12. Kapitel

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~Mila~

Samstag, 19:30 Uhr

Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte mich skeptisch von jeder Seite. "Du siehst gut aus, Mila" Chris lehnt hinter mir im Türrahmen und schaut lächelnd mein Spiegelbild an. Ich drehe mich zu ihm um. "Wirklich?", frage ich mit gerunzelter Stirn. "Ja und wenn er das nicht sieht, dann ist er es nicht wert.", antwortet Chris wie selbstverständlich.

Ich nehme ihn wortlos in den Arm und nuschele ein leises "Danke" in seine Halsbeuge. Chris gibt mir einen Kuss auf die Stirn. "Viel Spaß. Und wenn was ist, ruf mich sofort an.", warnend hebt er seinen Zeigefinger und sieht mich durchdringend an. Ich nicke, ziehe Schuhe und Jacke an, nehme meine Tasche und mache mich auf den Weg nach unten zu meinem Auto. "Tu aber nichts, was ich nicht auch tun würde.", ruft Chris mir hinterher, während ich schon im Treppenhaus stehe. Ich lache nur darüber und hoffe inständig, dass die Nachbarn anderweitig beschäftigt sind und nicht hinter der Tür lauschen. Zu Jannis brauche ich nicht lange. Ich habe mit einem Blick auf Google Maps festgestellt, dass ich nur 30 Minuten zu ihm fahre. Die Navigation leitet mich ohne Probleme in ein gehobeneres Wohnviertel. Man erkennt das an den Fassaden, an denen Graffiti fehlt und an den Gehwegen, auf denen kein Müll achtlos herumliegt. Die Häuser wirken modern, entweder, weil sie erst kürzlich gebaut worden sind oder, weil sie zumindest von Dachziegel bis Kellerfenster modernisiert worden sind. Nachdem ich das Auto abgestellt habe, suche ich das Haus mit der Nummer 43. Als ich vor dem Haus mit der Nummer 43 stehe, muss ich erst einmal schlucken und frage mich, ob ich wirklich richtig bin. Ob ich nicht einfach in der falschen Straße, dem falschen Stadtteil, der falschen Stadt oder gar dem falschen Leben bin. Haus Nummer 43 gehört zur zweiten Kategorie von modern. Ein moderner Altbau, könnte man sagen. Um die Fensterrahmen und die Eingangstür herum, sieht man hübsche Ornamente, die aus vergangenen Zeiten übrig geblieben sind. Ansonsten wirkt alles ziemlich neu. Ziemlich hochwertig. Ziemlich teuer. Himmel, was tue ich hier? Ich fühle mich etwas fehl am Platz und hoffe ein bisschen, dass ich ich einfach in der falschen Straße stehe. Zögerlich gehe ich auf die graue Eingangstür aus Milchglas zu. Wenn ich jetzt kein Klingelschild mit seinem Namen finde, habe ich Glück. Dann bin ich falsch. Doch ich habe Pech. Ich bin richtig. Das verrät mir der Name 'Brandt' auf dem Klingelschild ganz oben. Wie kann er sich denn so eine Wohnung leisten? Und was zur Hölle will er dann mit mir? Mein Finger schwebt einige Sekunden lang über dem Klingelknopf, während ich noch mit meinen Gedanken kämpfe. Ich beschließe sie einfach zu verdrängen, atme tief ein- und aus und drücke meinen Zeigefinger auf den kleinen Knopf neben dem Namen 'Brandt'. Ich habe kaum den Finger vom Knopf genommen, summt die Tür bereits und ich lehne mich dagegen, um sie auf zu drücken. Der Flur, in den ich daraufhin trete, wirkt riesig. Eine hohe Decke mit verspielten Ornamenten, wie die an den Fenstern, ragt vor meinen Augen. Sogar ein achtarmiger Kronleuchter hängt von der Decke. Ein Kronleuchter. In einem Hausflur eines Mehrfamilienhaus.Wo bin ich nur gelandet!? Vor mir befindet sich zu meiner Linken ein Aufzug und zu meiner Rechten die Treppe. Ich erinnere mich an Jannis Nachricht heute Morgen, in der er mir eine genaue Beschreibung geschickt hat, wie ich zu seiner Wohnung komme. Die Anweisung lautet: Nimm den Fahrstuhl, sonst musst du bei meinen Nachbarn ein Stockwerk tiefer essen. Zu meiner Wohnung fährt nämlich nur der Fahrstuhl ;) Also steige ich in den Fahrstuhl und drücke den obersten Knopf, auch das stand in Jannis' Anweisung.

Oben angekommen ertönt ein freundliches 'Ping' und die Türen den Aufzuges öffnen sich geräuschlos. Jannis steht bereits in seiner geöffneten Wohnungstür und lächelt mich an, während ich noch immer etwas perplex aus dem Fahrstuhl stolpere. Er gibt mir keine Zeit etwas zu sagen, sondern nimmt mich direkt in den Arm. "Hi, schön dich zu sehen.", sagt er leise. "Hi", ist alles was ich über die Lippen bekomme, weil mein Herz wie verrückt in meiner Brust hämmert. Oh Gott. "Ich bin ziemlich nervös, irgendwie.", gebe ich zögerlich zu. "Da schließe ich mich wohl oder übel an.", lacht Jannis nervös und streicht seine Haare nach hinten. Er tritt einen Schritt in seine Wohnung und bittet mich herein. Ich streife meine Schuhe in seinem Flur von meinen Füßen ab und hänge meine Jacke ordentlich an der Garderobe auf. Dabei schaue ich mich neugierig um. Auch in der Wohnung sind die Wände ziemlich hoch. Die Wohnung wirkt hell und freundlich. Während ich Jannis in die Küche folge, bemerke ich, wie groß die Wohnung wirkt. "Wow, die Wohnung ist echt schön.", sage ich noch immer ziemlich baff. Jannis lächelt mich über seine Schulter hinweg an. "Danke. Sie gehört eigentlich meinem Bruder. Er braucht sie im Moment aber nicht und deshalb lässt er mich hier wohnen, solange ich studiere.", erklärt er mir. Ahhh. Das erklärt, wie Jannis sich diese Wohnung leisten kann. Vielleicht ist er ja doch einfach ein normaler Mensch. "Das ist aber ziemlich nett von ihm.", erwidere ich erstaunt. "Ja, das ist es. Er ist echt ziemlich in Ordnung. Zumindest, wenn er mal keine absolute Nervensäge ist.", sagt Jannis und lacht über seine eigene Wortwahl. Mit einem Mal überkommt mich diese Schwere auf der Brust. Die Schwere, die ich immer spüre, wenn es um dieses eine Thema geht. Ich versuche zu lächeln, doch es ist wohl nur ein trauriges Lächeln. "Hab ich etwas falsches gesagt? Das wollte ich nicht.", fragt Jannis unsicher. Ich will darüber eigentlich nicht sprechen. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so. Doch Jannis' besorgtes Gesicht lässt es mich doch tun. "Schon in Ordnung. Du hast nichts falsches gesagt. Es ist bloß so...Ich habe keine Familie.", unsicher beiße ich auf meiner Unterlippe herum. Jannis schaut mich erstaunt und verwirrt an. "Wie meinst du das?", fragt er. "So, wie ich das sage. Ich bin in einem Kinderheim aufgewachsen. Das Kinderheim sollte so gesehen meine Familie sein, aber wenn ich ehrlich bin, war es das nie. Nichts kann eine Familie ersetzen. Ich habe nur meinen besten Freund, Chris. Und... meinen Sohn, Finn. Das ist meine Familie.", sage ich leise. Jannis sieht mich verblüfft an. "Ohh...W-wie ist das denn passiert?", stammelt er vor sich hin. Das bringt mich irgendwie zum schmunzeln. "Ich glaube das muss ich dir nicht erklären.", sage ich belustigt. Jannis rauft sich selbst die Haare und grinst dann. "Ha!! Ich hab's geschafft. Du lächelst wieder."Diesmal lache ich aus vollem Herzen. "Es gibt übrigens eine kleine Planänderung. Ich hab es leider nicht mehr geschafft einzukaufen und zu kochen, deshalb hab ich frisches Sushi gekauft. Ich hoffe das passt trotzdem?", fragt er vorsichtig. Mein ungläubiger Blick sagt alles. "Daran hast du gedacht? Das ist wirklich süß." Ich hatte es nur beiläufig erwähnt, als wir miteinander geschrieben haben. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass er sich das merkt.

Wir setzen uns an den Küchentisch und fangen an unser Essen zu verzehren. "Äh... Nochmal wegen eben...dein Sohn...wie alt ist er?", fragt Jannis vorsichtig noch einmal nach. "Ja, Finn. Er ist fünf Jahre alt. Leider durch eine einmalige Nacht entstanden. Wobei ich heute wirklich dankbar für ihn bin. Er ist mein ein und alles. Zuerst war ich natürlich geschockt. Ich war schließlich ziemlich jung. Ziemlich allein. Ziemlich ängstlich. Aber mein bester Freund, Chris, hilft mir seit ich den Test gemacht habe. Jeden Tag.", erzähle ich. "Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht immer einfach war", erwidert Jannis. "Ja klar. Keine Familie. Das bedeutet keine richtige Unterstützung. Ich musste mich immer fast alleine durch mein Leben schlagen. Ich bin mit 18 Jahren aus dem Kinderheim ausgezogen. Habe mir eine eigene Wohnung gesucht. Arbeite schon seit ich 16 bin als Kellnerin. Und mit 20 habe ich Finn zur Welt gebracht." Jannis schaut mich aus großen Augen an. "Ehrlich. Das ist erstaunlich. Ich wäre absolut überfordert gewesen so früh schon die Verantwortung für ein Kind zu haben. Meine Kindheit war ganz anders. Ich bin mit einem älteren und einem jüngeren Bruder aufgewachsen. Meine Eltern haben mir immer versucht alles zu ermöglichen.", erzählt er lächelnd. Man sieht, wie nah ihm seine Familie ist. Das ist schön. So schön. Wie sehr ich mir so eine Familie wünschen würde. Ich schlucke, weil mich die Schwere auf meiner Brust wieder trifft. "Du hast gesagt, dass du zur Uni gehst?", räuspere ich mich, um der Schwere nicht mehr Platz zu geben. "Ja ich studiere hier in Köln Fotografie. Bin auch bald fertig", sagt Jannis nickend. "Ich habe leider keine Ausbildung, aber ich denke, dass ich auch keine mehr brauche. Ich habe mich immer mit dem Kellnern über Wasser halten können. Dann kann das auch die nächsten Jahre so weitergehen.", sage ich schulterzuckend. Er lächelt mich an. Dieses Lächeln, das sich über seine gesamtes Gesicht zieht. Wenn Jannis lächelt, dann lächelt die ganze Welt, um ihn herum. Als wir fertig mit dem Essen sind, gehen wir ins Wohnzimmer und setzen uns auf die Couch. Ich lehne mich entspannt in das graue, weiche Polster zurück. Jannis setzt sich neben mich. Dicht neben mich. So dicht, dass ich sein Parfüm rieche und die Wärme seines Körpers spüre. Vielleicht ist es auch bloß meine eigene Wärme. Die Wärme, die Jannis' bloße Anwesenheit so dicht neben mir erzeugt. Keiner sagt etwas. Vielleicht, weil wir beide unsicher sind, was für den anderen okay ist. Ich weiß nicht, was für Jannis okay ist. Ich weiß nur, dass ich mich wohl fühle. So wohl, wie schon lang nicht mehr. Und dann weiß ich, dass es Jannis wohl ähnlich geht. Ich weiß es, als er seinen Arm um meine Schulter legt. Und dann weiß ich auch, dass es nicht nur meine eigene Wärme ist. Es ist auch seine. Die Berührung unserer Körper löst ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut aus. Ich lehne mich noch weiter zurück. Diesmal nicht in die bequeme Polsterung, sondern in seinen Arm. Jannis lächelt mich an. Wieder mit seinem ganz speziellen Lächeln. Dieses süße Lächeln, das ich den ganzen Abend ansehen könnte. Wir reden den restlichen Abend über alles mögliche. Ich erfahre, dass er immer Schwierigkeiten hatte jemanden kennenzulernen, weil alle Frauen immer hinter seinem älteren Bruder her waren und nicht wirklich an ihm interessiert waren. Die Sorge kann ich ihm direkt nehmen, schließlich kenne ich seinen Bruder nicht. Ich habe ihn auch nicht erkannt, als die beiden mit ihren Freunden frühstücken waren. Wir lachen viel und mit dem zweiten Glas Sekt werde auch ich lockerer.Und dann liegt irgendwann etwas in der Luft. Etwas elektrisierendes. Etwas pulsierendes. Wir sehen uns in die Augen. Anders als zuvor. Tiefer. Länger. Intensiver. Wie ein Magnet fühle ich mich zu ihm hingezogen. Ich sehe, wie Jannis blinzelt, während wir uns immer näher kommen. Ich sehe jede einzelne Sommersprosse auf seiner blassen Haut. Nur seine Wangen sind leicht gerötet. Leicht gerötet von mir und ihm. Ich schließe meine Augen, als sich unsere Nasenspitzen sanft berühren.

Rumms!!

Eine Tür knallt zu.

"WAS IST DENN HIER LOS!?"

Eine eiskalte Stimme schneidet durch all die Wärme.

Hope Never DiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt