Kapitel 29

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Sie schüttelt den Kopf.

Was hat das zu bedeuten? 
"W... Was ist... los?"
"Lass uns gehen, Ellis", sagt Seren monoton.
"Was..." Ich verstehe rein gar nichts.
"Also aus ärztlicher Sicht", fängt Phil an, wird jedoch von meiner Tante unterbrochen.
"Wir gehen jetzt."
"Dann müssten Sie noch unterschreiben, dass Sie damit einverstanden sind, dass Ihre Nichte gegen ärztlichen Rat -"
"Ich weiß."
Seren wendet sich an mich.
"Es wird alles gut, okay?"
Ich starre meine Tante einfach nur an - in der Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen. 
Doch sie unterschreibt nur diese Entlassungspapiere für mich, dann fordert sie mich zum Gehen auf.


Ich weiß nicht, was Seren vorhat. Ich weiß nicht, wohin sie gerade fährt. Ich weiß nicht, was mit Dad ist.
Eigentlich will ich es gar nicht wissen.
Ich habe langsam das Gefühl, dass mir das egal ist.
Nicht egal im Sinne von, Dad ist mir egal.
Sondern eher...
Mein Leben ist mir egal.
Und deshalb hake ich nicht nach, was Seren und ich jetzt machen werden.
Auch nicht, was aus Dad wird.
Ich schaue nur aus dem Autofenster.
Als wäre alles nicht schon traurig genug, fängt es an zu regnen. Erst sind es nur einzelne kleine Tropfen, die auf Fenster und Windschutzscheibe landen, doch mit der Zeit werden es immer mehr. 
Der Regen erinnert mich an etwas aus meiner Kindheit. Etwas, woran Dad, Noah und ich gedacht haben, wenn es geregnet hat.

Ich war um die zehn Jahre alt. Noah damals fünf, oder sogar schon sechs. 
Wir waren zu dritt im Auto auf dem Weg nach Hause, wo Mum schon auf uns wartete.
Es hatte schon den ganzen Tag lang ununterbrochen geregnet, und auf einmal fragte Noah:
"Warum regnet es?"
Und ich antwortete: 
"Weil die Wolken weinen."

Vielleicht habe ich damals nicht verstanden, was genau ich da eigentlich sagte. Vielleicht wusste ich nur unterbewusst, dass ich eine Metapher geschaffen hatte, die von dem Moment an für mich eine Begründung für alle Traurigkeit der Welt  werden sollte. Zumindest bis zu Toris Tod.
Ich dachte mir immer: Wenn Wolken traurig sind, werden sie dunkel, und sie weinen. Die Tränen sind das, was wir hier als Regen bezeichnen. Und wieso weinen Wolken? Weil jeder mal traurig ist. Weil es jedem mal schlecht geht, und weil jeder mal weint. Und nach dem Regen kommt auch Sonne, und vielleicht entsteht dabei sogar ein Regenbogen.

Im Nachhinein betrachtet kommt mir mein damaliges, naives, unbeschwertes Ich einfach nur bemitleidenswert vor.
Wie konnte ich so etwas nur denken? Wie konnte es sein, dass sich so etwas unrealistisches, kitschiges in meinem Kopf festgesetzt hat?
Ich mein, ja.
Jeder ist mal traurig, und ich denke, dass das nichts Schlimmes ist, oder etwas, wofür man sich schämen muss.
Aber wenn man in dieser Situation ist, und die Traurigkeit und Einsamkeit in dir die Oberhand gewinnt, gibt es in dem Moment nichts anderes außer das. Es gibt keine Sonne; keinen Regenbogen. Es gibt auch kein Licht am Ende des Tunnels. Eher will man vom entgegenkommenden Zug erfasst werden - in der Hoffnung, alles würde aufhören.

Ich realisiere, dass ich schon sehr lange so denke. 
Vielleicht habe ich mich nach all dem mit Tori verändert. Wahrscheinlich. 
Und jetzt noch Noah und Dad.
Nicht zu vergessen die Rolle, die meine Mutter in all dem spielt. 


Ich will schreien.
Und hinterfragen, wieso gewisse Sachen passieren müssen.
Gleichzeitig will ich ins Bett und schlafen.
Was bringt es denn, zu schreien? 
Was bringt es denn, Dinge zu hinterfragen, auf die es eh keine Antworten gibt?
Nichts.
Es bringt nichts.

Und so bleibe ich einfach nur im Auto sitzen; aus dem Fenster starrend, Regentropfen zählend.


Doch irgendwann hält Seren das Auto an.
Und ich erkenne die Umgebung.
Es ist die DRK-Wache.
Fuck.
Was will Seren denn jetzt noch hier? Und das mit mir?
Jetzt muss ich wohl oder übel mit ihr reden.
"Was machen wir hier?", frage ich Seren.
"Deine Praktikumsbeurteilung abholen."
"Was-"
Weiter komme ich nicht, denn sie steigt aus, und mir bleibt nichts anderes übrig, als auch das Auto zu verlassen und meiner Tante zu folgen.

Im Inneren der Wache kommt uns Franco entgegen, und ich bekomme einen Herzinfarkt, weil ich an Allegra denken muss.
Franco grüßt uns, und während Seren sich nach der Praktikumsbeurteilung erkundigt, versuche ich so gut es geht, Francos Blicken auszuweichen. Doch kurz darauf verschwindet er wieder - dafür taucht Paula auf.
Kurz sieht sie mich an, dann guckt sie weg. Mit einem kurzen "Hallo" überreicht sie meiner Tante irgendwelche Blätter, die wohl die Praktikumsbeurteilung sein müssen.
Und dann geht Paula auch wieder.



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Ich weiß immer noch nicht, was ich mit ihrem Vater mache 😩

Und wenn es kein morgen gibt? - ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt