"Fuck. Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck. Scheiße, Ellis, das tut mir so leid."
Allegra sitzt neben meinem Krankenbett und schüttelt immer wieder schockiert den Kopf. Fast bereue ich es, ihr von den Ereignissen der letzten Tage erzählt zu haben, aber gleichzeitig hat es unglaublich gut getan, mit jemandem darüber reden zu können.
"Fuck. Sorry", schiebt Allegra hinterher. "Ich weiß einfach nicht... Ich hab keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll."
"Schon okay", sage ich und lächle leicht.
"Kann ich irgendetwas für dich tun?"
"Wir... Wir könnten vielleicht über etwas anderes reden?", schlage ich vor. Ablenkung wäre wahrscheinlich wirklich nicht schlecht.
"Okay, klar. Ähm... Welche Lehrkräfte magst du am meisten?"
"Wow, das kommt sehr random."
"Sorry. Mir ist grad nichts Besseres eingefallen." Allegra zuckt entschuldigend mit ihren Schultern. Irgendwie süß.
"Nein, nein, alles... alles gut. Ich würde sagen, ich mag Herr Fender am meistens. Ich hab ihn dieses Jahr in Ethik und sein Unterricht ist echt gut."
"Ja, der ist wirklich cool. Er ist auch ein sehr guter Vertrauenslehrer... Schon irgendwie traurig, dass er mittlerweile mehr über mich weiß, als meine eigene Familie." Sie lacht und ich blicke sie überrascht an.
"Echt?", frage ich.
"Jaah... Er hat mich unterstützt, als ich am Anfang des Schuljahres unglaublich Angst davor hatte, zur Schule zu gehen."
"Du hattest Schulangst?" Das ist mir neu. Allegra Fabiano. Die Schulsprecherin. Schulangst. Passt das zusammen?
Innerlich ohrfeige ich mich selbst für meinen Gedankengang. Schulangst kann natürlich jeden betreffen.
"Ja. Teilweise immer noch. Aber damals gab's ein paar Zwischenfälle in meiner Klasse, die mich betroffen haben, deshalb... Ja. War nicht so cool."
"D-Darf ich fragen, was passiert ist?"
"Klar." Sie atmet kurz tief durch. "Ich steh nicht auf Jungs, sondern nur auf Mädchen. Und als ich das meiner damaligen besten Freundin erzählt habe, hat sie das den anderen aus meiner Klasse einfach weitergesagt."
Mehrere Gedanken strömen auf einmal durch meinen Kopf, doch einer scheint am präsentesten zu sein:Sie steht auf Mädchen?
"Ich...", fange ich an, schließe danach meinen Mund aber wieder, da mir nichts einfällt, was ich dazu sagen könnte.
"Du... Findest du das komisch?", fragt Allegra mich etwas unsicher.
Panisch schüttle ich den Kopf.
"Nein! Auf gar keinen Fall, ich... Ich bin nur etwas überrascht, aber... Sorry, das kam einfach... also ich hätte nie damit gerechnet...", stammle ich vor mich hin.
"Oh, okay." Erleichtert sieht sie mich an. Und dann, bevor ich mich stoppen kann, sage ich:"Ich steh auch auf Mädchen."
Wieder einmal ärgere ich mich kurz über mich selbst - ich meine, wie random war das bitte gerade?
"Wirklich?" Ein breites Lächeln breitet sich auf Allegras Gesicht aus, das meinen Puls erhöhen lässt. Fuck, ich sollte mich unter Kontrolle kriegen.
"Ja", nicke ich. "Aber ich hab absolut keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll oder was meine Labels sind. Du bist die erste, der ich das erzählt habe."
"Verstehe... Hast du dazu Fragen? Ein paar könnte ich dir vielleicht beantworten."
"Ich gebe zu, ich habe eine Menge Fragen. Ähm... Wie finde ich raus, wie ich mich labeln soll? Also ob ich jetzt bi oder pan oder was auch immer bin?"
"Also, erstmal musst du dich überhaupt nicht labeln, wenn du das jetzt nicht möchtest oder nichts passendes findest - das macht dich nicht weniger valide. Aber hast du grundsätzlich eine Idee, in welche Richtung es gehen könnte?"
Ich überlege kurz.
"Wahrscheinlich bi, aber ich weiß nicht genau, ob ich wirklich Jungs attraktiv finde... Also, ich hatte noch nie einen Crush auf einen Jungen, aber ich könnte mir vorstellen, mit einem in einer Beziehung zu sein, und gewisse Jungs oder Männer sehen ganz gut aus... Aber was ist da der Unterschied zu Pansexualität?"
"Pansexuelle Menschen sind genderblind. Grundsätzlich heißt das, dass es ihnen um die Persönlichkeit einer Person geht, und nicht um das Geschlecht. Bisexuelle finden mindestens zwei Geschlechter attraktiv und können von daher auch Präferenzen haben - oder aber es ist ausgeglichen. Man muss aber dazu auch sagen, dass jeder Mensch sein Label wahrscheinlich etwas anders definieren würde. Ist halt ein Spektrum."
Ich nicke nachdenklich.
"Und, äh, was ist dein Label?"
"Lesbisch. Heißt für mich, dass ich auf nicht-männliche Personen stehe."
"Wie hast du das rausgefunden?"
"Gute Frage. Irgendwie wusste ich schon immer, dass ich Jungs nicht attraktiv finde. Du?"Ich schließe kurz die Augen. Die Wahrheit ist, dass ich durch Allegra gemerkt habe, dass ich mich auch in Mädchen verliebe, aber das kann ich jetzt nicht sagen. Zumindest nicht direkt.
"Na ja, ich hab mal ein Mädchen kennengelernt, das ich dann für lange Zeit echt süß fand... und immer noch sehr mag", weiche ich deshalb aus. "Bist du vor deiner Familie geoutet?"
"Jepp. Meine Eltern sind sehr entspannt, was das angeht. Aber die wissen jetzt nicht, dass ich in der Schule deswegen Stress hatte."
"Oh, verstehe... Hast du dann eigentlich auch eine feste Freundin?", frage ich möglichst beiläufig.
"Schön wär's", lacht Allegra. "Erzähl mir mehr über das Mädchen, das du vorhin erwähnt hast."
Ich erröte.
"Sie ist sehr nett und klug, und... ja, hübsch eben auch", sage ich leise. Um von meinem Liebesleben abzulenken, frage ich sie, ob sie einen Crush auf jemanden hat.
"Vielleicht", grinst sie.
Ich weiß nicht genau, wie ich das deuten soll. Ja oder nein?
"Vielleicht?", hake ich nach.
"Es gibt da zwar jemanden, aber... Erstens weiß ich nicht, ob sie auch etwas von mir wollen würde, und zweitens... Sie hat wahrscheinlich andere Sachen, um die sie sich erstmal kümmern muss, bevor sie sich Gedanken um Beziehungen macht."
"Fühl ich", murmle ich, während ich gegen meinen Willen einen leichten Stich Eifersucht in mir spüre. Ich will auf gar keinen Fall eifersüchtig sein. Ich will dass Allegra glücklich ist, und deshalb soll sie mit der Person zusammen kommen, die sie glücklich macht.
"Wie sind wir eigentlich auf dieses Thema gekommen?", frage ich.
"Du hast gesagt, dass Herr Fender dein Lieblingslehrer ist", lacht Allegra.
"Stimmt... Aber er ist halt wirklich ein Ehrenmann."
"Jaaaa."
Kurz herrscht Schweigen zwischen uns. Ich beobachte Allegra dabei, wie sie in Richtung Balkon sieht.
"Es regnet", sagt sie schließlich.
"Ich liebe Regen", sage ich und bereue es sofort.
Allegra steht von ihrem Stuhl auf und dreht sich zu mir um.
"Ich auch", meint sie.
Überrascht sehe ich sie an.
"Wirklich?"
"Gutes Wetter ist halt irgendwie überbewertet. Und ich liebe das Geräusch, wenn Regen gegen Fenster prasselt."
"Jaah..."
Wieder schweigen wir ein paar Sekunden lang.
"Darfst du aufstehen?", fragt Allegra dann. Ich nicke, dann richte ich mich auf und klettere aus dem Bett.
"Wollen wir auf den Balkon gehen?"
"Wenn ich dafür keinen Anschiss von den Ärzten bekomme, dann gerne."
"Keine Sorge, frische Luft tut sicherlich gut", grinst Allegra, geht rüber zum Balkon und öffnet die Tür. Dann blickt sie mich an.
"Kommst du oder soll ich dir irgendwie helfen?"
"Ich schaff das schon", lache ich.Lachen.
Ich lache.
Und irgendwie fühlt es sich gut an. Befreiend.
Langsam gehe ich auf Allegra zu, dann betreten wir zusammen den Balkon. Es ist etwas kühl - und tatsächlich, es regnet.Eine ganze Weile stehen wir nebeneinander auf dem Balkon, ohne etwas zu sagen. Doch irgendwann breche ich das Schweigen.
"Wenn man von hier runterspringen würde... Glaubst du, man wäre dann sofort tot?"
Allegra sieht mich einen Moment lang an.
Dann umarmt sie mich.
Perplex stehe ich einfach nur da, bis ich mich wieder fange und meine Arme vorsichtig um ihren Körper schlinge. Ich vergrabe mein Gesicht in ihre Schulter, ihr rotes Haar kitzelt meine Wange.
Wann hab ich das letzte Mal jemanden so nah an mich rangelassen?
Kurz macht sich Panik in mir breit, doch überraschenderweise folgt dann ein Gefühl, das ich seit langem nicht mehr gespürt habe. Ich kann es nicht ganz zuordnen. Ist es Glück? Zufriedenheit? Liebe?
Vielleicht eine Mischung aus allem.
Ich weiß nur, dass es sich richtig anfühlt.
Ich bin zurück... Mit einem etwas längerem Kapitel :)
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Und wenn es kein morgen gibt? - ASDS
Fiksi Penggemar~TW: Psychische Probleme, mit Fokus auf Angst- und Essstörungen~ Der fünfzehnjährigen Ellis steht ein Schülerpraktikum bevor - und das beim Roten Kreuz in Köln. Dort verhält sie sich vorerst zurückhaltend, sarkastisch und pessimistisch - wie immer...