Kapitel 17

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Ich reiße die Autotür auf, als meine Eltern vor dem Wohngebäude halten, und setze mich auf die Rückbank unseres Autos. Dann mache ich die Tür wieder zu und schnalle mich an.
Mum hatte mich extra noch per WhatsApp gebeten, aus der Flurkommode Noahs graue Adidas-Cap zu holen und mitzunehmen - für den Fall, dass Hunde zum Einsatz kommen sollten. Eigentlich hoffe ich, dass es soweit nicht kommen muss.

Dad fährt sofort los, und die ganze Fahrt über herrscht Stille - nur das Radio läuft leise vor sich hin. 
Zur Abwechslung mal ein ruhiger Song, der mich ein wenig ablenkt. 

Ich bin unglaublich nervös, als ich mit meinen Eltern zusammen die Polizeiinspektion in Köln-Mühlheim betrete. 
Bisher bin ich nur einmal bei der Polizei gewesen - und zwar im Kindergarten. Und selbst damals habe ich mich lieber mit den anderen Kindern unterhalten, als den Kommissaren zuzuhören.
Aber jetzt geht es um etwas Ernstes.
Es geht um Noah.

"Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?", fragt uns ein Beamter am Empfangstresen, nachdem er uns die Tür geöffnet hat. 
"Wir möchten unseren zehnjährigen Sohn als vermisst melden - könnten wir vielleicht mit Herrn Paul Richter sprechen? Er ist ein guter Freund von mir", erklärt mein Vater da auch schon. Er klingt eigentlich wie immer - nichts, wirklich nichts lässt ihn aus der Ruhe bringen. Doch als ich ihm kurz ins Gesicht sehe, merke ich, dass er ein wenig blasser aussieht als sonst. 
Meine Mutter hingegen wirkt ziemlich beunruhigt und fummelt nervös an ihrer weißen Bluse rum.
"Paul?", ruft der Empfangsbeamte. "Kommst du mal bitte?"
Daraufhin taucht ein weiterer Polizeibeamte mit dunklem Haar auf. 
"Ja, hier bin i... James!" Der Beamte wirkt sehr überrascht, als er meinen Vater erblickt.
"Hi...", sagt mein Vater.
"Was ist los, was bringt dich hierher? Und dann auch noch mit Frau und Tochter?"
"Unser Sohn, Noah, ist nicht von der Schule nach Hause gekommen."
"Dann... Kommt mal mit in den Raum dort, da können wir alles besprechen - wie alt ist er denn?"
"Zehn", antwortet meine Mutter.
"Okay, wir werden sofort eine Fahndung einleiten - es ist gut, dass ihr hierher gekommen seid."

Paul Richter führt uns in einen Raum und bittet uns, Platz zu nehmen.
"Gut, nochmal von vorne. Wann hätte er denn zu Hause sein sollen?", fragt er uns.
"Also, er hatte heute um 13:05 Uhr Schluss, deshalb hätte er gegen halb zwei - spätestens Viertel vor - zu Hause sein müssen. Und wenn er zu Freunden geht, schreibt er uns eigentlich immer eine Nachricht und ist um halb sechs dann wieder da. Oh Gott, normalerweise ist er sehr zuverlässig und verspätet sich nie." Mum atmet tief durch.
"Ich bin gegen 17 Uhr heute heimgekommen, und... da war er nicht da", fange ich an zu erzählen. Und gegen 18 Uhr dann habe ich ihn mal angerufen... Aber es ist nur seine Mailbox rangegangen, und zwar sofort."
"Habt ihr schon bei den Freunden nachgefragt?"
"Ja, klar - meine Frau hat bei allen möglichen Eltern angerufen und gefragt, ob die vielleicht was wissen... Da kam aber nichts raus", sagt jetzt mein Vater.
"Und bei der Schule habe ich auch angerufen", fügt Mum hinzu. "Aber da wussten die auch nichts genaueres." Ihre Stimme versagt gegen Ende des Satzes, und sie verstummt. 
"Okay, auf welche Schule geht er? Und Klasse?"
"Schiller-Gymnasium, 5B", antworte ich.
Der Oberkommissar stellt meinen Eltern noch einige weitere Fragen. 
Namen der Freunde, eventuelle Probleme oder Feinde - sowas. 

"Dann gehe ich jetzt nochmal zu meinem Kollegen, und der gibt dann eine Fahndung nach ihm raus", kommt Paul Richter schließlich zum Ende und verlässt den Raum.
Ich blicke Mum an.
"Wo ist er?", frage ich zu allem Überfluss. 
Ich könnte mich schlagen - als ob Mum diese Frage beantworten kann.
"Ich weiß es nicht", haucht sie. "Ich weiß es wirklich nicht." 
Ich höre die Verzweiflung aus ihrer Stimme.
Es kommt nicht so oft vor, dass meine Mutter ihre Gefühle zeigt. Und wenn sie es doch tut, heißt es, dass es sehr ernst ist.
Und das ist es definitiv.

"So." Paul Richter betritt den Raum wieder. "Die Fahndung läuft, es werden die Gebiete rund um das Schiller-Gymnasium durchsucht - ebenso die Wälder in der Umgebung. Wir werden auch Spürhunde einsetzen - habt ihr vielleicht etwas, wo der Geruch von Noah dran ist? Mütze oder sowas in der Art vielleicht?"
"Jaah, seine Cap", sage ich leise und reiche sie ihm über den Schreibtisch.
"Okay, super, danke."
"Wie geht es denn jetzt weiter?", fragt Dad.
"Also, da es sich hier um ein Kind handelt und dessen Handlungen nicht dem Normalverhalten entsprechen, hat das hier natürlich oberste Priorität. Ein paar Kollegen werden nochmal die Freunde und Lehrer von Noah befragen - öffentliche Kameras in der Nähe der Schule werden auch ausgewertet. Und außerdem wollen wir es mal mit der Handy-Ortung versuchen."
Paul Richter sieht erst meine Eltern, dann mich an.
"Bist du auf der selben Schule wie dein Bruder?", will er dann wissen.
Ich kann nur nicken.
"Bis wann hattest du denn Unterricht? Du meintest, du wärst erst gegen fünf heimgekommen."
"Ich hab Praktikum diese Woche", erkläre ich. "Deshalb war ich auch nicht in der Schule, sondern beim Roten Kreuz..."
Oh Gott.
Wenn doch dieses bescheuerte Praktikum nicht wäre...
Ich hätte Noah dann in der Schule gesehen.
Vielleicht wäre dann alles normal, und ich würde nicht mit unseren Eltern hier sitzen und ihn als vermisst melden.
Und wenn wir ihn nicht finden...
Wenn er tot ist...
"Ellis?"
... dann ist das meine Schuld.
"Hey, alles okay? Ellis?!"
Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen.
Ich bin doch seine große Schwester...
"Ellis! Hörst du mich?"

Ja.
Ich kann Dad hören.
Ich kann ihn auch sehen.
Nur will ich nicht.
Ich will nichts hören, nichts sehen; einfach nur schreien und rennen und Noah in die Arme schließen.

"Alles wird gut. Ich verspreche es dir."
Aber ein Versprechen kann gebrochen werden.
Ein Versprechen kann zur Lüge werden.

"Nein, wird es nicht!", entgegne ich meinem Vater.
"Hey. Ellis war's, richtig?", schaltet sich jetzt Paul Richter ein. "Wir tun wirklich alles, was uns in der Macht steht. Wir werden versuchen, deinen Bruder zu finden."
Jetzt rollen mir tatsächlich Tränen über die Wangen.
Wie ich es hasse, vor anderen Leuten zu heulen.
Aber im Moment ist das eh egal. 

Noah ist weg und alles, was ich tun kann, ist heulen und hier rumsitzen.

"Ellis... Du weißt doch: Am Ende des Tunnels ist immer Licht", versucht es nun meine Mutter.
Ich blicke sie an.
Zorn überkommt mich.
Und Sarkasmus.
Jepp.
Der Sarkasmus in mir ist zurück.

"Tja, und dann war's doch nur ein entgegenkommender Zug, der mich überfahren hat."



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Heio, ich musste (Stand 05.07.23; 20:30 Uhr) das Kapitel nochmal  überarbeiten, weil ich gemerkt hab, dass einige meiner Änderungen nicht gespeichert wurden lol, und deshalb das abrupte Ende mitten im Satz. Ich hab das jetzt mal ausgebessert (aber es ist immer noch ärgerlich, dass ich meine eigentliche, geplante Version doch nicht hochladen konnte...).
Man liest sich :)


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