4. Kapitel

259 10 0
                                    

~Julian~

Als ich alleine im Badezimmer bin, versuche ich ruhig zu atmen. Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt habe, gehe ich nach unten, werfe mir eine Jacke über, ziehe meine Schuhe an und schließe die Wohnungstür hinter mir. Ich setze mich zu Jannis ins Auto, der bereits ungeduldig auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Dann machen wir uns auf die dreistündige Autofahrt nach Bremen. Wie wir, stattet Luise heute auch ihren Eltern einen Besuch ab, kommt jedoch später am Abend bereits wieder. Nicht so wie Jannis und ich. Wir kommen erst morgen wieder zurück.

"Was hast du da eigentlich am Kleiderschrank gemacht?" Jannis schaut mich von der Seite neugierig an.

"Ich hab mir Klamotten herausgenommen? Du Dussel. Was soll ich da sonst gemacht haben?", versuche ich mich locker zu geben. Er schaut mich mit einem Blick an, der mich wahrscheinlich fragen soll, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.

"Genau. Klamotten herausgenommen. Das ich nicht lache. Das hast du doch erst gemacht, als ich dich dazu aufgefordert habe, weil du Lahmarsch nicht in die Hufe kamst. Wir sagen uns doch sonst immer alles, Juli." Sein Blick sieht verletzt aus. Um dem Blick auszuweichen, habe ich meinen Blick starr auf die Straße gelegt und bleibe stumm.

"Danke, dass du mir soviel vertraust", sagt Jannis sauer. Er wendet seinen Kopf zum Fenster und ignoriert mich die nächsten Stunden weitestgehend.

'Ich bin ein schlechter Bruder. Ich habe ihn verletzt.'
Der Gedanke pocht gegen meine Schläfe. Da sind sie wieder, die Schuldgefühle. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass es zu seinem Besten ist, wenn er davon nichts weiß. Dann geht es ihm zumindest nicht so wie mir. Zerfressen von Verantwortung und Schuldgefühlen.

Mit einer Verspätung von 30 Minuten kommen wir an unserem Elternhaus an. Jannis steigt kommentarlos aus dem Auto und geht ebenso kommentarlos an meiner Mutter vorbei, die uns bereits entgegenkommt.

"Was hast du denn mit Jannis gemacht?", fragt meine Mutter mich verwirrt. Während ich aus dem Kofferraum unsere Taschen nehme, versuche ich meine Worte weise zu wählen. "Er hat mich heute Mittag am Kleiderschrank erwischt, wo ich mir das Foto von ihr angeschaut habe." Der Gesichtsausdruck meiner Mutter wird dunkler aber gleichzeitig sanfter. Dunkler, weil auch sie den Schmerz der Erinnerung spürt. Sanfter, weil sie auch meinen Schmerz sieht. Meine Mutter schaut mich traurig an und wischt mir die Tränen, die mir schon wieder unwissentlich meine Wangen entlanglaufen, mit einem schiefen Lächeln weg. Ich wünschte, ich könnte sagen 'Scheiß Hormone', aber ich schätze, das gilt nicht für Männer. Immer, wenn es um sie geht, bin ich unheimlich nahe am Wasser gebaut. Weil der Schmerz so tief steckt. So tief, dass ich ihn nicht überspielen kann.

"Ich vermisse sie auch, Julian. Aber irgendwie müssen wir lernen damit umzugehen und weiterzuleben. Zeit heilt alle Wunden, Schatz" "Nein Mama. Hier funktioniert das nicht einfach so, wie man sich das immer denkt. Sie ist weg und wir haben bis heute nicht einen einzigen Hinweis auf ihren Verbleib. Nichts. Als ob es sie nie gegeben hat." Den letzten Teil flüstere ich nur.

"So darfst du nicht denken, Juli. Irgendwo da draußen ist sie und wartet darauf, dass wir sie wieder in die Arme schließen." Ich nicke. Umarme meine Mutter ganz fest, nehme die Taschen und gehe mit ihr ins Haus. Und tue so, als wäre nichts gewesen.

Hope Never DiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt