5. Kapitel

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Schaut gerne mal bei LottaLeben01 vorbei wenn ihr Bravertz feiert.

Teil 1: More than a friend
Teil 2: You are my family

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~Julian~

Ich nehme unsere beiden Taschen und trage sie in die obere Etage, dort wo sich unsere Zimmer befinden. Die Kinderzimmer. Schon seltsam, dass die Zimmer selbst im Alter von 27 Jahren, gefühlsmäßig noch immer genau das sind: Kinderzimmer. Man hört eigentlich schon im Alter von 14 Jahren auf, Kind zu sein. Die meisten zumindest. Man verändert sich, die Einrichtung verändert sich, die Zeit, die man in diesem Zimmer verbringt, verändert sich. Und doch bleibt das Zimmer irgendwie das Kinderzimmer. Ein sicherer Ort. Ein Rückzugsort. Der Ort, an dem man sich selbst verwirklicht. Ein Ort, an dem sich Bauklötze stapeln dürfen. An dem Poster an den Wänden hängen. An dem Kuscheltiere auf dem Bett liegen. Ein Ort, an dem jedes noch so kleine Detail eine Bedeutung, für die darin wohnende Person darstellt. Kinderzimmer sind anders, als alle anderen Räumlichkeiten, die man danach bewohnt. Klar, auch in meiner Wohnung verwirkliche ich mich irgendwie selbst. Doch es kommt ein Anspruch dazu. Nämlich der Anspruch, dass es stilvoll aussieht, zusammenpasst, einladend ist. Das Kinderzimmer hat diesen Anspruch nicht. Dort beherrschen die Emotionen den Raum. In meiner Wohnung, herrscht der Kopf. 

Nachdem ich unsere Taschen in die jeweiligen Kinderzimmer verräumt habe, gehe ich wieder den Flur entlang, in Richtung Treppe. Das letzte Zimmer vor der Treppe, ist Jaschas Zimmer. Ein Gefühl bringt mich dazu, die Tür leicht zu öffnen. Wie angewurzelt bleibe ich im Türrahmen stehen und schaue mich im Zimmer um. Erinnerungsfetzen ziehen an mir vorbei. Erinnerungen, wie ich das Zimmer mit Mama und Papa gestrichen habe. Streng genommen, habe ich wohl die meiste Zeit eher zu gesehen und mich selbst bemalt, aber schlussendlich habe ich meinen Teil dazu beigetragen. Langsam gehe ich auf das Bett zu, lehne mich darüber und streiche über den Fußabdruck in Grau. 

"Mama, das Grau machen" Ich zeige mit meinen kleinen Fingern auf Milas Fuß. "Julian, Schatz, Sollen wir Milas Fuß an die Wand malen?" Ich nicke heftig mit meinem kleinen Kopf und grinse meine kleine Schwester durch meine Zahnlücke an. 

Traurig lächele ich über diese Erinnerung. Der Fußabdruck gehört zu den wenigen Beweisstücken, an denen man sehen kann, wie nah Wahrheit und Lüge in dieser Familie beieinander liegen. Die Wahrheit, dass dies der Fußabdruck von Mila ist, wird verdeckt von der Lüge, dass dies Jaschas Fußabdruck ist. Und dennoch sehen alle, die die Wahrheit kennen nur Milas Fußabdruck. Eine ständige Erinnerung, an das was nicht mehr ist. In gewisser Weise ein Mahnmal. Denn auch Mahnmale werden nur von denen wahrgenommen, die um die zugrundeliegenden Ereignisse wissen. 

Ich weiß. Und ich werde nie vergessen. 

Langsam verlasse ich das Zimmer, ehe mich noch mehr Emotionen überrollen. An der Wand neben der Treppe hängen jede Menge Fotos von uns Fünf. Jascha, Jannis, Mama, Papa, ich. Doch nicht ein Foto von ihr. Sie fehlt. Immer. Mein Blick fällt auf ein bestimmtes Foto. Ich, neben dem geschmückten Weihnachtsbaum und den vielen Geschenken, die darunter liegen. Mama kniet neben mir und hat ihren Arm um mich gelegt. Sie lächelt in die Kamera und ich strahle regelrecht. Das zeigt das Foto. Eine Lüge, die wieder die Wahrheit verdeckt. Denn in Wahrheit steht auf der anderen Seite des Weihnachtsbaumes Papa mit Mila auf dem Arm, die einen Rentierpulli trägt. So einen mit einem dicken, roten Bommel als Nase. Ein weiteres Beweisstück für die Nähe von Wahrheit und Lüge. 

Ehe ich die letzten Stufen nach unten gehe, atme ich tief ein- und aus und versuche all die Emotionen abzuschütteln. Ich setze ein Lächeln auf und gehe in die Küche. Dort sitzen bereits Jannis und Jascha am gedeckten Küchentisch. Beim Anblick des Marmorkuchens, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich habe schließlich noch nichts gegessen. Während ich mich auf meinen Platz setze, fragt Jascha skeptisch: "Sag mal, Juli, wie kommt es, dass du fürs Zuspätkommen eigentlich keinen Stress von Mama bekommen hast?" Ich zucke mit den Schultern und antworte: "Ich weiß halt, wie man bei Frauen die passenden Worte wählt, Jaschilein. Dafür bist du aber noch zu klein.", zwinkere ich ihm zu und tätschele ihm sein Gesicht. So wie das Großeltern immer machen. Dafür boxt Jascha mir in die Rippen. So klein ist er dann eben doch nicht mehr. Leider. "Mensch, ihr Jungs müsst euch auch immer streiten!", sagt Mama kopfschüttelnd. "Insgeheim haben du und Papa sich bestimmt ein Mädchen gewünscht, so zum Ausgleich.", lacht Jannis. Auch Jascha fällt in sein Lachen mit ein. 

Mama und mir ist das Lachen augenblicklich vergangen. Mama fängt sich schnell wieder und sagt: "Wir hätten uns beide zumindest über ein Mädchen sehr gefreut." Dabei sieht sie mich lächelnd an. Meine Hand krallt sich an der Tischdecke fest, bis die Knöchel weiß werden. Wahrheit und Lüge, wieder nur Millimeter voneinander entfernt. Es kostet mich unheimlich viel Kraft meine Maske zu wahren. Dann sage ich: "Machen wir uns nichts vor. Unsere Schwester hätte dich trotzdem sowas von fertig gemacht, Jannis. Nix mit Ausgleich." Ich grinse. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht liegen hierbei Wahrheit und Lüge direkt übereinander, sodass man sie nicht voneinander unterscheiden kann. Jannis äfft mich nach und wirft mir ein Stück Marmorkuchen ins Gesicht. Ja, auch Jannis ist schon über zwanzig. Geistig ist er aber wohl manchmal irgendwo in seinem Kinderzimmer steckengeblieben. Jascha gröhlt und Mama sieht unentschlossen aus. Wahrscheinlich weiß sie, dass sie Kuchenwerfen definitiv nicht gutheißen sollte, aber gleichzeitig ist sie wohl froh, dass wir alle wieder lachen können. Der restliche Marmorkuchen landet dann tatsächlich dort, wo er hingehört: Im Bauch. 

Nachdem wir alle fertig sind, stehe ich gerade vor der Spülmaschine, als Jannis durch die Küchentür kommt: "Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Julian. Ich hab wohl vorhin überreagiert. Ich hätte dich nicht so ignorieren sollen. Ich war bloß so enttäuscht, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Aber ich muss wohl akzeptieren, dass jeder von uns Geheimnisse hat." Ich nehme ihn wortlos in den Arm. "Vergeben und vergessen, Bruderherz." Nachdem wir zusammen die Küche sauber gemacht haben, gehe ich nach oben in mein Reich. Mein Kinderzimmer. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und denke über alles nach. Über mein Leben. Was ich alles erreicht habe. Was ich noch erreichen möchte.

Über Mila denke ich natürlich auch nach. Wäre sie stolz auf mich? Auf das, was ich im Leben erreicht habe? Auf das, was Jannis und Jascha erreicht haben im Leben? Mit diesen Gedanken schlafe ich langsam ein, obwohl der Wecker erst frühen Abend anzeigt.

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