Tinnuviel
Sie war früh am Morgen nach der Abreise der anderen aufgebrochen und nach einem fünf tägigen Ritt über den alten Handelsweg, der sie durch die verschneiten Wälder und Täler geführt hatte, erreichte sie mit Rih schließlich Droodia. Schon hier im Vorland, soweit draußen vor der eigentlichen Festung, konnten ihre scharfen Augen viele Späher entdecken. Sie kauerten auf Bergvorhängen, hatten ihre einfachen Hütten am Rand von kahlen Wäldern errichtet oder patrouillierten auf den Landwegen.
Gewiss wusste man in Droodia schon Stunden vor ihrer Ankunft Bescheid, doch davon ließ sie sich nicht beirren und bestritt den Weg in einem gemächlichen Schritt. Tyrdan würde warten müssen. Und sie ließ ihn gerne warten, da sie um seine Ungeduld wusste. Bald begann es zu schneien, weshalb sie sich ihre Mantelkapuze nur noch tiefer ins Gesicht zog. Das Land war nur spärlich besiedelt. Das meiste war karge weiße Einöde, doch immer wieder kam sie auch durch kleine Siedlungen. Die Häuser waren heruntergekommen, aus den wenigsten Schornsteinen stieg Rauch auf und Bettler, jämmerlich an einer Hauswand zusammengekrümmt, blickten mit blassen Gesichtern und blutunterlaufenen Augen zu ihr hinauf. Einmal sah sie eine Gruppe von vier Kindern durch den aufkommenden Schneesturm laufen. Sie sahen sehr dürr aus, die Kleider waren ihnen zu weit, doch sie lachten und riefen sich gegenseitig Wörter zu, die Tinnuviel durch den Wind nicht verstehen konnte. Dann trat eine Frau auf die Straße, auch sie sah nicht besonders wohlgenährt aus und trug schmutzige Kleider. Sie rief den Kindern zu, ins Haus zu kommen und ihr mit der Wäsche zu helfen. Außerdem sollten sie nicht bei diesem Wetter draußen sein, wobei ihr misstrauischer Blick jedoch Tinnuviel auf Rih und nicht dem Himmel galt. Zur Mittagszeit traf sie vor den Toren der Festung ein. Sie war etwas erhöht errichtet worden und schwer bewacht. Tinnuviel konnte mindestens ein Dutzend Augenpaare entdecken, die sie unter ihren Helmen wachsam beobachteten, während der Hengst den steigenden Zufahrtsweg erklomm. Ein metallisches Klicken erklang, sobald sie das Tor erreicht hatte und es schwang auf. Dahinter blickte sie zu ihrer Überraschung in ein bekanntes Gesicht.
"Dolan", begrüßte sie den Zentauren wenig erfreut.
"Frau Tinnuviel, welche Ehre, meine Güte." Er deutete eine spöttische Verbeugung an.
"Dich hat er also tatsächlich zurückgeholt. Es sollte mich nicht wundern, Tyrdan hatte noch nie einen besonders guten Geschmack in der Auswahl seiner Leute."
"Allerdings hat er das, ich mag zwar gestorben sein, aber wie du siehst, bin ich wie neu." Er deutete an sich herab.
"Ja, das sehe ich", schnaubte Tinnuviel. "Ich wünsche ihn zu sehen, also mach einfach deine Arbeit."
Das entlockte Dolan einen finsteren Blick, der das selbstgefällig-spöttische Grinsen vertrieb.
"Oh, ich tue meine Arbeit", erklärte er kühl. "Der König hat ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass er Euch nicht sehen möchte." In sein Gesicht legte sich persönliche Abscheu, als er weitersprach. Er sah ihr zornig in die Augen.
"Ihr habt ihn verraten. Ihr habt uns alle verraten! Und nun geht dahin, woher Ihr gekommen seid und noch viel weiter!"
"Es war ein aussichtsloser Kampf, ihr hättet auch mit meiner Hilfe keine Chance gehabt. Ich habe mich nur nicht umbringen lassen, weil ich Realistin bin und kein Dummkopf."
"Ihr seid geflohen! Wie der letzte Feigling seid Ihr abgehauen, um Eure Haut zu retten. Wir hätten es schaffen können, aber Eure Feigheit hat uns den Untergang beschert. Eure Feigheit allein!" Die letzten drei Worte spuckte er ihr geradezu vor die Füße. Tinnuviel atmete tief durch. Schon als sie damals mit Tyrdan zusammen ganz Tarquinis regiert hatte, war Dolan ihnen ergeben gewesen. Doch seine Treue hatte ihn offensichtlich blind gemacht und er glaubte alles, was sein König ihn glauben machen wollte. Er musste in der Schlacht damals gestorben sein, denn auch Zentauren wurden nicht mehrere hundert Jahre alt. Außerdem zierte die Narbe einer Stichwunde eine Stelle knapp unter seinem Herzen. Es war schwer zu übersehen, dass Tyrdan bei ihm etwas mehr Aufwand angewendet hatte, als bei den meisten seiner Truppen. Hinter Dolans Augen verbarg sich eine Seele und er sprach ohne diesen dämonisch wiederhallenden Unterton.
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Des Königs letzter Schatz
FantasíaEine unnatürliche Kälte lag in der Luft und die Lichter in der Stadt waren erloschen. Einzig das Licht einiger sich hektisch bewegender Fackeln schimmerte von der nebelverhangenen Straße bis zum Fenster herauf... Eine junge Prinzessin wird nach dem...