erst die Mühe zu machen, die Beute zu verschleppen. Es war eindeutig wirklich, wirklich hungrig!
Geduldig blieb Charlie auf dem Bauch liegen und spürte, wie die halbe Dattel gründlich verspeist wurde. Als sie verputzt war, stupste das Beinchen fordernd gegen seinen Daumen - oder eher prüfend, denn im nächsten Moment wurde er doch gebissen.
„He! Aua... ich sagte doch nicht beißen", schimpfte er milde, denn wirklich wehgetan hatte es nicht. Es war mehr eine nachdrückliche Aufforderung gewesen als ein Angriff. Also zog auch die andere Dattelhälfte hervor und hielt sie dem Tier hin. Er hörte das begeisterte Klicken von Kieferzangen, ehe die Frucht zaghaft aus seinen Fingern gezogen wurde. „Na also, das schmeckt besser als schmutziger Daumen, oder?"
Natürlich erhielt er keine Antwort, aber es war auch so offensichtlich, dass die Dattel mehr Anklang fand als sein Finger. Ein paar Minuten später horchte Charlie auf, als er endlich sich nähernde Schritte hörte.
„Bin wieder da! Ähm... was machst du da?", erklang auch schon Marcos verdutzte Stimme, als er seinen Freund auf dem Boden liegend und mit einer Hand in einer Felsspalte steckend vorfand.
Der Lockenkopf grinste.
„Mein Abendessen verschenken und zum Dank dafür gebissen werden!", antwortete er unbekümmert und konnte beinahe hören, wie sein Freund die Brauen hob, um ihn ungläubig anzusehen. Aber es lag auch eine gute Portion Neugierde in seiner Stimme.
„O...kay? Und was genau beißt dich da?"
„Ein Dünensänger. Die leben aber normalerweise gar nicht in den Bergen! Das hier ist ein Jungtier, das sollte in Oasen oder auch auf Plantagen oder Feldern sein, weil sie sich in dem Alter noch von Früchten ernähren. Wenn sie erwachsen werden, siedeln sie in die Wüste um und gehen dort auf Beutejagd!", erklärte Charlie. Marco gab ein interessiertes Brummen von sich.
„Verstehe, aber dann wird es hier doch verhungern, yoi? Wie kommt es überhaupt hier hoch?", wollte er wissen und hockte sich neben ihn. „Darf ichs mal sehen?"
„Ich hab keine Ahnung, wie es hergekommen ist... möglich, dass ein starker Sandsturm das Ei hier hochgeweht hat? Aber klar kannst du es sehen, es hat sowieso grade fertig gegessen, vielleicht schaff ichs ja, dass es noch ein bisschen auf meiner...", begann er, brach dann jedoch ab und legte verdutzt den Kopf schräg. Das nun offensichtlich gesättigte Tier hatte seine Hand anscheinend zu seinem neuen Nest erklärt, denn es schob seinen ganzen Leib auf seine Handfläche und spann einige Fäden um seine Finger und auch über sich selbst, wie ein Fangnetz. Dann klappte es seine acht Beine um sein neues Bett herum ein und gedachte dort nun offenbar zu ruhen.
Charlie kicherte.
„Ich glaub, ich hab einen neuen Freund gefunden!" Sehr vorsichtig zog er seine Hand hervor - und Marco schnappte hörbar nach Luft.
„Willst du mich verarschen?! Heilige Scheiße, das ist die riesigste Spinne, die ich je gesehen hab!", stieß er schockiert hervor, was Charlie erstaunt innehalten ließ. Wieso groß? Sie passte doch sogar noch auf seine Handfläche!
„Ehrlich? Aber sie ist doch noch so klein! Ich schätze, erst vor wenigen Tagen geschlüpft. Wenn sie ausgewachsen ist, ist sie größer als ein Gockel... Dünensänger sind sehr selten, sehr klug und klingen wunderschön; bei uns bedeutet es Glück, wenn man einem begegnet! Und sie sehen einfach süß aus, das musst du doch zugeben", wunderte er sich, was dem jungen Piraten nun doch ein Glucksen entlockte, obwohl seine Skepsis noch deutlich fühlbar war.
„Na schön, du hast recht. Ich hab noch nie eine Spinne gesehen, die flauschig aussah... oder mich mit so großen Kulleraugen angeschaut hat, yoi?", schmunzelte er und fuhr sich durchs Haar. „Die normalen Spinnen auf anderen Inseln sind viel kleiner, manche klein wie Tautropfen und die größeren so groß wie Münzen. Nur im Dschungel gibt's größere... aber die sehen alle absolut nicht mal im Entferntesten irgendwie süß aus!! Sondern echt gruselig, darum hab ich mich auch zuerst erschreckt!"
Fasziniert hörte Charlie zu. Er konnte sich das gar nicht vorstellen, wie Spinnen gruselig aussehen konnte. Er kannte nur Dünensänger, und die waren einfach wirklich süß. Sie besaßen vier Augen: zwei riesige, dunkle Kulleraugen und daneben je ein weiteres kleineres Auge. Ihr ganzer Körper war mit weichen, sensiblen Haaren bedeckt, die unterschiedliche Farben und Muster haben konnten. Apropos...
„Sag mir mal welche Farbe die hier hat! Die sehen nämlich alle unterschiedlich aus!"
„Hauptsächlich weiß mit ein paar schwarzen Mustern am Hinterteil, und um die Augen rum ist sie blau... sie sieht aus wie du mit blauer Augenbinde!", stichelte er, was ihm prompt einen Tritt einbrachte. Doch Charlie grinste.
„Idiot. Aber dann ist es ein Weibchen... die haben ein blaues Muster. Männchen ein gelbes. Bloß was mach ich jetzt mit ihr? Hier verhungert sie doch...", seufzte er besorgt, was Marco ein Lächeln entlockte.
„Ich schätze, wir nehmen sie mit, yoi? Sie hängt ja offenbar an dir...", antwortete er scherzhaft, ehe sein Ton ernst wurde. „...und sie lenkt dich vielleicht auch etwas ab..."
Sofort horchte Charlie auf.
„Ablenken...?", hakte er verzagt nach. Oh nein, war der Weg doch SO schlimm? Sein Freund seufzte tief.
„Ja... hey, es tut mir echt leid, aber der Pfad ist da vorne bis auf ein schmales Stück fast komplett weggebrochen. Wir müssen uns an der Felswand entlangschieben... dahinter geht es aber wieder gut weiter, ich hab sogar eine kleine Höhle entdeckt!"
„An einer Felswand ENTLANGSCHIEBEN?!", widerholte Charlie und bemühte sich nicht einmal, die Panik aus seiner unnatürlich hohen Stimme zu verdrängen. Er sollte allen Ernstes an einem verdammten Abgrund entlangkraxeln? ER?!
Beruhigend packte Marco ihn am Arm.
„Ja, und du schaffst das, yoi? Ich pass auf dich auf, versprochen! Ich bring zuerst unsere Sachen nach drüben in die Höhle, es ist eh bald dunkel. Und dann hol ich dich! Von da drüben aus führt der Weg weiter nach oben um die Bergflanke herum, von da aus hab ich bestimmt eine super Aussicht aufs Meer und kann Vaters Schiff sehen, wenn er endlich kommt! Und in der Höhle finden wir Schutz vor der Sonne oder Wind", antwortete er und ehrliches Bedauern klang aus seiner Stimme, als er fortfuhr. „Es tut mir wirklich leid, Charlie. Ich weiß, dass dir das Angst macht, aber hier auf dieser Seite des Berges sind wir nicht nur ungeschützt, sondern beide blind... ich seh das Meer von hier aus nicht. Hier kann uns niemand helfen. Wir müssen da rüber, okay?"
Charlie entwich ein Stöhnen; alles in ihm sträubte sich dagegen, auch nur im Entferntesten daran zu DENKEN, doch Marcos Argumente klangen leider viel zu einleuchtend... und er vertraute ihm inzwischen wirklich vollkommen. Wenn er sagte, dass es keinen anderen Weg gab, dann gab es keinen. Und es brachte ja wirklich nichts, wenn sie einfach hier bleiben würden...
Oh, Mist.
„Okay", flüsterte er und atmete tief durch. Marco klopfte ihm aufmunternd gegen den Arm.
„Wir kriegen das hin. Also dann warte kurz hier, ich bring das Zeug rüber! Denk dir so lang doch nen Namen für das Ding da aus, dann bist du beschäftigt...", entgegnete er betont locker, ehe er sich das Wasser schnappte und wieder verschwand.
Unglücklich hockte Charlie sich hin. Na toll, was für eine Freude...
„Also schön... ein Name für dich...", murmelte er und befolgte damit Marcos Rat, sich abzulenken. Grübelnd strich er mit den Fingern über den flauschigen Spinnenkörper, der hartnäckig in seiner Hand sitzen geblieben war. Ein ausgesprochen ungewöhnliches Verhalten. Eigentlich waren diese Tiere nämlich ziemlich scheu und keineswegs in irgendeiner Form zutraulich, weshalb man sie kaum zu Gesicht bekam, sondern maximal ihren Gesang hörte. Nur in Büchern waren Bilder zu finden, oder auch als seltene Exoten in Käfigen. Genau da hatte er vor vielen Jahren einmal eine gesehen... und sie wunderschön gefunden. Das war aber ein ausgewachsenes Exemplar gewesen; diese hier war wirklich klein, ganz egal, was Marco auch sagte.
„Du bist eine bezaubernde kleine Dame, stimmts? Aber du wächst schon noch... und wirst ganz bestimmt sogar noch schöner! Also... hm... brauchst du auch einen schönen Namen. Hey, wie wärs mit Ziba? Das bedeutet ‚schön'!", schlug er vor, bekam jedoch erwartungsgemäß keinerlei Reaktion. Interessehalber hob er die beschlagnahmte Hand hoch und drehte sie in verschiedene Richtungen, doch Ziba rührte sich keinen Millimeter. Ihre um seine ganze Hand geklammerten Beinchen und die gesponnenen Fäden hielten sie an Ort und Stelle, und sie schien sich nicht sonderlich an seinen Bewegungen zu stören. „Klammerst du dich so auch an Palmen und Büschen fest? Oder... aaaah... nein, lass mich raten: an deinem Muttertier? Na, herrlich..." Das würde natürlich ihr untypisches Verhalten erklären. Dünensänger betrieben nämlich Brutpflege in den ersten Wochen, wenn er sich recht erinnerte. Wenn das Tier wirklich erst kürzlich geschlüpft war... hatte es ihn wohl jetzt einfach zur Mutter erklärt, nachdem er für etwas Essbares gesorgt hatte. So schnell trug er plötzlich die Verantwortung für ein Lebewesen... ohje.
Seufzend lehnte er sich an die Felswand und wartete geduldig auf die Rückkehr seines Freundes.
„Wieder da! Kanns losgehen?", fragte Marco eine Weile später. Unwillig verzog Charlie das Gesicht, sparte sich aber jeden Kommentar, sondern erhob sich folgsam. Als er stand, schnappte sich der junge Pirat erst seinen Stock und dann seine freie Hand und führte ihn ein Stück den Weg entlang. Schon bevor sie den kritischen Punkt erreichten, konnte er das zunehmende Pfeifen des Windes hören. Oh, Himmel...
Als Marco innehielt, schluckte er trocken und drückte Ziba vorsichtig gegen seine Brust. Hoffentlich stimmte es und Dünensänger brachten wirklich Glück!
„Okay... was vom Weg übrig ist, ist etwas mehr als einen Fuß breit, aber stabil. Eine Stelle wird besonders kritisch, weil da auch noch ein Überhang bei der Wand ist. Aber trotzdem: Du schaffst das, ja? Bleib ganz ruhig und halt meine Hand fest! Ich... ich erzähl dir auf dem Weg von meinen Eltern, yoi?"
„Ist gut...", stieß er kläglich hervor und wurde sanft von Marco mit dem Rücken gegen die Felswand gedrückt. Dann zog er ihn langsam und vorsichtig vorwärts.
„Also... geboren wurde ich auf einer Insel ziemlich weit weg von hier. Auf der ersten Hälfte der Grandline, um genau zu sein. Wir sind hier in der zweiten Hälfte; diesen Teil hier nennt man auch ‚neue Welt'... wobei ich vermute, dass dir das alles sowieso nichts sagt, oder?", begann Marco sofort und lenkte Charlie damit immerhin ein kleines bisschen von den Winden ab, die unheilvoll an seiner Kleidung zerrten - und den unheimlich hallenden Geräuschen, die ihm sagten, dass eine tiefe Leere vor ihm war. Als er erwartungsgemäß den Kopf schüttelte, fuhr Marco fort. „Macht nichts, die Weltkarte erklär ich dir mal in Ruhe. Auf jeden Fall hatte ich da eine echt große Familie... viele Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen. Unsere Familie war auch sehr einflussreich; sie hatten ein Talent für Handel und Organisation und haben es so zu großem Wohlstand gebracht. Es waren... allesamt auch wirklich nette Leute, soweit ich mich noch an sie erinnern kann. Ich war nur da, bis ich knapp fünf war. Ich weiß aber noch, dass sie trotz dem vielen Geld nie ihre Menschlichkeit verloren und sich auch immer um die Bedürftigeren gekümmert haben. Sie waren... einfach nett und großzügig zu allen, yoi?"
Charlie hörte zwar ausgesprochen interessiert zu und bemühte sich wirklich, sich ausschließlich auf seine Worte zu konzentrieren, doch es gelang ihm mehr schlecht als recht. Die Windböen zerrten immer wieder an seinen Kleidern und an einigen Stellen spürte er tatsächlich an seinen Zehen die Bruchkante, hinter der der unsichtbare Abgrund lauerte. Sein Magen rebellierte in diesen Momenten jedes Mal; er scheuerte sich vermutlich grade sein Hemd am Rücken durch, so panisch presste er sich an die Felswand hinter ihm.
Bloß nicht abstürzen... oh Gott, bloß nicht abstürzen...
„Und dann?", presste er mühsam hervor und zerquetschte vermutlich Marcos Hand, der jedoch tapfererweise kein Wort der Klage fallen ließ.
„Ganz ruhig bleiben, Charlie... du machst das super, yoi? Hör mir einfach zu... äh... also... du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber ich bin eigentlich kein besonders gesundes Kind. Oder war es bisher nicht; seit ich die Teufelsfrucht gegessen hab, fühl ich mich... anders. Stärker irgendwie und... ach, keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Egal, also ich war in meinen ersten Lebensjahren genau genommen ständig krank, und wenn ich nicht krank war, dann eben geschwächt von der letzten Krankheit. Das Leben in so großer Gesellschaft war aber auch ziemlich stressig und anstrengend und hat viele Verpflichtungen mit sich gebracht, deshalb haben meine Eltern entschieden, mit mir da wegzugehen. Sie... sind meinetwegen in den Eastblue gezogen, das ist ein weit entferntes, wesentlich ruhigeres Meer. Das hat es ein wenig besser gemacht... ich war immerhin nicht mehr ganz so oft krank. Zumindest zeitweise hab ich mich beinahe normal gefühlt, auch wenn ich unser Anwesen nicht verlassen durfte, weil sie sich dauernd Sorgen um mich gemacht haben, dass ich mich bei irgendwem mit irgendwas anstecke. Aber ich konnte immerhin ein bisschen spielen und vor allem lesen und lernen... doch dann wurde ich wieder krank. Richtig, richtig krank. Meine Eltern hatten solche Angst um mich, weil ich überhaupt nicht wieder gesund geworden bin. Wochenlang... monatelang..."
An dieser Stelle zuckte Charlie betroffen zusammen. Dieser letzte Satz weckte schmerzhafte Erinnerungen in ihm; er schluckte.
„Du... warst so lange krank?", flüsterte er bebend und atmete ein paar Mal tief durch. „Und wie... bist du wieder gesund geworden?"
Er fühlte Marcos fragend-besorgten Blick auf sich liegen, ehe er antwortete.
„Mein Onkel. Er hatte mich sehr gern und hat Nachforschungen über meine Krankheit angestellt, bis er tatsächlich ein Heilmittel hat finden können. Er brachte es mir und blieb eine ganze Weile, bis es mir wirklich wieder gut ging. Bei seiner Suche hat er jedoch noch etwas anderes gefunden... eine alte, codierte Karte, die er versucht hat, zu entschlüsseln. Es ist ihm aber nicht ganz gelungen, also ist er wieder abgereist, um zum Hauptsitz unserer Familie zurückzukehren und vielleicht dort Antworten zu finden", berichtete er, und schon am zunehmend leisen und bitterer werdenden Tonfall wusste Charlie, dass nun etwas Schlimmes kam. Besorgt wandte er ihm den Kopf zu, während er weiterhin tapfer versuchte, den unsichtbaren Abgrund direkt vor ihm bestmöglich auszublenden. Der kalte Schweiß auf seiner Stirn zeugte jedoch nicht von großem Erfolg.
„Mein Onkel kam nie dort an. Und selbst wenn er angekommen wäre... hätte er dort niemanden mehr angetroffen. Sie... waren alle tot...", knurrte Marco verbissen, und nun waren es seine Finger, die die von Charlie beinahe zerquetschten. Doch er hielt sich klaglos weiter an ihm fest. „Das hab ich aber erst später erfahren. Weil ein paar Wochen nach seiner Abreise... gab es... gab es plötzlich eine Explosion in unserem Haus und alles ging in Flammen auf. Meine Eltern und... und... unsere Angestellten sind im Feuer gestorben. Ich hab nur überlebt, weil mein Kindermädchen mit mir aus dem Fenster gesprungen ist..."
Betroffen stöhnte Charlie auf. Das klang entsetzlich! Aber... leider irgendwie auch entsetzlich vertraut.
„Es tut mir so leid, Marco... ehrlich...", flüsterte er unglücklich. Sein Freund atmete schwer aus.
„Danke... meine Eltern waren wirklich gute Menschen, sowohl zu mir als auch zu allen anderen. Sie haben ihr Zuhause meinetwegen aufgegeben, sind weggezogen... und haben der Insel, auf der wir uns niedergelassen haben, zur Blüte verholfen. Durch meine Eltern und ihr Wirken kam der Handel dort erst richtig in Schwung, alle mochten sie und haben sie dafür respektiert...", murmelte er heiser und schniefte leise, ehe er so fest die Zähne zusammenbiss, dass Charlie es trotz des pfeifenden Windes hören konnte. Gleich darauf erfuhr er auch wieso.
„Okay Charlie... jetzt kommt die Engstelle, von der ich dir erzählt hab", ergriff Marco wieder beherrschter das Wort und hielt inne. Seine Worte ließen seinen Magen schmerzhaft zusammenkrampfen.
„O... okay...?", stieß er hervor und schluckte krampfhaft. Marco rückte näher an ihn und legte Charlies Hand auf seine Schulter, während er seine eigene fest gegen dessen Brust drückte.
„Wir machen das ganz langsam, yoi? Die Felswand krümmt sich hier nach außen, sodass du dich vorbeugen musst... aber ich halt dich fest! Du fällst nicht, versprochen!"
VORBEUGEN?
ÜBER DEN ABGRUND?
Charlie wurde jetzt schon schlecht. Aber was hatte er für eine Wahl? Also sollte er wohl besser versuchen, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er presste seine Kiefer aufeinander und drückte die zweite, von Ziba umklammerte Hand fest an Marcos Arm, ehe er begann, sich langsam vorwärtszuschieben. Marco passte sich seinem Tempo an und führte ihn.
Schon nach wenigen Schritten begann sich die Felswand zu wölben und zwang ihn dazu, sich immer weiter nach vorne zu lehnen. Es war ein grauenhaftes Gefühl; Charlie musste mehrmals hintereinander keuchend innehalten, weil seine Beine drohten zu versagen.
„Du machst das wirklich toll... ganz langsam weiter, yoi? Die Höhle ist dann auch nicht mehr weit, dann haben wirs geschafft... dort können wir erst mal bleiben...", redete Marco ihm gut zu und Charlie war ihm dankbar dafür, auch wenn er sich vorkam wie der allerletzte Jammerlappen. Auf diese Weise arbeiteten sie sich gemeinsam vorwärts. Es fühlte sich endlos an, waren vermutlich aber keine zwanzig Meter weit - als plötzlich ein winzig kleines Stück Fels unter Charlies Fuß wegbrach. Es beeinträchtigte seinen Stand nicht, aber dieses furchtbare, entsetzliche Geräusch des Steinchens, das mehrfach aufprallend und mit deutlichem Nachhall in die Tiefe krachte, war zu viel für seine Nerven. Ihm entwich ein Wimmern, die Panik lähmte ihn vollständig und schnürte ihm die Kehle zu.
„I-I-Ich... k-kann... das... n-n-n-n-nicht!!!", stieß er nach Luft schnappend hervor und presste sich schlotternd an die Felswand.
„Hey, beruhig dich! Shhh... ganz ruhig, yoi? Du kannst das, Charlie, das weiß ich! Ganz langsam atmen... du hast es doch beinahe geschafft...", versuchte Marco beruhigend auf ihn einzureden, doch es half gar nichts. Charlie spürte seine Beine nicht mehr vor lauter Angst und schüttelte nur panisch den Kopf, was seinen Freund hilflos fluchen ließ - ehe er abrupt schwieg. Und einen Augenblick später flackerte Licht von Marcos Hand auf, die noch immer auf Charlies Brust lag. Sofort durchfuhr ihn wieder dieses eigenartige Prickeln, das er schon einmal gespürt hatte. Unter normalen Umständen hätte er sich wohl erschrocken, doch diesmal... linderte es merkwürdigerweise seine Panik und löste ihn damit aus der lähmenden Starre. Sekunde für Sekunde wurde sein Atem etwas ruhiger, bis auch die Luftnot nachließ.
„Was...?", ächzte er fahrig und das Flackern erlosch. Marco grummelte.
„Das Feuer... die Teufelskraft... ich konnte sie wieder spüren! Aber jetzt ist es schon wieder weg... verdammt...", murmelte er und schüttelte den Kopf. „Geht's wieder? Alles okay?"
Okay war überhaupt nichts, er stand noch immer vorneübergebeugt viel zu nah an einem verdammten Abgrund, aber...
„Ich... kann wieder... klar denken, ja...", antwortete Charlie mit zusammengebissenen Zähnen. Sein Freund atmete auf.
„Gut, dann lass uns das letzte Stück hinter uns bringen, yoi? Ist gar nicht mehr weit... vielleicht fünf Meter noch, aber hier bei mir ist der Überhang schon wieder weg!"
Mit einem knappen Nicken setzte Charlie mit zitternden Beinen den verdammten Marsch fort, den Mund fest geschlossen und durch die Nase atmend, um nicht die Beherrschung über seinen rebellierenden Magen zu verlieren.
Am ganzen Körper bebend schob er sich Zentimeter für Zentimeter an der blöden Felswand entlang, bis sein Freund ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich zog - auf ein spürbar breiteres Stück Weg. „Geschafft! Wir sind drüben, du hast es hinbekommen!! Hier, komm zur Seite, der Steilhang ist jetzt gute drei Meter weg!"
Fahrig tastete er sich mit der Hilfe seines Freundes zu einem großen Felsen und lehnte sich keuchend dagegen... ehe er sich auf der Stelle die Seele aus dem Leib kotzte. Nicht, dass es in seinem Magen sonderlich viel zum Erbrechen gab, aber die Übelkeit beutelte ihn so heftig durch, dass er am ganzen Leib bebte und ihm der kalte Schweiß von der Stirn tropfte. Er schämte sich zutiefst vor Marco, aber er konnte nichts dagegen tun. Zu groß war seine Panik gewesen. Doch den schien das überhaupt nicht zu kümmern; im Gegenteil: er blieb dicht neben ihm stehen, hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest und rieb mit der anderen kräftig über seinen Rücken.
„Entschuldige...", keuchte Charlie schließlich, und wischte sich mit dem Ärmel über Stirn und Mund, als sich sein Magen wieder beruhigt hatte. Doch sein Freund schüttelte energisch den Kopf.
„Lass den Blödsinn, es gibt nichts zu entschuldigen. Kannst du wieder gehen? Die Höhle, die ich gefunden hab, liegt nur hundert Meter weg, dann kannst du dich besser ausruhen", fragte er hörbar besorgt und erntete ein Nicken, woraufhin er ihn sanft am Arm griff und langsam vorwärts zog.
Charlie folgte ihm schweigend; er war fix und fertig und stolperte mehr hinter ihm her, als dass er tatsächlich ging. Er wunderte sich ernsthaft, wie Ziba sich noch immer um seine schwitzige Handfläche klammern konnte - doch sie schien sich nicht daran zu stören, und ihr warmer, weicher Körper hatte etwas eigenartig Beruhigendes. Es dauerte aber zum Glück nicht lange, dann erreichten sie die von Marco entdeckte Höhle; Charlie spürte es sofort an der kühleren Luft und dem leichten Nachhall ihrer Schritte.
„Da, setz dich hin. Ich bring dir was zu trinken!"
Erschöpft ließ der Lockenkopf sich an einer Wand herabsinken und trank durstig, als Marco ihm die Kelle mit ihrem Wasser reichte. Es tat unheimlich gut, sich den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu spülen.
„Danke... für alles", seufzte er und spürte, wie der junge Pirat sich neben ihm niederließ.
„Für was? Dafür, dass ich dir Todesangst zumuten musste?", entgegnete er leicht sarkastisch, doch dann seufzte er ebenfalls und zog ihren behelfsmäßigen Sack zu sich. „Tut mir leid, ich... ich seh echt ungern, wenn jemand leidet... erst recht, wenn dieser jemand mein Freund ist, yoi?"
Charlie lächelte matt, aber aufrichtig. Es machte ihn noch immer unheimlich glücklich, wenn Marco ihn als Freund bezeichnete.
„Es muss dir nicht leidtun, ehrlich. Das eben war wohl für uns beide nicht leicht... MIR tut es leid, dass ich so ein Schisser bin, aber... grade weil ich nicht sehen kann, was auf mich zukommt, ist Fallen meine allergrößte Angst. Ich seh nicht, wie tief es ist... wo ich mich im Ernstfall vielleicht noch festhalten könnte oder wo ich besser nicht hintreten sollte...", erklärte er leise und schauderte bei dem Gedanken daran, woraufhin sich eine kühle Hand kurz um seine Finger schloss.
„Du bist kein Schisser... jeder hat doch Angst vor irgendwas, oder? Viele Leute würden einen Herzinfarkt kriegen, wenn ihnen eine fünfzehn Zentimeter große Spinne an der Hand kleben würde... aber du schleppst sie einfach mit dir rum als wär das völlig normal!", schmunzelte Marco hörbar, was aus Charlie glucksen ließ. Er hob die Hand, die Ziba zu ihrem Eigentum erklärt hatte, hoch und strich ihr leicht über den haarigen Körper.
„Stimmt wohl... sie braucht trotzdem einen besseren Platz, sonst kann ich meinen Stock nicht halten. Wie wärs, wenn wir die Datteln aus dem kleinen Gefäß anderweitig unterbringen? Da drin fühlt sie sich bestimmt wohl!", schlug er vor, was Marco mit einem zustimmenden Laut quittierte und anhand der raschelnden Geräusche auch direkt in die Tat umsetzte. Es dauerte nicht lang, bis er den kleinen, leeren Tontopf in den Händen hielt.
„Sollen wir ihn noch auspolstern?", fragte der junge Pirat, doch Charlie schüttelte den Kopf.
„Nö, wenn ihr das gefällt, dann baut sie sich da drin ihr eigenes Nest mit ihren Fäden!" Er stellte das Ding auf den Boden und schob behutsam seine Hand in die Öffnung, wo er sanft gegen ihren flauschigen Hinterleib stupste. „Na komm, Ziba! Da drin ist es besser als an meiner Hand, glaub mir. Da hast du eindeutig mehr Platz!"
Zuerst rührte sich das Tier nicht, doch als er es beharrlich weiter anstupste, löste sie langsam ihre Beinchen aus dem Klammergriff und tastete skeptisch ihre Umgebung ab. Doch es schien ihr tatsächlich zu gefallen - oder der Geruch nach Datteln überzeugte sie - und sie krabbelte von seiner Hand hinunter.
Erleichtert zog Charlie sie heraus und befreite sich von ihren Fäden.
„Jup, gefällt ihr. Wahnsinn, wie schnell sie anfängt zu weben!", murmelte Marco interessiert, ehe er seinem Freund gleich drei Datteln reichte. „Keine Wiederrede, dein Magen ist mehr als leer...", fügte er streng hinzu, als der Lockenkopf sofort Einspruch erheben wollte.
Zu erschöpft für einen Streit seufzte er nur ergeben und verspeiste langsam kauend sein Abendmahl. Charlie war wirklich müde, aber Marcos Geschichte spukten ihm noch im Kopf herum. Jetzt, wo er In Sicherheit war und Zeit hatte, darüber nachzudenken, gab es ein paar Dinge, die ihm daran seltsam vorkamen. Zum einen hatten er das meiste erstaunlich nüchtern erzählt... in einem Tonfall, als würde er etwas auswendig Gelerntes wiedergeben. Nicht, dass er irgendwie gelogen hätte, aber... es war kaum mehr als eine grobe Zusammenfassung gewesen. Zumal ein paar Stellen so geklungen hatten, als ließe er etwas Wichtiges aus. Der zweite, sehr auffällige Punkt war die Art und Weise, wie Marco über seine Familie sprach. Respektvoll und durchweg positiv zwar, aber... trotzdem auch seltsam distanziert, was vielleicht anderen Menschen nicht auffiel, aber für Charlies feines Gehör war der Unterton deutlich genug gewesen. Dass seine Familie ermordet worden war, war zwar eindeutig schlimm für ihn, doch... es fehlte der tiefsitzende Schmerz, den zum Beispiel er selbst empfand, wenn er an seine Mutter dachte. Merkwürdigerweise hatte er eben solch einen herausgehört, als er von der Explosion im Haus gesprochen hatte, bei dem seine Eltern und die Angestellten ums Leben gekommen waren. Mit Betonung auf Letzteren. Er konnte sich im Augenblick noch keinen Reim daraus machen, aber er würde auch nicht nachfragen. Nicht jetzt. Wenn Marco es nicht freiwillig erzählt hatte, dann musste das seine Gründe haben... und die respektierte er.
„Wie bist du ein Pirat geworden?", fragte Charlie deshalb nach einer Weile des friedlichen Schweigens. Marco atmete schwer aus.
„Hm... eher durch Zufall. Zuerst war ich bei meinem Kindermädchen, die mich zu meinen Verwandten bringen wollte. Bis wir... herausfinden mussten, dass... dass tatsächlich meine komplette Familie tot war. Dann wollte sie mich eigentlich selbst auf irgendeiner abgelegenen Insel großziehen, aber... ich hab ihr schon nach zwei Wochen einen Abschiedsbrief geschrieben und bin weggelaufen. Versteh mich nicht falsch, sie war ein lieber Mensch, yoi? Aber... total überfürsorglich, sogar noch schlimmer als meine Eltern davor. Sie hatte solches Mitleid mit mir... ihr kamen quasi jedes Mal die Tränen, wenn sie mich nur angesehen hat. Wegen dem Tod meiner Familie und meinem schwächlichen Körper hat sie mich behandelt wie ein rohes Ei... und das war so furchtbar für mich! Das klingt schrecklich undankbar, aber... es war einfach unerträglich...", versuchte er sich fast schon verzweifelt zu rechtfertigen, doch nun war es Charlie, der ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.
„Nein, das klingt nicht undankbar... ich versteh dich. Ständig daran erinnert zu werden, etwas verloren zu haben... ist viel schlimmer als das Weiterleben selber... und Mitleid macht einen nur noch schwächer, als man sich sowieso schon fühlt...", erwiderte er leise. Hörbar erleichtert atmete Marco auf.
„Ja... genau das ist es. Es ging mir schlecht damals und ich wollte einfach nur weg. Weg von dem Mitleid und weg, um eine Antwort darauf zu finden, warum meine ganze Familie sterben musste. Also hab ich mich auf Schiffen versteckt um zu fliehen. Das ist ne Weile gut gegangen... bis ein Frachtschiffkapitän mich entdeckt hat, weil ich mal wieder krank geworden bin und husten musste. Zum Glück waren wir da schon in einem Hafen; sie haben das Schiff grade entladen... sonst wärs übel für mich ausgegangen. Der war stinksauer, hat mich eine dreckige Ratte genannt und von seinem Schiff auf den Steg geschmissen. Dort wollte er mich zur Strafe verprügeln, aber bevor er zuschlagen konnte, hatte ER plötzlich eine Faust im Gesicht. Man ist der weit geflogen! Das war Pops, er hat auch grade dort geankert und das Ganze beobachtet. Als er gesehen hat, dass ich krank bin und niemanden hab, hat er mich mit auf sein Schiff genommen und mich als seinen Sohn adoptiert. Er hat mich gerettet... und mich niemals bemitleidet, sondern immer nur unterstützt und ermutigt!", erzählte er mit sehr warmer Stimme und brachte auch Charlie damit zum Lächeln. Er freute sich wahnsinnig für seinen Freund, dass er eine zweite Chance im Leben bekommen hatte, nach allem, was er verloren hatte.
„Das klingt wunderbar... ehrlich. Und... hast du Antworten gefunden?", wollte er noch leise wissen, und der leichte Lufthauch an seinem Gesicht verriet Marcos Kopfschütteln.
„Nein... der einzige Hinweis, den ich hatte, war diese codierte Karte, die aber mit meinem Onkel verschwunden ist. Das Einzige, das er hat decodieren können und mir im Gedächtnis geblieben ist, war der Name dieser Insel. Khadir..."
Überrascht schnappte Charlie nach Luft.
„DIESE Insel stand drauf?! Was hat das zu bedeuten?? Aber dann... dann bist du gar nicht durch Zufall hier?", sprudelte er verblüfft hervor. Warum um alles in der Welt gab es eine geheime Karte ausgerechnet über diese Insel? Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet...
Der junge Pirat seufzte - und es klang wirklich, wirklich niedergeschlagen.
„Nein, es war kein Zufall. Pops kam mir zuliebe her... also ist es auch meine Schuld, dass Andre und Rakuyou gefangengenommen worden sind, yoi? Nur wegen mir passiert grade weiß Gott was mit ihnen... bestimmt werden sie genauso schlecht behandelt wie wir... bekommen nichts zu trinken... müssen schuften... und das nur meinetwegen!! Wegen mir und meiner egoistischen, dummen Suche nach einer Antwort, die ich vermutlich sowieso niemals bekomme. Gott, Charlie... ich fühl mich so unglaublich mies deshalb", stöhnte er gequält und ließ mit einem dumpfen Geräusch seinen Kopf auf die Knie fallen.
Das tat Charlie in der Seele weh. Er rückte dichter an seinen Freund und legte tröstend den Kopf auf seine Schulter, nicht wissend, wie er ihn aufmuntern konnte. Wie würde er sich in seiner Situation fühlen? Vermutlich doch ganz genauso... aber was konnte er sagen, damit er sich nicht mehr so schlecht vorkam?
„Ich weiß, das hilft dir nicht wirklich weiter, aber... jeder andere hätte an deiner Stelle doch genau dasselbe gemacht, oder? Wenn man alles verliert, dann... dann würde doch wirklich jeder Mensch wissen wollen, wieso!! Jeder wäre deshalb eben auch diesem einzigen Hinweis nachgegangen. Das... das ist einfach nur menschlich und nicht egoistisch!", flüsterte er, ehe er leise seufzte und etwas aussprach, das er sich bisher nicht recht getraut hatte. „Und... auch wenn du hier leider keine Antworten gefunden hast und sich das wegen allem, was du und deine Brüder durchmachen musstet, vermutlich echt mies anhören muss, aber... ich... ich bin echt froh, dass ich dich kennenlernen durfte. Weißt du, die Zeit mit dir... das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich glücklich gewesen bin. Weil ich zum ersten Mal einen Freund gehabt hab! Und das werd ich nie vergessen, Marco..."
Der Ältere atmete abgehackt aus, dann lehnte er seinen Kopf gegen Charlies.
„Danke...", flüsterte er nur, doch in diesem einen Wort steckte so viel aufrichtige Dankbarkeit und Zuneigung, dass jedes Weitere überflüssig gewesen wäre.
Erschöpft von den Ereignissen des Tages blieben sie genauso hocken und dämmerten langsam in den Schlaf, als die Höhle auf einmal von einem zarten, melodischen Zirpen erfüllt wurde. Ziba war mit ihrem Nest offenbar fertig und hatte begonnen, auf ihre spezielle, ungewöhnliche Art darin zu musizieren.
„Deshalb Dünensänger...", murmelte Marco und gähnte. „Das klingt schön..."
„Mhm... tut es wirklich... und es bringt Glück...", antwortete Charlie müde und wurde vom Gähnen seines Freundes angesteckt. Gemeinsam lauschten sie den fremdartigen Tönen, bis sie beide eingeschlafen waren.
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Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und Hölle
FanfictionIm Jahre 1494 lernt der vierzehnjährige Piratenlehrling Marco den dreizehnjährigen Charlie kennen. Zwischen den beiden Jungen entsteht schnell ein tiefes, schicksalhaftes Band, das sie nicht nur durch viele, turbulente Abenteuer hindurch begleitet...