Kapitel 8 - Der letzte Tropfen

4.4K 413 362
                                    

Ich will nicht.

Das war mein erster Gedanke, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug.

Ein Blick auf meinen Wecker zeigte mir, dass ich eine halbe Stunde vor dem Alarmton aufgewacht war und ich wälzte mich im Bett herum und wickelte mich in meine Decke ein.

Die Wolken über dem Dachfenster waren in ein finsteres Grau gehüllt und zogen in einem aufkommenden Sturm über den Himmel. Ich starrte in das durchzogene Dunkel, das über mir dahinjagte und schloss die Augen, als der Wind mit einem Brausen über das Dach strich und einen Schauer an Regentropfen herantrug, der mit einem tap tap tap gegen die Scheibe klatschte.

Die schiere Kraft der Natur erfüllte mich normalerweise mit einer Hochstimmung, die den ganzen Tag über anhielt.

Hätte ich zu Hause bleiben und es mir mit einer dampfenden Tasse Tee gemütlich machen können, dann wäre dieser Tag bestimmt eine meiner schönsten Erinnerungen in diesem Jahr geworden. Im Wohnzimmer gab es ein weiteres Dachfenster und ich bedauerte, dass ich mich nicht einfach aufs Sofa legen konnte, den Blick in das tosende Unwetter über mir gerichtet.

Ich rollte mich aus dem Bett und schnappte mir ein paar Klamotten.

Die kleine Stimme in meinem Kopf murrte. Sie kroch unter der Daunendecke hervor und begann lustlos damit, sich ebenfalls ihrer Garderobe zu widmen. Aber während ich in eine Jeans und einen dünnen Pullover schlüpfte, zog sie mit stoischer Miene ein schwarzes Kleid mit einem dramatisch ausgestellten Reifrock aus ihrem Schrank.

„Heute werden wir ganz bestimmt vor Scham im Boden versinken", lamentierte sie. Und dann, nach einer Kunstpause, fügte sie mit Leidensmine an: „Und sterben. Sterben werden wir auch."

Gewöhnlich war sie diejenige, die etwas mehr Kampfgeist zeigte, aber bei all den Problemen in den vergangenen Wochen, ging ihr wohl selbst langsam die Puste aus.

Und als sie nun auch noch ein grosses, besticktes Taschentuch aus ihrem Schrank zog und ein Schluchzen unterdrückte, da wusste ich ganz genau, was jetzt kommen würde.

Es war jedes Mal dasselbe.

Immer wenn sie glaubte, dass wir einen Tag nicht überleben würden, verdeutlichte sie ihre Überzeugung damit, dass sie symbolisch schon einmal vorzeitig dahinschied.

An meinem ersten Schultag hatte sie stundenlang einen Löffel durch meinen Kopf geschleppt, behauptet den müsse sie abgeben und dabei bitterlich geweint.

Nun strich sie sorgfältig ihre Röcke glatt, stieg auf einen Stuhl und legte sich tiefbetrübt eine Schlinge um den Hals.

„Es ist zu Ende. Ade Welt!", rief sie. „Oh, viel zu jung schied Eusebia die Fünfte aus ihrem Leben."

Sie dachte sich jedes Mal einen neuen Namen aus.

„Ich bitte dich", sagte ich in Gedanken, aber sie rümpfte nur die kleine Nase und sprang dann mit Todesverachtung von ihrem Stuhl.

Selbstverständlich konnte sie nicht wirklich sterben.

Das hielt sie allerdings nicht davon ab, der Vorstellung die nötige Dramatik zu verleihen und so rollte ich mit den Augen, während sie an ihrem Seil in meinem Kopf hin- und her baumelte und so tat, als sei sie mausetot.

Als ich wenig später die Wohnung abschloss, die Stockwerke durch das Treppenhaus hinunter gepoltert war und die Aussentür zur Strasse hin aufstiess, da schien es mir fast schon angemessen, dass die vereinzelten Regenschauer unterdessen zu einem stetigen Nieselregen geworden waren.

Ich versuchte meinen Schirm zu öffnen, doch dieser klemmte. Frustriert schüttelte ich ihn aus und als ich ihn schliesslich mit Gewalt aufspannte, da gab es ein Knacken und die Streben verbogen sich. Ungläubig schaute ich darauf hinunter. Das konnte doch wohl nicht wahr sein.

Hinter der Bühne (AT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt