KW 42 | Der Junge

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Es ist Herbst. Die Blätter fallen von den Bäumen, die Blumen im Garten sind verdorrt, die Leichtigkeit des Sommers wird abgelöst von dem Gefühl der Vergänglichkeit des Seins...

Heute nimmt uns _beyourfuckingself_ mit in ein Gedankenspiel der etwas anderen Art. Wir alle müssen irgendwann sterben. Doch was geschieht mit uns nach dem Tod? Und wie können wir diesem in Würde begegnen?

Er lag in einem sterilen Zimmer auf dem Bett in mehrere Stoffe gewickelt und starrte an die weiße Decke

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Er lag in einem sterilen Zimmer auf dem Bett in mehrere Stoffe gewickelt und starrte an die weiße Decke. Die weiche Baumwolle schmiegte sich an die schon lange haarlose Haut des Jungen und duftete nach dem Waschmittel, das alle Krankenhäuser zu benutzen schienen. Ein Schlauch steckte in seiner fahlen Haut und er versuchte angestrengt, die Schmerzen, die er hatte, gedanklich unter Kontrolle zu bekommen.

Ein schmaler Lichtstrahl stahl sich durch einen Spalt im Vorhang; heute schien der Mond besonders hell. Am liebsten wäre der Junge aufgestanden und hätte sich an das Fenster gestellt, um dieses wunderschöne Phänomen zu beobachten, doch mittlerweile fehlte ihm die Kraft dazu. Und trotzdem fühlte es sich so an, als wäre dies sein letzter Wunsch, als wäre es unfassbar wichtig, den Mond noch einmal zu sehen. Schließlich könnte es sein letztes Mal sein.

Bei diesem Gedanken wurde ihm mulmig zumute. Der Tod war ein Thema, das er vehement mied. Seine Angst davor war zu groß. Würde Sterben weh tun? Was würde danach geschehen? Würde sich jemand an ihn erinnern? Würde jemand um ihn trauern? Wäre es so, als hätte er nie existiert?

Fragen, auf die er keine Antwort hatte und die ihn Tag und Nacht plagten, ihm keine Ruhe ließen.

Plötzlich wurde die Zimmertür geöffnet, seine Gedanken unterbrochen und zwei Pfleger traten ein. Wortlos gingen sie zu dem Jungen und rollten das Bett, in welchem er lag, gemeinsam auf den Gang. Der eine schob nun das Gestell des Bettes und der andere den kleiderständerähnlichen Metallstab, an dem die Infusion des Jungen hing.

Der Jugendliche öffnete den Mund, um zu fragen, was in aller Welt das sollte, doch kein Laut entrang sich seiner trockenen Kehle. Sein Herz pochte schneller als normal und er fragte sich, was jetzt wohl geschehen würde. Der Flur war menschenleer und das Licht der grellen Neonröhren brannte in den Augen. War etwas passiert? Hatte er etwas verpasst? Näherte er sich nun dem Tod? Wohin brachten ihn die fremden Männer nur?

Mittlerweile waren sie schon eine Weile unterwegs, zumindest fühlte es sich für den Jungen so an, doch dann hielten die Unbekannten endlich an. Er wurde in einen vollkommen leeren, fensterlosen Raum geschoben, in welchem nur eine nackte Glühbirne von der Decke hing, auch wenn diese etwas seltsam aussah. Kaum hatte er das Zimmer vollkommen wahrgenommen, ließen ihn die Männer allein im Raum zurück und schlossen die Tür hinter sich. Dann erlosch das Licht und der vermeintlich Sterbende lag in alles verschlingender Dunkelheit. Nirgends brannte auch nur das kleinste Lämpchen und fast schon verlor er die Orientierung. Es fühlte sich so an, als würde er im luftleeren Universum schweben, ohne Raum und Zeit. Einfach in einem unendlichen Nichts.

Es war seltsam dort zu liegen und nicht zu wissen, was als nächstes geschah. Entgegen seiner Erwartung legten sich die umherschwirrenden Gedanken in seinem Kopf langsam in der Finsternis und er empfand eine noch nie dagewesene Ruhe. Es war angenehm und doch etwas Furcht einflößend. Die Angst vor dem Sterben war immer noch da.

Nach einiger Zeit – es konnten wenige Sekunden und genauso gut viele Stunden gewesen sein – erklang plötzlich ein klickendes Geräusch und auf einmal waren da Lichtpunkte im Raum; überall. An den Wänden sowie auf dem Boden und der Decke des Zimmers. Die Lichter bewegten sich, fanden zusammen und gingen wieder auseinander.

Es war faszinierend, diesem Spektakel beizuwohnen und den hellen Punkten, die wild durcheinanderwirbelten, mit den Augen zu folgen. Dennoch erschloss sich der Sinn und Zweck des Ganzen dem Jungen noch nicht, bis eine angenehm tiefe Stimme erklang. Sie begann, ihm davon zu erzählen, dass er nie sterben würde. Die Teile seines Körpers, Atome, waren angeblich unsterblich, überdauerten die Unendlichkeit, die niemals enden würde, da es sonst eine Endlichkeit wäre. Zwar würde sich sein Körper nach seinem Tod auflösen, jedoch würden die Atome immer weiter existieren und sich zu neuem, vielleicht noch nie dagewesenen, manifestieren.

Der Junge verstand. Die Lichtillusionen passten sich den Worten, die aus unsichtbaren Lautsprechern drangen, an und formten das Universum, zoomten so lange, bis man die Atome erkennen konnte und verwandelten sich schlussendlich wieder in umherirrende Lichtpunkte. Die Stimme verstummte und auch die Glühbirne hörte auf zu leuchten.

Wieder lag er in dumpfer Schwärze, doch nun war etwas anders. Sein Herz fühlte sich nicht mehr so kalt und leer an und die fehlende Angst vor dem Tod hinterließ eine große Lücke. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Verlust, so lange hatte ihn dieser Gedanke begleitet, dennoch war es befreiend für ihn, dieses Gewicht nun nicht mehr hinter sich herziehen zu müssen. Er war schon mehr als einmal kurz davor gewesen, von den Lebenden zu gehen, obwohl es sich sowieso nicht so anfühlte, als würde er noch etwas erleben, doch immer hatte ihn eine Sache daran gehindert, loszulassen. Nun fehlte diese Sache und er wusste, dass es wohl nicht mehr besonders lange dauern würde, bis sein Herz ihm den Dienst verweigern würde.

Wenig später holten ihn die Männer wieder und brachten ihn zurück in seinen sterilen Raum, der dem Jungen nun nicht mehr so vorkam, als sei er das Vorzimmer des Todes. Die Stille, die einkehrte, als die Pfleger ihn allein ließen, war einlullend und leitete den Kranken in einen tiefen Schlaf.

Die Nacht des Leermondes war die Nacht, in der das Licht der Existenz des Jungen ausgelöscht wurde.

Aber seine Atome formten sich zu neuem Leben und existierten in der Unendlichkeit des Universums weiter.


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