3. Kapitel

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~Julian~

Während ich mit der Holzkiste vor meinem Schrank stehe, fangen meine Gedanken an zu kreisen. Immer wieder ziehen dieselben Fragen, wie dichte Nebelschwaden durch meinen Kopf.

Warum? Diese Frage stelle ich mir seit 24 Jahren. Warum sie? Warum meine kleine Schwester? Warum gibt es solche Menschen, die einfach kleine Kinder mitnehmen? Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an sie denke. Lebt sie noch? Wenn ja, was macht sie? Hat sie eine schöne Kindheit gehabt? Hat sie einen guten Job? Welches Hobby hat sie? Bin ich schon Onkel?

Diese Menschen, die meine kleine Schwester aus unserem Leben gerissen haben, haben uns alles genommen. Sie sind der Grund, dass wir alles in ihrem Leben verpasst haben. Einfach so. Puff, weg. Warum haben sie nicht stattdessen mich mitgenommen? Die Frage kann ich mir selbst beantworten. Weil sie noch zu klein war, um sich zu wehren. So zierlich. Ich kann mich noch an ihr süßes Lachen erinnern. Das würde ich überall wieder erkennen.

Meine Brüder, Jannis und Jascha, wissen nichts von ihr. Seit 24 Jahren ist es das bestgehütetste Geheimnis von meinen Eltern und mir. Meine Eltern wollten nicht, dass die beiden Jungs auch noch daran zerbrechen. Wenn ich mich so ansehe, dann schätze ich, war es die beste Entscheidung in einer absolut furchtbaren Angelegenheit.

Ich gebe die Hoffnung aber nicht auf. Möglicherweise ist das ein Fehler, denn es hindert mich daran loszulassen. Weiterzumachen. Abzuschließen. Doch ich kann nicht anders. Die Hoffnung keimt, wie ein zartes Pflänzchen. Sie sagt mir, dass ich sie irgendwann wieder in meine Arme schließen kann. Das spüre ich. Irgendwie. Glaube ich, zumindest. Die Frage ist nur: Wann? Wann kommt der Moment, in dem sie mir gegenübersteht und mit Tränen in den Augen sagt 'Ich habe dich vermisst'? Die Hoffnung benutzt das Fragewort 'wann', der Kopf hingegen mahnt mich das Fragewort 'ob' zu nutzen. Doch Gefühle lassen sich nicht ausschalten. Daher klammere ich mich verbissen an das 'wann'.

Das Foto liegt noch immer in meinen Händen, als ich einen Knall hinter mir wahr nehme.

"Ey Alter, willst du vorm Schrank Wurzeln schlagen? Wir müssen los. Was hast du da überhaupt in der Hand?" Beim Klang der Stimme lege ich das Foto blitzschnell wieder in die Holzkiste zurück und werfe die Tür des Kleiderschranks lautstark zu. "Du bist zu früh.", murmele ich. Ich drehe mich um und schaue in die verwirrten Augen meines Bruders, Jannis. "Junge, ich bin sowas von pünktlich da gewesen. Wenn du mal auf die Uhr schauen würdest, würdest du feststellen, dass es schon 11:45 ist. Ich warte schon seit einer halben Stunde auf dich. Von Luise soll ich dir noch ausrichten, 'viel Spaß und mach dir nicht so viele Gedanken'. Worum auch immer. Dein Frühstück ist übrigens in meinem Magen gelandet. Hab gedacht bevor es ganz kalt wird, esse ich es auf." Ich schaue meinen Bruder erschrocken an. "Was? Schon so spät? Wir müssen ja schon los, sonst gibt es von Mama wieder einen Einlauf, warum wir nicht einmal pünktlich sein können." Ein Hauch von Panik macht sich in mir breit. Mit unserer Mutter ist bei sowas nicht zu spaßen. "Naja, wir wissen ja alle wer der Schuldige ist." Jannis schaut mich grinsend an. "Ich gehe schonmal runter. Du hast 10 Minuten sonst fahre ich alleine. Ich weiß ja wo ich den Autoschlüssel finde."

Ich schaue Jannis nur böse an, nehme meine Klamotten und verschwinde im Badezimmer, um mich umzuziehen. Meine Gedanken muss ich wohl nach hinten verschieben. Ganz vergessen, kann ich sie jedoch nie. Die Gedanken sind immer da. Immer.

Hope Never DiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt