Einander helfen

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Marco hielt sein Wort, auch wenn er wohl recht gehabt hatte: müde und zerschlagen auszusehen erforderte keine große Schauspielkunst. Zumindest schloss Charlie das anhand des hämischen Gelächters des Aufsehers.
„Na, Kleiner? Gut geschlafen?", spottete er und schnaubte zufrieden, als er wie erwartet keine freche Antwort bekam. „Was einen Tag lang Durst alles bewirken kann, was? Aber weißt du... dein Blick gefällt mir noch nicht, daran müssen wir arbeiten. Gebt ihm eine Kelle Wasser damit er nicht umkippt, aber das reicht bis zur Essenspause!"
Wütend biss Charlie die Zähne zusammen. Dieser Mistkerl... der genoss es doch, Marco quälen zu können, das hörte er deutlich. Leider waren die Aufseher fast alle so; es gab wirklich nur wenige Ausnahmen, die sich human verhielten... das wusste er aus eigener Erfahrung. Der kleine Krüppel war nämlich lange Zeit ebenso Zielscheibe ihrer geballten Verachtung gewesen, bis sie gemerkt hatten, dass er sich trotz aller Schikanen nicht unterkriegen ließ und die Arbeit tatsächlich schaffte. Jetzt hatten sie in Marco ein neues Opfer gefunden.

Der Tag zog sich zäh, viel zäher als gestern. Was vor allem daran lag, dass Marco die Arbeit wie erwartet noch schwerer fiel als am ersten Tag. Charlie hörte ihn immer wieder leise ächzen oder unterdrückt fluchen, während er verbissen versuchte, den Hammer kräftig genug zu schwingen, um das Erz zu zerkleinern. Die Aufseher, wie immer zu dritt, amüsierten sich über ihn und verpassten ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf, wann immer er ihnen zu langsam vorkam. Und um dem Ganzen eine Krone aufzusetzen, ging der Mann mit dem Wassereimer viel öfter als sonst durch die Reihen und verteilte das kostbare Nass großzügig – nur ihr auserkorenes Opfer ließen sie aus.
Charlie hatte wirklich großes Mitleid mit Marco, aber ihm waren gänzlich die Hände gebunden. Er sah keine Möglichkeit, ihm etwas von dem Wasser abzugeben. Alles, was er tun konnte, war wie gestern sein aufgeweichtes Brot gegen das Harte einzutauschen, damit er wenigstens etwas Flüssigkeit und Nahrung hinunterbrachte. Nur ein einziges Mal gaben sie ihm an diesem Tag etwas zu trinken, allerdings nur die halbe Kelle... den Rest schüttete der Kerl ihm über den Kopf.

In Marco brodelte es, das spürte Charlie überdeutlich. Denn was die Aufseher taten, verletzte sein Ehrgefühl... und seinen Stolz. Und der Braunhaarige hatte den Eindruck, dass Marco ziemlich stolz war und Demütigungen nur schwer ertrug. Doch mit knirschenden Zähnen und einer Wut im Bauch, die fast körperlich fühlbar war, überstand er den Tag ohne weiteren Ärger zu provozieren.
Sehr zu Charlies Erleichterung, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Als der zwölfstündige Arbeitstag endlich vorüber war, fieberte Charlie dem Einbruch der Dunkelheit regelrecht entgegen. Er wollte seinen neuen Freund unbedingt wieder besuchen! Um die Zeit totzuschlagen, füllte er seinen Wasservorrat vom Brunnen neu auf und kaufte ein paar Datteln auf dem Markt. Vielleicht machte ihm das süße Obst eine Freude...
Ungeduldig lag er danach auf seiner Matte und lauerte darauf, dass die Luft draußen endlich rein wurde.

„Was sind das für sadistische Penner?! Ich schwöre dir, die werden dafür büßen!", zischte der junge Pirat etwas später, kaum, dass Charlie ganz in sein Zelt gekrochen war. Ein wenig erschrocken, aber keineswegs überrascht von seinem Ausbruch, hockte er sich vorsichtig wie beim ersten Mal dicht neben ihn und reichte ihm das mitgebrachte, erneut gefüllte Tongefäß. Zumindest war er noch vernünftig genug, um sich an die Anweisungen von gestern zu erinnern und sich mit dem ersten Mundvoll die Backen auszuspülen, ehe er in kleinen Schlucken durstig trank. Charlie seufzte.
„Würde mich freuen, wenn sie wirklich mal dafür büßen müssten. Und ich will dir keine falschen Hoffnungen machen: das Wasserspielchen werden sie noch ne ganze Weile durchziehen. Bei mir haben sie genau dasselbe gemacht als ich neu war... einfach, weil sie es witzig fanden, den 'Blindi' zu quälen. Ich fürchte, du musst das noch ein paar Wochen ertragen, bis sie ein neues Opfer finden oder es ihnen langweilig wird", erzählte er bedauernd.

Marco stöhnte frustriert.
„WOCHEN?! Machst du Witze? Das halt ich nicht aus... ich hasse solche Feiglinge, die Wehrlose zum Vergnügen quälen!! Das ist... so erbärmlich, yoi? Erbärmlich, feige, niederträchtig und schwach. Vater würde die Mistkerle zerlegen", wütete er leise weiter und schlug mit der Faust auf die Matte, ächzte jedoch unmittelbar darauf vor Schmerz. Mitfühlend tastete Charlie nach seinem Arm.
„Darf ich?", fragte leise, woraufhin er nur ein erschöpftes Brummen erntete. Er nahm das einfach als ja, zog Marcos Arm vorsichtig zu sich und begann, mit beiden Daumen seine Hand zu massieren und die verkrampften Sehnen und Muskeln zu lockern. Das entlockte ihm zuerst ein leises Zischen, doch nach und nach begann er sich zu entspannen. Eine friedliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Mit einem leisen Lächeln arbeitete Charlie sich über das Handgelenk nach oben, bis er bei der Schulter angekommen war. „Dreh dich um, dann komm ich an die andere Seite!"
Gehorsam wandte Marco sich um und lehnte sich nun mit dem Rücken an den Pfahl, an dem seine Fesseln hingen.

„Wie erträgst du das alles? Du nimmst die Rempler, die Verachtung und alles andere mit so einer... so einer Ruhe hin! Grade, dass du nicht mit den Schultern zuckst, weil es dir so egal ist... sogar als dieser andere Junge dich beim Vorbeigehen angespuckt hat, hast du das einfach so hingenommen. Und dann bist du trotzdem noch so nett zu mir. Wie schaffst du das?", wollte er leise wissen und Charlie spürte seinen intensiven Blick auf sich liegen. Kurz hielt er inne, um zu überlegen. Wie konnte er ihm das jetzt am besten begreiflich machen, ohne zu viel zu verraten? Auch wenn er Marco mochte und ihm sogar bereits in gewisser Weise vertraute; er kannte ihn ja doch erst seit zwei Tagen. Naiv war er nicht, auch wenn er ein offenes Herz besaß.
„Hm... das ist schwer zu erklären. Auch wenn du mir vermutlich nicht glauben wirst, aber... es gibt Schlimmeres hier. Mein Leben hätte viel schlimmer verlaufen können. Und... weißt du, ich bin einfach nur froh, dass ich dem Entkommen bin! Was ich jetzt mitmache; die Verachtung, die harte Arbeit, das Alleinsein... das ist ein Preis, den ich gern dafür zahle. Ich finde es nicht mal schlimm, dass ich nichts mehr sehe, das erspart mir zumindest den Anblick der vielen Ungerechtigkeiten hier. Nein, mit all diesen Dingen komme ich klar. Darum kann ich auch so gelassen bleiben, wenn andere auf mir rumtrampeln... weil ich weiß, dass es mir schlimmer hätte ergehen können!", versuchte er sich zu erklären, seufzte dann jedoch und widmete sich wieder den verspannten Armmuskeln, bevor er etwas leiser fortfuhr.

„Aber... trotzdem ist es mir natürlich nicht egal, wie ich behandelt werde, auch wenn es vielleicht so auf dich wirkt. Glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage, warum das Leben mir nur die Wahl zwischen schlimm und schlimmer lässt. Ich... verkriech mich dann oft in Tagträume und stelle mir vor, dass ich ein Schiff betrete und einfach davonsegle. An Orte, wo man freundlich zu mir ist. Orte, die ich mir noch nicht mal richtig vorstellen kann, zum Beispiel mit... mit ganz, ganz vielen Palmen! Wo alles grün ist, ohne Sand... ich hab mal jemanden erzählen gehört, dass es Inseln gibt, auf denen weißes, gefrorenes Wasser vom Himmel fällt! Und ich hab gehört... dass... dass... man dort sogar Frauen lachen hören kann, weil sie glücklich sind und... frei. Ich wüsste gern, ob das alles stimmt oder ob das nur Märchen sind. Aber mir hilft schon die Vorstellung davon, um wieder Kraft zu schöpfen. Sag mal, hast du solche Orte schon gesehen? Was gibt es da draußen noch?", wagte er dann endlich genau die Fragen zu stellen, die schon die ganze Zeit in ihm brannten. Gleich darauf wunderte er sich ein wenig über sich selbst – so viel hatte er schon ewig nicht mehr geredet. Oder überhaupt schon jemals?

Zu seiner Enttäuschung schwieg Marco jedoch, und zwar lange. Und noch viel schlimmer war, dass Charlie dieses Schweigen nicht recht zu deuten vermochte. Eigentlich konnte er das inzwischen richtig gut; es gab entsetztes Schweigen, erwartungsvolles Schweigen, genervtes Schweigen, bedrohliches Schweigen, nachdenkliches Schweigen... jetzt allerdings war er ratlos. Er spürte seinen Blick noch immer auf sich, doch er machte keine Anstalten, zu antworten. Verunsichert ließ er seinen Arm los und rückte vorsichtshalber wieder ein Stück weg.
„Ähm... tut mir leid, fall ich was falsches gesagt hab", murmelte er besorgt. „Soll... ich gehen?"
Endlich bekam er wieder eine Reaktion, als Marco die Luft geräuschvoll ausstieß.
„Nein, bleib hier. Das... war nur ziemlich viel auf einmal", erklang schließlich seine leise Stimme. Erleichtert atmete auch Charlie auf, ehe ihm einfiel, dass er ja noch etwas mitgebracht hatte.
„Ähm... hast du Hunger? Ich hab Datteln gekauft, die sind wirklich gut. Und... es tut mir wirklich leid wegen dem, was ich gesagt hab", wiederholte er geknickt und schob ihm die kleine Tüte mit dem Obst hin, doch hektische Bewegungen verrieten Marcos Kopfschütteln.

„Quatsch, muss es doch gar nicht, yoi? Ich... mir war nur nicht klar, wie wenig man hier weiß. Wie wenig du weißt...", murmelte er hörbar betroffen und fischte sofort nach den mitgebrachten Köstlichkeiten. „Vielen Dank, die sind wirklich gut! Viel besser als das fade Brot..." Charlie senkte den Kopf – an dieser Aussage gab es nichts zu rütteln, das war ihm schon lange bewusst.
„Das sind die Hohepriester und ihre Regeln... Fremde sind hier nicht willkommen, sie werden nur am Hafen selbst geduldet, um Handel zu treiben und dort in abgegrenzten Bereichen untergebracht, bis sie wieder verschwinden. Darum hören wir kaum Dinge von Außerhalb..." Stirnrunzelnd legte er den Kopf schräg. „Warum hat man euch eigentlich verhaftet? Habt ihr euch nicht an die Regeln gehalten?"

Jetzt entkam Marco ein wütendes Grollen.
„Das wollten wir, und zuerst ging auch alles gut. Wir haben Vorräte besorgt und Wasser, aber beim letzten Gang... haben wir gesehen, wie sie hinter den abgegrenzten Bereichen ein Mädchen an den Pranger gestellt haben. Die haben gerufen, dass sie vor ihrem Ehemann geflohen ist, aber dabei war sie doch bestimmt noch keine Siebzehn! Wie kann sie da schon verheiratet gewesen sein?! Und dann, dann... dann... GOTT!" Zornig trat der junge Pirat gegen die Eisenstange. Charlie fühlte die von ihm ausgehende Hitze und die Abscheu körperlich, sodass er impulsiv beruhigend nach seiner Hand griff. Er konnte sich problemlos vorstellen, was passiert war... er hatte es mehr als einmal mitansehen müssen. „Es war... abscheulich, was sie ihr angetan haben! So viele Männer... auf offener Straße!! Und sie hat so geschrien!! Bis ihr einer seinen... argh... wir konnten dabei einfach nicht zuschauen!", fauchte er aufgebracht.

Geräuschvoll atmete Charlie aus. Sie hatten in eine öffentliche Bestrafung eingegriffen? Unter den Augen vieler Menschen, in unmittelbarer Nähe von Soldaten, hatten sie Partei für eine ihnen völlig unbekannte Frau ergriffen?! Ehrfurcht und Staunen schnürten ihm beinahe die Kehle zu, vor allem, weil...
„Du bereust euer Eingreifen nicht, oder? Trotz allem, was du bisher schon mitmachen musstest, hältst du euer Handeln für richtig...", flüsterte er ergriffen, was mit einem ungläubigen Laut quittiert wurde.
„Natürlich war es richtig!! Charlie, diesem Mädchen wurden die Kleider runtergerissen... die Scheißkerle standen Schlange hinter ihr und... sie haben ihr wehgetan! Welcher normale Mensch könnte da guten Gewissens zuschauen?! Das ist einfach nur krank – eure ganze Gesellschaft ist krank! Und ganz ehrlich: wer das einfach so schweigend hinnimmt, ist... ist nichts anderes als ein Monster und ein Feigling!", stieß er so vorwurfsvoll hervor, dass der Angesprochene heftig zusammenzuckte und blass wurde.

Marcos Worte trafen ihn bis ins Mark – denn sie schlossen ihn mit ein.
Kälte kroch in ihm hoch und schnürten ihm die Kehle zu. So sah Marco ihn? Als Feigling oder... gar als Monster? Wobei... wenn er ehrlich zu sich selbst war...
Es stimmte ja.
Er sah doch auch bloß zu und nahm es hin. Im Grunde war er wohl auch ein Monster. Ein sehr feiges Monster, das das Leid um ihn herum nicht einmal mehr sehen wollte. Aber was konnte er schon ausrichten? Außer, dass er furchtbar verprügelt werden würde (oder Schlimmeres), könnte er doch gar nicht erreichen... er wollte doch nur überleben, war das so verkehrt? Nun... mutig war allerdings wirklich etwas anderes...
„Du hast recht... ich... bin wirklich feige... und ein Monster. Es tut mir so leid...", hauchte Charlie erstickt, griff hastig nach seinem leeren Gefäß und seinem Stock und kroch unter der Zeltplane hindurch. Er hörte noch, wie Marco zischend Luftholte.
„NEIN! Charlie! Charlie, warte! So war das... ich hab doch nicht dich gemeint... bitte!", rief er leise, aber hörbar erschrocken, doch Charlie erreichte das schon nicht mehr. Ein dicker Kloß steckte ihm im Hals und seine Augen brannten, als er so schnell wie möglich wieder in sein Zelt zurückkehrte.

Ein Monster und ein Feigling...
Niedergeschlagen verkroch Charlie sich unter seiner Decke, wo er das Tuch um die Augen abnahm, damit es von all den Tränen nicht unangenehm nass wurde.
Natürlich musste das auf einen ehrenhaften Menschen wie Marco so wirken... und er hatte ja auch recht, es WAR entsetzlich, was hier passierte. Entsetzlich und falsch. Doch der Glaube saß zu tief bei den Menschen hier. Es hatte zwar immer wieder einmal kleinere Aufstände gegeben, doch die waren schnell zerschlagen worden, weil sie kaum Unterstützung im Volk fanden – nicht einmal bei den Frauen - und die Aufwiegler waren grausam hingerichtet worden.

Schniefend presste Charlie sein Gesicht auf die Matte.
Es tat weh, von Marco so betrachtet zu werden. Bloß... so sehr er auch grübelte, er sah keine Möglichkeit, irgendwas zu ändern. Wenn er überleben wollte, würde er unweigerlich auch ein Feigling bleiben... und er wollte leben. Egal wie hart es sein würde, egal wie oft er schikaniert, gequält oder ausgegrenzt werden würde: Charlie wollte lieber weiterleben, anstatt als vermeintlicher Held zu sterben. Auch wenn das hieß, dass er nur wenige Stunden einen Freund gehabt hatte...
Dieser Gedanke schmerzte.

° ~ ° ~ ° ~ ° ~ ° ~ ° ~ °

Am nächsten Tag fühlte Charlie sich wie gerädert, als er sich an seinen Arbeitsplatz einfand. Er hatte lange nicht schlafen können... und dementsprechend müde war er, als er wie gewohnt zu Hammer und Meißel griff und sich den ersten Stein zwischen die Knie klemmte. Wie die Tage davor wurde Marco auch heute neben ihn gesetzt; er spürte sofort seinen Blick auf sich liegen und zog automatisch den Kopf ein wie ein geprügelter Hund.
„Siehst müde aus, kleine Ratte... wieder nicht gut geschlafen?", frotzelte der Aufseher und brach gleich darauf in höhnisches Gelächter aus. „Uhuuu... was für ein vernichtender Blick! Habt ihr den gesehen, Leute?" Plötzlich erklang ein dumpfer Schlag. Charlie, dessen geschärfter siebter Sinn ihn vorwarnte, ließ blitzschnell seine Werkzeuge fallen, und schaffte es, den absichtlich gegen ihn geschleuderten Marco abzufangen. Allerdings ließ er sich dennoch zur Seite fallen und stöhnte, als hätte er Schmerzen erlitten. Die Aufseher lachten hämisch.

„So ein respektloser Blick, tze tze. Nichts zu trinken für die Ratte. GAR NICHTS! Mal sehen, wie du mich morgen ansiehst... oder übermorgen... oder den Tag darauf... wir haben Zeit. Wir können so lange an deinem Blick arbeiten, wie du möchtest!", sprach der Oberaufseher trügerisch freundlich, ehe er sich abwandte. „Und jetzt arbeitet! Na los, ihr werdet nicht fürs Rumsitzen bezahlt!"
Sofort wurden die Werkzeuge wieder aufgenommen und das misstönende Orchester der Hammerschläge erfüllte erneut die Höhle. Auch Charlie setzte sich wieder hin und griff nach Hammer und Meißel, doch plötzlich legte sich eine warme Hand auf seine.
„Danke, Charlie... das gestern tut mir leid! Bitte komm heut Abend wieder!", flüsterte Marco flehend und drückte einen Augenblick lang fest seine Finger, ehe er sich rasch wieder weglehnte und seine eigene Arbeit aufnahm, bevor die Aufseher etwas bemerkten.

Charlie brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen, so unerwartet hatte ihn das alles erwischt. Es tat ihm leid...? Was denn? Es stimmte doch, was er gestern gesagt hatte, daran gab es faktisch nichts zu rütteln. Oder hatte er einfach Angst, dass er ihm jetzt nicht mehr helfen würde? Das fürchtete er grundlos, denn er hatte nie vorgehabt, seine Hilfe einzustellen – solange Marco sie wollte, würde er sie bekommen, auch wenn er ihn für feige oder ein Monster hielt.
Und im Grunde war es ihm aber sowieso einerlei; ein ganzes Gebirge löste sich von seinem Herzen, weil Marco seine Gesellschaft noch immer wollte. Er fühlte die Wärme seiner Berührung noch auf der Haut und lächelte, als er endlich zu arbeiten begann. Selbst die Müdigkeit war verflogen! Er durfte ihm weiterhin helfen, das war das Wichtigste für ihn.

Doch seine gute Laune hielt nicht lange an.
Der Wassermangel machte Marco nun spürbar zu schaffen. Seine Schläge kamen im Laufe der Stunden immer mühsamer, er begann immer häufiger zu husten und musste mehrmals kurz innehalten, vermutlich, weil ihm schwindlig war. Das würde zumindest auch erklären, weshalb er immer häufiger mit dem Meißel abrutschte oder der Hammer den Meißel verfehlte. Es war eine Qual für Charlie, selbst regelmäßig Wasser zu bekommen, während sein Freund neben ihm litt. Es half auch nicht viel, ihm wieder seine Suppe mit dem Brottausch zuzustecken.
Als der Schlussgong erklang, kam Marco nicht einmal richtig auf die Beine und er stolperte mehr zum Ausgang, als dass er wirklich ging. Wann immer es ungesehen möglich war, stützte Charlie ihn kurz.

Das konnte er doch nicht so hinnehmen... irgendwas musste er doch tun können!
Während er auf die Dunkelheit wartete, zermarterte sich Charlie das Hirn, wie er ihm unauffällig Wasser zukommen lassen könnte, doch ihm fiel einfach nichts ein. Seufzend grub er eins der größeren Gefäße aus dem Boden, um es mit Wasser zu füllen. Wenn er Marco schon tagsüber nicht helfen konnte, dann wenigstens nachts umso mehr.
Trotz seiner Worte heute in den Minen war Charlie nervös, als er sich vorsichtig in das Gefangenenzelt schob, doch ihm schlug sofort ein erleichtertes Aufatmen entgegen – gefolgt von trockenem Husten.
„Du bist gekommen!", flüsterte Marco dankbar und Charlie nickte.
„Ja... ich mag ein Feigling sein, aber... ich lass dich nicht im Stich. Auch wenn du schlecht von mir denkst, helf ich dir auch weiterhin, keine Sorge...", murmelte er, schob ihm schüchtern das Wassergefäß zu und zog sich an die Zeltwand zurück.

Kurz war es still, dann hörte er ein schabendes Geräusch, als das Wasser zur Seite geschoben wurde.
„Komm her!", erklang die belegte Stimme des jungen Piraten und Charlie fühlte, wie er soweit es seine Fußfesseln zuließen in seine Richtung kroch. Verwirrt legte er den Kopf schief.
„Was?", fragte er unsicher.
„Komm her, du Idiot!", präzisierte Marco unwirsch, was den Angesprochenen überrumpelt die Brauen heben ließ. Hatte er ihn wirklich grade... Idiot genannt? Trotzdem kam er ihm vorsichtig entgegen – bis er auf einmal grob am Handgelenk gepackt und vorwärts gerissen wurde. Noch ehe er erschrocken nach Luft geschnappt hatte, fand er sich in Marcos Armen wieder, die sich fest um ihn schlangen. Fassungslos erstarrte er, während der junge Pirat geräuschvoll ausatmete und ihn festhielt.

„Es tut mir leid! Wirklich! Es war dumm, was ich gestern gesagt hab... ich war wütend und hab nicht nachgedacht, yoi?", begann er stockend und hustete. „Ich weiß selber, dass man als Einzelner nichts ausrichten kann... schon gar nicht, wenn man noch nicht mal erwachsen ist. Du bist kein Feigling, Charlie, und erst recht kein Monster. Im Gegenteil! Du... bist was Besonderes, weil du anders denkst als die anderen hier... weil du ein Gewissen hast und ein gutes Herz! Du hast mir geholfen... und würdest mir sogar weiterhin helfen, selbst wenn ich dich verachten würde! Aber das tu ich nicht, ehrlich. Ich... ich hab dich wirklich gern und bin so verdammt froh, dass du da bist..." Ein Hustenanfall unterbrach ihn und Charlie wollte sich aufrichten, wurde aber stur festgehalten. Er wagte kaum zu atmen und fühlte Marcos warme Haut und seinen rasenden Herzschlag an seiner Wange; offenbar trug er das Hemd offen oder es war zerrissen. „Warte... ich muss erst wissen, ob du mir verzeihst. Bist du... mir noch böse, Charlie? Ich wollte dich wirklich nicht verletzen", stieß der Piratenlehrling schwer atmend hervor und ließ damit eine Woge Glückseligkeit durch dessen Körper schießen.

Der Junge hob endlich brüchig ausatmend seine Arme und schlang sie fest um seinen neuen Freund. So etwas Schönes hatte lange keiner mehr zu ihm gesagt... und noch mehr als seine Worte bedeutete ihm sein Handeln: obwohl es ihn sichtlich quälte, war es Marco wichtiger gewesen, sich mit Charlie zu versöhnen, als zuerst das erlösende Wasser zu trinken. Es gab keine Worte, die beschreiben könnten, wie unglaublich glücklich er in diesem Augenblick war.
„Ich bin dir nicht böse und es gibt auch nichts zu verzeihen. Ehrlich. Ich... danke dir!", antwortete er leise, ehe er sich etwas widerstrebend löste, sein Gefäß ertastete und es resolut zu ihm schob. „Jetzt trink bitte, du hast es bitter nötig!"

Dieses Mal gehorchte Marco, doch nicht, ohne ihn vorher noch einmal dankbar am Arm zu berühren. Es beeindruckte Charlie, wie schnell und instinktiv er mit seiner Blindheit umgehen konnte; vermutlich hätte er normalerweise als Antwort auf seine Worte nur gelächelt, aber weil er das ja nicht sehen konnte, berührte er ihn stattdessen.
Kurz breitete sich nun Stille zwischen ihnen aus, während Marco endlich seinen brennenden Durst löschen konnte. Bodenlos erleichtert seufzte er und behielt jeden Schluck des kostbaren Nass einige Sekunden im Mund, bevor er langsam schluckte.
„Ich weiß nicht, wie ich das alles durchhalten soll...", murmelte er nach einer Weile, und die Erschöpfung war ihm deutlich anzuhören. „Wenn sie mir nicht mal ein bisschen was in der Früh und mittags geben wie gestern... ist das unerträglich!"

Charlie seufzte tief.
„Es tut mir wirklich leid... ich wünschte, ich könnte dir helfen. Wenn wir ein Gefäß hätten, würde ich das Wasser, das ich bekomme, sofort mit dir teilen", erwiderte er unglücklich. Marco schnaubte.
„Weiß ich doch, yoi? Aber nachdem ihr das Wasser direkt aus der Kelle trinken müsst, wird das nichts. Wir haben ja nicht mal was, in das du es reinspucken und mir zuschieben könntest...", brummte er frustriert. Doch bei seinen Worten horchte Charlie auf. Reinspucken... Moment, das wäre doch... tatsächlich eine Möglichkeit! Allerdings... eine etwas unangenehme. Ob Marco das überhaupt zulassen würde?
„Ähm... vielleicht... gäbe es ja doch eine Möglichkeit. Du hast mich auf eine Idee gebracht! Aber ich fürchte, die... wird dir nicht besonders gut gefallen", begann er etwas zögerlich, doch sein Gegenüber horchte auf.
„Raus damit, was meinst du?", forderte er ihn ohne zu zögern auf und Charlie kratzte sich ein wenig verlegen am Kopf, ehe er antwortete.
„Ich könnte dir das Wasser direkt geben... also... von Mund zu Mund, wenn keiner hinsieht!"

Ausnahmsweise hätte Charlie gern sein Augenlicht wieder, nur um Marcos Gesichtsausdruck sehen zu können. Sein Schweigen konnte er zumindest erneut nicht deuten. Am ehesten tendierte er aber zu ungläubig. Doch nach einer Weile durchbrach er die Stille mit einem Seufzen.
„Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen, was?", gab er halb verlegen, halb amüsiert zurück und dem Geräusch nach strich er sich durchs Gesicht. „Das... würdest du echt für mich machen?"
Charlie gluckste.
„Sonst hätte ichs nicht vorgeschlagen, oder? Mir wärs auch lieber, wenn's anders ginge, aber... mir fällt auch nichts besseres ein, leider..."

„Mir auch nicht... aber verdammt, jeder Tropfen ist es mir wert. Ich dachte heut ein paar Mal, dass mein Kreislauf schlappmacht... und dann hätte ich garantiert Prügel bezogen, yoi?" Auf das erwartete Nicken hin schnaubte Marco entschlossen. „Nö, die Genugtuung gönn ich den Schweinen nicht! Wir ziehen das durch! Allerdings... ähm... sollten wir das hier wohl lieber mal üben; wenn ich mich verschlucke oder wir Wasser verkleckern, fliegen wir auf und sind gemeinsam fällig. Was meinst du?"
„Seh ich genauso... ich bin ja kein Idiot!", schmunzelte Charlie verhalten, was Marco zuerst stocken und dann leise lachen ließ.
„Hey, das war dein erster Scherz! Hätte nicht gedacht, dass du auch Humor hast!", stichelte er, woraufhin Charlie breit grinste.

„Weil ich bisher auch eher wenig zu lachen hatte... aber da ich hier gleich mehr oder weniger mit einem fremden Jungen knutsche, ist ein bisschen Humor angebracht!", gab er gewitzt zurück und entlockte seinem Gegenüber ein empörtes Schnauben – ehe er unvermittelt eine kräftige Faust gegen den Oberarm bekam.
„Ey! Nenn das doch nicht so, du Idiot!"
„Tze... hätte mir das wehtun sollen, du Blödmann?" Mit wachsender Begeisterung für diese kindische Auseinandersetzung revanchierte sich Charlie mit einem Tritt gegen seinen Oberschenkel – die harte Arbeit hatte ihm einige Kraft beschert. Marco japste überrascht, doch dann knurrte er spiellustig und stellte das Wasser weg.
„Na warte, Kleiner..." Seine Ketten klirrten, als er sich plötzlich auf ihn warf, was ihm Warnung genug war, sodass er sich blitzschnell zur Seite rollte und der Angriff ins Leere ging. Bevor der Piratenlehrling sich aufrappeln konnte, hatte Charlie sich auf ihn geworfen und presste ihn auf die Matte.

„Festgenagelt!", triumphierte er leise, doch seine Stimme überschlug sich fast vor Freude, was Marco keineswegs entging und ihm ein Glucksen entlockte.
„Nur weil ich nicht in Form bin, klar?", meckerte er gespielt und schubste ihn von seinem Rücken, damit er sich wieder aufsetzen und den Sand abklopfen konnte. „Wie kommts eigentlich, dass ein Blinder so schnell reagieren kann?"
Stolz reckte Charlie das Kinn.
„Übung! Wenn ein Sinn wegfällt, schärfen sich die anderen. Ich kann dich zwar nicht sehen, aber hören und fühlen... und riechen!", entgegnete er frech, was ihm postwendend eine Kopfnuss einhandelte.
„Siehst du hier irgendwo eine Dusche, Schokolöckchen?", knurrte Marco beleidigt, was Charlie jedoch unvermittelt losprusten ließ.
„Schoko... was?! Ahahaha..." Hastig presste er sich beide Hände vor den Mund, um sein Lachen zu ersticken – und hielt gleich darauf erschrocken inne.

„Was ist? Kommt jemand?", flüsterte sein Gegenüber sofort besorgt und lauschte konzentriert, doch er erntete ein langsames Kopfschütteln. Das war es ja gar nicht, was Charlie grade so beschäftigte.
„Nein... ich... wusste nur nicht, wie... wie mein Lachen klingt", murmelte er fasziniert und rief sich diesen neuen Laut erneut ins Gedächtnis, damit er ihn auch sicher nie vergaß. Schade, dass er ihn hatte abwürgen müssen, weil es sonst zu laut gewesen wäre.
„Du... hast noch nie gelacht?", drang Marcos leise Stimme in seine Gedanken und holten ihn zurück in die Wirklichkeit. Charlie zuckte mit den Achseln.
„Worüber denn? Als ganz kleines Kind oder Baby vielleicht, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich hab auch noch nie zuvor mit jemandem zum Spaß gerauft... oder gespielt... oder gescherzt. Nur dabei zugehört und ganz früher auch zugesehen. Aber halb so wild, jetzt hab ich ja gleich alles nachgeholt, und es hat wirklich total viel Spaß gemacht!", erwiderte er so begeistert wie noch nie zuvor und genoss das Gefühl, das diese kurze Szene in ihm geweckt hatte. Er fühlte sich plötzlich ganz anders! So... unbeschwert. Leicht. Sorglos.
Es war ein unheimlich schönes Gefühl, das er in vollen Zügen genoss.

Unvermittelt griff Marco nach seiner Hand und hielt sie fest.
„Charlie, wir versprechen uns jetzt was, yoi? Und zwar werden wir zusammen von hier abhauen! Wir stehen das gemeinsam durch; du hilfst mir zu überleben, bis wir einen Weg hier rausgefunden haben oder Vater mich befreit – und dann kommst du mit mir aufs Schiff. Ich lasse dich nicht hier zurück, das schwöre ich dir bei meinem Leben und meiner Ehre!", sagte er mit so viel eiserner Entschlossenheit, dass Charlie eine Gänsehaut bekam. Sprachlos hatte er den Kopf in seine Richtung gedreht und konnte kaum glauben, was er da hörte. Er... würde ihn mitnehmen? Auf sein Schiff? Und von hier wegbringen?! Das klang fast zu schön, um wahr zu sein.
Hart schluckte er und umfasste haltsuchend Marcos Finger.
„Ist das wahr? Kannst... kannst du mir sowas überhaupt versprechen? Was ist, wenn dein Vater was dagegen hat? Oder wir gar nicht fliehen können?", flüsterte er, hin und hergerissen zwischen beinahe schmerzhafter Hoffnung und eisiger Furcht.

Erspürte eine leichte Bewegung durch seine Hand, weshalb er annahm, dass Marconickte – ein Kopfschütteln hätte mehr verursacht.
„Ja, das kann ich. Mein Vater ist ein wirklich guter Mensch, der niemanden einfach so ins Elend zurückschicken würde, wenn es anders geht. Erst recht nicht, nachdem du mir geholfen hast! Also, schwören wir uns das? Wir helfen einander und werden zusammen fliehen – wiederhol das!", verlangte er grimmig und Charlie atmete zittrig durch, ehe er sich straffte und Marcos Hand fester packte.
„Wir... wir werden einander helfen und dann zusammen von hier fliehen. Ich werde alles dafür tun, dass du am Leben bleibst und unsere Flucht funktioniert, versprochen!", antwortete er leise, aber nicht minder entschlossen. Wieder nickte der junge Pirat, ließ ihn aber noch nicht los.
„Gut. Wir schaffen das! Und wenn wir erst an Bord sind... dann bring ich dich noch viel öfter zum Lachen, yoi? Ich... ich werd dich glücklich machen, Charlie... dir zeigen, wie glücklich sein ist. Wir können miteinander spielen, solange du Lust hast... ich zeig dir alle Spiele, die ich kenne! Und jedes Mal, wenn du einen frechen Spruch riskierst, leg ich dich aufs Kreuz, verstanden?", fügte er in bemüht scherzhaftem Ton hinzu, doch sein aufrichtiger Ernst dahinter war deutlich zu hören.

Für Charlie war das zu viel.
Mit einem erstickten Laut griff er nun mit beiden Händen nach Marcos Hand und presste sie mit einer tiefen Verbeugung an seine Stirn.
„Danke, Marco... einfach nur danke...", stieß er mit bebenden Schultern hervor und biss sich heftig auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Marco zog sie ihm jedoch ruppig weg.
„Lass den Scheiß!", brummelte er und zog ihn stattdessen nochmal in seine Arme. „Freunde verbeugen sich nicht voreinander, klar? Mach das bloß nie wieder, das ist ja peinlich!" Seiner unwirschen Worte zum Trotz hielt er ihn jedoch fest, bis er seine Fassung wiedergewonnen hatte und sich verlegen wieder aufrappelte.
„Tut mir leid... ich hatte auch noch nie einen Freund, also... korrigier mich einfach, wenn ich was falsch mache, ja?", bat er und atmete tief durch.

Es war unglaublich, wie anders er sich plötzlich fühlte.
Sein Herz klopfte deutlich schneller und kräftiger in seiner Brust, er fühlte sich stärker und mutiger als je zuvor und... er konnte eine Zukunft sehen. Er hatte eine echte Chance auf ein LEBEN! Ein Leben ohne Schmerz, ohne Leid, ohne Ausgrenzung, auch wenn er noch nicht die leiseste Ahnung hatte, wie dieses Leben aussehen mochte. Und das nur dank Marco... Marco hatte ihm Freundschaft und Hoffnung geschenkt; und diese zwei Dinge veränderten einfach alles.
Ja, er würde alles dafür tun, damit sie ihren Schwur erfüllen und beide von hier fliehen konnten! Irgendwie würden sie das schaffen, ganz sicher.
Marco brummelte ein wenig verlegen.
„Hm... ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich hab meine Brüder, aber... so einen richtigen Freund hatte ich auch noch nie. Aber irgendwie kriegen wir das schon hin, yoi? Und zuerst bring ich dir mal bei, wie man lebt. Und nicht einfach nur überlebt", murmelte er, ehe er ergeben seufzte. „Apropos überleben... na los, komm her. Wir müssen da noch was üben..."

Aufstieg der Whitebeardpiraten - Himmel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt