Kapitel 27

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"Fühl dich wie zu Hause", sagt Seren mit einem leichten Lächeln im Gesicht, als wir ihr Einfamilienhaus betreten.
Nur über meine Leiche. 
Klar, das Haus ist sehr groß und modern und alles - aber wie zu Hause kann und will ich mich hier nicht fühlen. Vor allem, wenn ich daran denke, was ich mit zu Hause alles verbinde. 
Schnell schiebe ich diese Gedanken beiseite und folge Seren durch den Flur. Sie führt mich zwei Stockwerke nach oben. Ins Dachstudio, das wohl als Gästezimmer genutzt wird.
"Zarah müsste in einer halben Stunde nach Hause kommen - nur, damit du Bescheid weißt. Ihr seid ja ungefähr gleich groß, da kannst du sie nach Klamotten fragen. Wenn sonst noch etwas sein sollte, ich bin unten in der Küche, ja?" Seren blickt mich prüfend an.
"Ja", antworte ich nur, in der Hoffnung, sie würde den Raum verlassen.
"Gut. Dann lass ich dich mal", sagt meine Tante schließlich, und schließt die Tür hinter sich.
Seufzend lasse ich mich auf das Schlafsofa fallen und versuche, die heutigen Ereignisse irgendwie zu realisieren.
Was.
Zur.
Hölle.
Ich kann es einfach nicht fassen.
Erst Tori, dann Noah, und jetzt meine Eltern.
Das wird schon, höre ich Serens Stimme nochmal sagen.
Tja, und was, wenn nicht? Was, wenn mein Vater stirbt? Ermordet von seiner eigenen Frau? Und was wird aus Mum? Anklage, Urteil, Gefängnis. So viel ist klar. Werde ich sie trotzdem sehen können? Will ich das überhaupt? Was wird aus mir? Werde ich dann für immer bei Seren leben müssen - oder zumindest bis ich volljährig bin? Und was ist mit der Schule? Muss ich die Leute, mit denen ich dort ganz gut klargekommen bin, auch hinter mir lassen? Mila? Svea? Allegra?
Und... Oh Gott. Jess. Was war jetzt mit ihm denn nochmal? Werde ich ihn jemals wiedersehen? Er und seine Schulsanitätskollegen haben immerhin Noah gefunden... Und versucht, ihn zu retten. Wo ich doch schon bei Noah bin: Was genau ist ihm passiert? Wie kann es sein, dass er an diesem See war? Wer ist für sein Verschwinden - für seinen Tod - verantwortlich?

Ich bekomme Panik.
Diese Gedanken. Ich kann sie nicht stoppen. Es geht einfach nicht.
Irgendwie schaffe ich es, meinen hektischen Atem in Griff zu bekommen, und greife dann nach meinem Handy und nach meinen Kopfhörern. Gedankenverloren scrolle ich durch meine Spotify-Playlist, und höre dann die Akustik-Version von Gracie Abrams 21 in Dauerschleife. Ein paar Tränen schaffen es dabei aus meinen Augen, doch irgendwann spüre ich nichts mehr. Nicht wirklich. Ich habe eher das Gefühl, dass ich jetzt erstmal leer bin. 
Und so höre ich mir den Song noch einige weitere Male an, bis ich Schritte wahrnehme, die scheinbar die Treppen hochlaufen. Ich halte den Song an, reiße mir meine Kopfhörer aus den Ohren und pfeffere sie mitsamt Handy beiseite. Als ich mich dann aufrichte, klopft es auch schon an der Zimmertür. Ich bejahe, und herein kommt meine Cousine.
"Hi", sagt sie.
"Hi", erwidere ich. 
Ein paar Sekunden lang sehen wir uns nur an, dann setzt sich Sarah neben mich aufs Schlafsofa.
"Tut mir leid wegen all dem, was passiert ist", meint sie.
"Danke." 
"Und sonst ist alles halbwegs okay?"
"Ja." Nach einer kurzen Pause füge ich ein "Und bei dir so?" hinzu.
"Ganz in Ordnung. Ich bin froh, dass jetzt dann bald Notenschluss ist."
"Mmh."
"Hast du bis eben Musik gehört?" Zarah deutet auf meine Kopfhörer.
"Ja."
"Und was genau für Musik so?"
"Gracie Abrams."
"Nie gehört."
"Sie ist eher in den USA bekannt."
"Kannst du mal einen Song von ihr anmachen?"
Kurz zögere ich, dann jedoch nehme ich mein Handy und lasse 21 wieder laufen.
"Wow", haucht Zarah, als der Song endet. "Sie hat echt 'ne schöne Stimme."
"Ja. Zart und zerbrechlich, find ich."
Zart und zerbrechlich. Ich komme mir vor wie ein Dichter.
"Stimmt... Und, äh... Hattest du dieses Schuljahr eigentlich Schülerpraktikum?"
Fast lasse ich mein Handy aus der Hand fallen. Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Wo muss ich denn hin, um vorerst nicht über dieses verdammte Praktikum reden zu müssen? 
"Jaah... War ganz cool", weiche ich aus. 
"Wo hast du's gemacht?"
"Beim Roten Kreuz."
"Oha, cool. Ich hab meins in der Drogerie gemacht, weil ich damals mit den Bewerbungen relativ spät dran war und sonst keinen Platz bekommen hab."
"Verstehe."
Wieder herrscht Schweigen zwischen uns.
"Wie... Wie geht's denn jetzt deinem Vater?", fragt sie irgendwann.
Am liebsten würde ich schreien. Wie können Menschen so unsensibel sein? Unsensibel und egoistisch.
"Sehr gut", gebe ich deshalb zurück. Darauf antwortet Zarah nichts. Irgendwann steht sie dann vom Schlafsofa auf und will gehen. Als sie kurz davor ist, die Tür zu schließen, dreht sie sich noch einmal zu mir um.
"Sorry, dass das jetzt so rüberkam", giftet sie mich an. Dann knallt sie die Tür zu und geht.
Ich seufze. Ich vermassele ich es wirklich mit den allermeisten Menschen.


Am frühen Abend kommt Seren ins Zimmer.
"Wie geht's dir?", fragt sie. Ich verkneife mir einen sarkastischen Kommentar und murmle ein "Ganz okay" vor mich hin.
"Hör mal, die Klinik hat angerufen. Dein Vater wurde mehrmals notoperiert und dann ins künstliche Koma versetzt", erzählt Seren leise.
Ich blicke sie an. Unsicher, was ich darauf erwidern soll, frage ich, ob wir zu ihm können.
"Heute nicht mehr. Aber morgen, okay?"
"Okay."
Mit diesen Worten wende ich mich von Seren ab und warte, bis sie den Raum verlässt. Dann widme ich mich wieder ans Musikhören und schlafe irgendwann ein.



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Ich bin so unkreativ ahh
Was soll sonst noch so passieren? 
:)







Und wenn es kein morgen gibt? - ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt