04| Bon voyage, Streifenhörnchen

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6 Monate vor Tag X
Madrid
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Aragón!«
Sämtliche Personen in dem Raum zuckten bei dem Ertönen der lauten, schrillen Frauenstimme erschrocken zusammen.

Helen Díaz, die Chefredakteurin der El País, war keine von der leichten Sorte. Ihre eisblauen Augen schüchterten jeden ein, der es auch nur ansatzweise wagte, ihrem strengen Blick zu begegnen. Ein brauner Bob, der an einigen Stellen schon eine weiße Verfärbung aufwies, rahmte ihr rundliches Gesicht ein und hatte ihr den Spitznamen ›Streifenhörnchen‹ eingebracht – zugegeben, niemand außer mir nannte sie so, aber wenn sie es vielleicht getan hätten, dann hätten sie nicht so eine Höllenangst vor ihr gehabt.

Der Praktikant, welcher das große Los gezogen hatte, neben mir zu sitzen – was für ihn wohl eher ein Fluch als ein Segen war – duckte sich instinktiv und verschwand praktisch hinter dem Bildschirm des Computers.
Das ›Aus den Augen aus dem Sinn‹ hat noch nie bei ›Streifenhörnchen‹ funktioniert, Quentin, dachte ich, ehe ich mich mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen vom meinem Platz erhob.

Ich war schon so oft zu ihrem Büro gerufen worden, dass ich den Weg auch im Tiefschlaf problemlos hätte zurücklegen können. Nicht mal mehr der Hauch von Angst keimte in mir auf, als ich an ihr vorbei in den spartanisch eingerichteten Raum schritt. In meinem Rücken spürte ich den Blick von sämtlichen Mitarbeitern.

»Setzen!«, herrschte sie mich an und deutete auf den Stuhl.

Ich kannte diese Prozedur mittlerweile in und auswendig. Manchmal fragte ich mich, ob ihr nicht auffiel, dass ihre Wutausbrüche deutliche Muster aufwiesen und sich diese am laufenden Bande wiederholten. Aber dann fiel mir wieder ein, dass sie meine Vorgesetzte war und ich ihr mit solchen Fragen nicht auch noch auf die Nerven gehen sollte.

»Was habe ich Ihnen das letzte Mal gesagt, als ich Sie in mein Büro gerufen habe?«, wollte Streifenhörnchen wissen und funkelte mich finster durch ihre Eisaugen an.

Genau dasselbe wie die vorherigen Male? Widerwillig verbiss ich mir diesen bissigen Kommentar.
»Sie sagten, dass ich keinen Text ohne Ihre Zustimmung veröffentlichen soll«, zitierte ich brav und nahm mir es heraus, einen Hauch von Angst zu zeigen.

Sie sprang sofort auf dieses Zeichen an und schaute mit einem fiesen Lächeln, das selbst die härtesten Verhandler in die Knie gezwungen hätte, zu mir herüber. »Und was noch?«

Beinahe hätte ich die Augen verdreht. »›Wenn ich Sie noch einmal in mein Büro rufen muss, dann sind Sie gefeuert.‹«

Helen nickte zufrieden – oder wie auch immer man diesen dämlichen Gesichtsausdruck nennen sollte, welcher sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Ich denke, ich muss Sie nicht nochmal darum bitten, zu wiederholen, gegen welche beiden Vorsätze Sie verstoßen haben, oder?«

Ich ballte meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten. Die brodelnde Wut drohte überzuschäumen, doch ich schaffte es, meine Emotionen im Griff zu behalten, was mir sämtliche Selbstbeherrschung abverlangte! Ich hasste, verabscheute es wie ein kleines Kind behandelt oder gar als doof dargestellt zu werden.
Gehorsam nickte ich, derweilen ich ihr innerlich sämtliche Schimpfwörter an den Hals hetzte, deren Bedeutung sie vermutlich nicht mal verstanden hätte.

Ich bezweifelte, dass die Frau vor mir schon so viele feindliche Worte und Demütigungen über sich hatte ergehen lassen müssen wie ich. Sie wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Ihre Eltern hatten genug Geld gehabt, um sie auf eine teure Schule schicken zu können, was ihr nicht zuletzt diese hohe Position eingebracht hatte.
Ich hatte mir alles mühselig selbst aneignen müssen. Und genau dafür hasste sie mich!

Helen Díaz wollte sich nicht eingestehen, dass ich eine gute Journalisten - wenn nicht sogar um Welten besser als sie - war und Zeitungsartikel schrieb, die die breiten Massen erreichten! Sie war so von ihrem eigenen Nichtkönnen eingenommen, dass sie alle anderen verabscheute, die Talent hatten.
Auf keinen Fall würde ich behaupten, dass meine geschätzten Kollegen keine ausgezeichneten Journalisten waren, sie wussten sich nur gegenüber Helen untergeben zu zeigen. In vielerlei Hinsicht war das sogar eine nützliche Strategie, die Wirkung zeigte, allerdings ließ sich diese nicht mit meinem Stolz vereinbaren.

»Das bedeutet,«, sie grinste mich so breit an, als hätte sie gerade das Versteck eines verängstigten Kindes gefunden, das sie jetzt hinterhältig erschrecken konnte, »dass Sie gefeuert sind.«

Die Genugtuung, ihr einen erschrockenen Gesichtsausdruck zu schenken, gab ich ihr nicht. Eher hätte ich mir eine dieser grauenvollen Theatervorstellungen von Grotowski freiwillig angesehen.
»Sie tun mir leid, Helen, denn Sie haben gerade Ihre beste und kompetenteste Mitarbeiterin entlassen. Ich werde es sicher nicht schwer haben, eine Stelle zu finden, die mir mehr zuspricht.«

Ich erhob mich und betrachtete ihren schockierten Gesichtsausdruck mit einem breiten Grinsen.

»Wie kannst du es wagen?!«, fauchte sie.

»Wie können Sie es wagen, zu glauben, dass ich mich von Ihnen duzen lassen würde?«

Ihre Gesichtszüge entglitten vollkommen und die Ader an ihrer Stirn pochte gewaltig. Sie war kurz davor zu explodieren, daran hatte ich keinen Zweifel!
»Verschwinde

Müde erhob ich mich vom Stuhl. »Keine Sorge, ich hatte sowieso nicht vor zu bleiben. Auf Wiedersehen, Helen. Man sieht sich immer zweimal im Leben«, mit diesen Worten schritt ich erhobenen Hauptes aus dem Büro heraus.

༻♥༺

Es hatte mich erstaunlicherweise nicht halb so viel Zeit gekostet, meine Sachen zusammen zu räumen und das hohe Gebäude das letzte Mal zu verlassen, wie ich gedacht hatte. Ich hatte keine üppige dekorative Stifthalterung in Tierform und auch keine hübschen Bilder von meinem Haustier oder Familienmitgliedern auf meinem Arbeitsplatz deponiert. Vielleicht weil ich immer gewusst hatte, dass es früher oder später dazukommen würde, dass ich gefeuert werden würde...
Jetzt lief ich mit einer Handvoll Kugelschreibern und einem halb voll geschriebenen Notizblock durch die Fußgängerzone. Der Gedanke, dass ich nun ziellos durch die Gegend streifte, drängte sich immer wieder beharrlich in mein Bewusstsein, obwohl ich ihn jedes Mal wieder weg sperrte und so tat, als wäre er nie aufgekommen.

Ich habe immer einen Plan, redete ich mir gut zu. Selbst damals habe ich einen guten Plan parat gehabt und da hatte es mich deutlich schlimmer getroffen wie jetzt.
Ein dumpfes Pochen machte sich in meiner Brust breit. Es kam dann auf, wenn ich an jene Zeit zurück dachte. Immer und immer wieder. Dabei hätte ich dieses stumpfsinnige, naive, zerbrochene Gefühl schon längst vergessen müssen!

Wie von selbst suchten meine Füße sich ihren Weg zu meiner kleinen, abgeschiedenen Wohnung, die sich am Rande der Stadt befand. Wie immer blieb mein Blick kurz an dem halb verrosteten Tor eines benachbarten Hauses hängen, ehe ich das Treppenhaus betrat und die Stufen in mechanischer Gleichgültigkeit zu meinem Zimmer erklomm. Dort angekommen, griff ich nach dem Telefon und wählte.

Es dauerte einige Sekunden, ehe jemand mit kratziger Stimme abnahm. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr und biss mir auf die Unterlippe, als ich die Zeitverschiebung bedachte.

»Hallo?«

»Ich bin's. Deine Leidensschwester.«

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El Corazón Del Ladrón | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt