05| Neunundneunzig Prozent

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6 Monate vor Tag X
Florenz
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Neunundneunzig Prozent Seelenverwandt! Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass man seinen Seelenverwandten verlässt und dem letzten Prozent hinterherjagt«, kam es dumpf von der Couch und ein lautes Schniefen folgte.

Ich lag auf dem weichen Teppichboden im Wohnzimmer und starrte die Wand an. »Martín, wie lange willst du ihm denn noch hinterher heulen? Er hat dich gerade abserviert! Zum wievielten Mal?«, ich wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sondern redete einfach weiter, »Irgendwann musst du einsehen, dass es keinen Sinn mehr hat. Sieh mich an. Ich bin ein Paradebeispiel vom aller Feinsten! ›Streifenhörnchen‹ hackt mal wieder auf mir herum, weil sie nicht erkennen möchte, dass ich ihre läppische Zeitung gerettet habe, also geh ich! Ihr Pech! Habe ich etwa geweint? Nein!«

Tatsächlich half meine, im wahrsten Sinne des Wortes, Schnapsidee, ihn von seinem Liebeskummer abzulenken.
»Du hast gekündigt?!«

»Na ja, Helens und meine Aussage würden sich da widersprechen, aber ich arbeite nicht mehr für sie, ja«, erläuterte ich ihm und nahm ein Schluck aus der Flasche neben mir.

Er lachte auf: »Und ich dachte immer, du hättest es geschafft und wärst wieder auf die richtige Bahn geraten, nachdem...«

»Hermanito, ich habe diese Zeit hinter mir gelassen, okay? Und das solltest du langsam auch tun, immerhin bin ich deine große Schwester«, unterbrach ich ihn rasch.
Daraufhin gab er mir zu verstehen, dass lediglich das Schicksal und unsere gebrochenen Herzen uns zu Geschwistern des Leidens gemacht haben.

»Immerhin verbindet uns etwas. Das ist mehr als die meisten Freundschaften heutzutage jemals haben werden«, entgegnete ich und richtete mich auf, um ihn anzulächeln, allerdings hatte ich mich zu früh gefreut: »Verfickte neunundneunzig Prozent!«
Entnervt ließ ich mich wieder zurückfallen und hörte mir sein Gejammer an, derweilen ich ihm und mir hin und wieder das Glas auffüllte, bis er irgendwann müde wurde und einschlief. Ich nahm eine Decke und deckte ihn zu.

༻♥༺

Martín war noch zu betrunken, um zu bemerken, dass es geklingelt hatte. Da ich eine verantwortungsbewusste Freundin war und die Person nicht vor geschlossener Tür stehen lassen wollte, schlurfte ich in den Flur.
»Ich hoffe schwer für dich, dass du ein Essenlieferant bist...«, brummte ich und drückte die Klinke nach unten, allerdings wurde meine Hoffnung auf ein schnelles Frühstück, sogleich zerstört, als ich den Mann erkannte, welcher vor mir stand.

»Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde«, begrüßte mich mein Gegenüber mit einem breiten Lächeln. »Was starrst du mich denn so verdattert an? Hast du mich etwa vergessen?«

Vergessen?!

»Keine Sorge, Andrés, hässliche Gesichter merke ich mir besonders gut«, erwiderte ich ungerührt und widerstand dem Drang, meine zerzausten Haare zu richten.

Zu meiner Verwunderung lachte mein alter Freund auf und schien mir diese kleine Blöße nicht übel zu nehmen. »Charmant wie eh und je, Valeria.«

»Was willst du?«

»Nach all der Zeit, die vergangen ist, erwartest du von mir, dass ich solch eine elementare Frage zwischen Tür und Angel beantworte?«, entgegnete er und blinzelte mich durch seine braunen Augen an.

Ich verschränkte abwehrend die Arme und musterte ihn abschätzend, derweilen ich sagte: »Nachdem was du Martín angetan hast, wäre das genau das, was du verdient hast!«

Etwas blitzte in seinem Blick auf. Vielleicht - hoffentlich sogar - war es Reue.
»Er hat es dir erzählt?«

»Natürlich hat er das, immerhin bin ich seine beste Freundin und... Wie auch immer, ich werde dich ganz sicher nicht in sein Haus einladen, wenn er sich die ganze Nacht wegen dir die Augen ausgeheult hat«, betonte ich leicht gereizt.

Der Mann senkte den Blick und nickte. »Ich dachte mir, dass er so reagieren würde...«, jetzt schaute er wieder auf, direkt in meine Seele. »Aber ich hätte erwartet, dass du meinen Standpunkt wenigstens nachvollziehen könntest.«

Damit war mein Geduldsfaden nun endgültig gerissen. »Nein! Du wirst den Spieß nicht umdrehen! Ich bin nicht diejenige, die ein schlechtes Gewissen haben sollte. Das bist du! Du hast ihm das Herz gebrochen, deinem allerbesten Freund. So leid es mir auch tut, mi corazón, aber dafür habe ich kein Verständnis!« Bebend vor Wut schnappte ich nach Luft.
Andrés starrte mich für einen Moment einfach an, so verblüfft war er. In seinen dunklen Augen funkelte etwas auf, dass mir drohte, die Kehle zu zuschnüren. Verbissen drängte ich das Gefühl, das mein Herz erfüllte, zurück.

»I-ich wollte ihn nicht so... verletzen. Alles, was ich mir für Martín wünsche, ist, dass er glücklich ist. Mit mir könnte er niemals so glücklich werden, wie er es verdient hat. Mit mir würde er nicht frei sein, denn ich würde ihn mit mir in die Tiefe reißen. Ich bin krank und werde nicht mehr lange auf dieser Welt verweilen, nicht lange genug, um ihm das zurückzugeben, was er mir, während all den Jahren, gegeben hat. Ein guter Freund war ich noch nie. Das weißt du, Valeria. Es tut mir leid...«, brachen die Worte plötzlich aus ihm heraus.

Nein, ich habe doch jetzt nicht ernsthaft Mitleid mit ihm?!

»Alles, was ich möchte, ist ihn zu beschützen. Euch beide.«

Niemals!

»Vor mir selbst!«

Fuck!

»Ich habe eine kurze Verständnisfrage: Du willst Martín beschützen?« Er nickte. »Indem du ihm das Herz herausreißt?«, hörte ich mich mit seltsam kratziger Stimme fragen. Und mir? Uns allen?

Der Mann seufzte schwer. Auf einmal sah er unfassbar müde aus. Müde von dem Leben, in dem er jeden Augenblick Stärke bewiesen hatte, auf seine Weise, seine sehr verkorkste Art und Weise. »Manchmal ist die naheliegende Antwort nicht gleich die richtige. Vielleicht hast du recht und ich stoße Martín nur von mir, weil ich nicht möchte, dass er sieht, wie ich nach und nach immer mehr die Kontrolle über meinen eigenen Körper verliere. Ja, vielleicht kann man diesen Punkt als Akt der Selbstsucht erachten, aber ich will ihm das nicht antun, ebenso wie mein Bruder und dir. Jahrelang habe ich nach dem gelebt, was mir gerade in den Kram gepasst hat. Wenn ich jetzt,«, er holte tief Luft, »wieder selbstsüchtig bin und ihm mein Herz überlasse, wird der Abschied ihm nur noch schwerer fallen.«

Verzweifelt versuchte ich den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und schaffte es tatsächlich mit kräftiger Stimme zu sprechen: »Das mag aus deinem Mund ganz sinnvoll und auch hoffnungslos romantisch klingen, Andrés – ja, vielleicht verstehe ich sogar, auf was du damit eigentlich hinaus willst -, aber du hast mit dieser Aktion genau das Gegenteil erreicht. Dein... Abschied fällt uns nicht leichter, weil du uns vorher von dir weggestoßen hast.«

»Ich weiß«, flüsterte er und senkte den Blick.

»Aber du bist nicht aus dem Grund hier, um reinen Tisch zu machen, oder?« Zu meinem Leidwesen kannte ich Andrés viel zu gut, um mich dieser süßen Illusion hinzugeben.

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, dass mir durch Mark und Knochen ging, denn es erinnerte mich an vergangene Zeiten. Längst verschwommene Momente, welche sich nur aus meinen löchrigen Erinnerungen speisten. Doch das damit unmittelbar verbundene Gefühl war echt.
»Valeria, ich bin immer wieder erstaunt, wie hellhörig du doch bist!«

»Vielen Dank für die Blumen, aber mir wäre es durchaus lieber, wenn du langsam mit der Sprache herausrücken würdest, denn sonst bin ich schon wieder nüchtern, bis du fertig bist«, forderte ich ihn auf.

Die nächsten Worte, welche mein ehemals bester Freund in den Mund nahm, überrumpelten mich so sehr, dass ich genauso mit einem Heiratsantrag von ihm hätte rechnen können – ich war mir sogar ziemlich sicher, dass ich den gleichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hätte, wie in diesem Augenblick.

»Ich brauche deine Hilfe.«

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El Corazón Del Ladrón | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt