Meine Welt bestand aus Farben und Formen, soweit ich zurückdenken konnte.
Manche Menschen bevorzugten nur das, was offensichtlich hübsch war. Sie mochten alle Farben des Regenbogens, nicht aber das Braun einer rostigen Brücke. Ich hingegen liebte die ganze Palette, denn so war das Leben nunmal: verschwenderisch schön und unverfroren hässlich.
Aussuchen konnte man sich da gar nichts.
Es war besser sich mit der Wirklichkeit anzufreunden, als die Augen davor zu verschliessen. Ausserdem war es doch der Kontrast, der uns beide Seiten des Lebens schätzen liess.
Früher hatte ich meinen Zeichenblock überall hin mitgeschleppt, um meine Eindrücke darin festzuhalten, doch dieser verstaubte seit Monaten in einer Ecke meines Zimmers.
Er war voll mit den Gegensätzlichkeiten das Lebens: Die satten Herbsttöne in Brand gesteckter Eichenblätter neben dem spiegelglatten Dunkelblau scharf hingekratzter Hochhäuser. Flaumige Wolkenberge über einer vermüllten Strasse, oder die violetten Blüten einer Winde, die sich um einen Zaun mit bröckelnder Farbe rankten.
Die Bilder waren meine Art gewesen, mich auszudrücken, wenn das Leben mir keine Zeit dafür liess, es mit Worten zu sagen.
Doch die Zeichnungen waren über die Jahre immer düsterer geworden und ich hatte es vorgezogen, meine Gedanken nach innen zu richten.
Oder wegzuschieben.
Gewöhnlich setzte ich mich stattdessen an meine Baupläne und berechnete Massstäbe.
Ich hatte irgendwann angefangen, mich an den geraden Linien festzuklammern und manchmal wusste ich nicht, ob ich eines Tages wieder loslassen konnte.
Loslassen wollte.
Es beruhigte meine Nerven und auch gestern Abend hatte es mir dabei geholfen, nicht in meinen Gefühlen unterzugehen.
Ich weinte nicht. Niemals.
Wozu auch?
Tränen waren vielleicht nützlich, wenn man Freunde hatte, die versuchten einen wieder aufzumuntern.
Aber wenn man alleine war, konnte man sich sowas sparen.
Und so zog ich eine Gerade nach der nächsten, zeichnete Treppen ein und schuf rechte Winkel.
Das vertraute Geräusch des Bleistiftes erfüllte mein Zimmer bis tief in die Nacht hinein, aber das Brennen hinter meinen Lidern wollte diesmal nicht so schnell nachlassen.
***
Als ich am nächsten Morgen das Schulzimmer betrat, war ich fest entschlossen, dem Unterricht heute bis ins kleinste Detail zu folgen. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Hälfte meiner Lösungswege das Potenzial dazu hatte, meinen Lehrer in eine existentielle Lebenskrise zu stürzen und ich wollte den Anschluss nicht komplett verpassen.
Es frustrierte mich, dass ich so schlecht mitkam, denn eigentlich war ich gar keine so schlechte Schülerin und deshalb hatte ich mir vorgenommen in Zukunft so zu tun, als hätte sich in meinem Leben gar nie etwas geändert.
Als wäre alles immer noch so, wie vor den letzten Ferien und als gäbe es da niemanden, der mir im Kopf herumgeisterte.
Der Stuhl neben mir wurde zurückgezogen. Ich liess mir nichts anmerken, sondern schaute stur gerade nach vorne an die Tafel.
Niemanden hier ging es etwas an, was in meinem Inneren vor sich ging und schon gar nicht einen dahergelaufenen Typen, der sich für etwas Besonderes hielt.
Ich zuckte zusammen, als Nia mich anstupste.
Oh nein. Ich würde mich nicht umdrehen.
„Nia?"
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Hinter der Bühne (AT)
Teen FictionNia schweigt und das aus gutem Grund. Gehemmt durch ihr Stottern, behält die 15jährige Träumerin ihre Gedanken für sich und lebt in einer Welt aus Schulternzucken, Augenrollen und Kopfschütteln. Kopfschütteln vor allem über die sinnlosen Gespräche i...