1.Kapitel

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Noch bevor ich die Augen öffne, weiß ich schon, was ich gleich sehen werde. Und den genauen Ablauf dessen, was in wenigen Augenblicken passieren wird. Egal wie lange ich am Abend davor noch wach war, jeden Tag stehe ich um dieselbe Zeit auf. Man könnte meinen, dass ein Wecker deshalb unnötig ist; das dachte ich auch und habe da das allererste Mal in meinem Leben verschlafen. Um eine Schulstunde. Ich weiß nicht wer wütender war; mein Lehrer oder ich. Seitdem stelle ich mir meinen Handywecker gleich zweimal. Einen um Sechs und einen fünf Minuten danach. Ach ja und einer sollte in Fünf, vier, drei...

Die Tür springt auf. >>Cole! Aufwachen! Schläfst du etwas noch?<<

>>Du bist zwei Sekunden zu früh, also ja, ich schlafe noch<<

Jeden. Tag.

Jeden verdammten Tag kommt sie so in mein Zimmer. Kein guten Morgen. Nichts.

Obwohl meine Augen geschlossen sind, weiß ich ganz genau, wo Mom steht und was sie als nächstes vorhat...

Sie gibt es auf, mich mit bloßen Blicken zum Aufstehen zu bewegen, geht zu den großen Fenster gegenüber meiner Tür und reißt die Vorhänge dann so schwungvoll zur Seite, dass sie eigentlich mit der Stange zu Boden krachen müssten. Aber das würde diesen endlosen Kreislauf unseres Morgens stören, also passiert nichts.

Außer das die Helligkeit, die mir natürlich genau ins Gesicht fällt, mich beinahe ausknockt. Ich hebe schwerfällig die Hände vor die Augen, weil es brennt. Langsam öffne ich sie. Mir rutscht ein Stöhnen heraus.

>>Oh, fuck tut das weh<<

>>Cole<<, Moms warnende Stimme überhöre ich einfach und Linse stattdessen zwischen meinen Finger zu ihr.

>>Ich steh' ja gleich auf<<

Sie schüttelt nur mit dem Kopf, dass ihr perfekter Pferdeschwanz hin und her pendelt.

>>Mein Handy liegt auf dem Schreibtisch. Beweis genug, dass ich gleich aufstehe?<< Obwohl sie mein Gesicht nicht einmal sieht, hebe ich trotzdem provokant die Augenbrauen.

>>Ich bin gleich nicht mehr da, also ist es besser, wenn du gleich aufstehst<<

Dann dreht sie sich um und geht.

Ich unterdrücke einen zweiten Seufzer.

Immer wieder schön, solch herzliche Worte von seiner Mutter zu hören zu bekommen. Nicht jeder hat diese Chance am Morgen, seiner Familie einen schönen Arbeitstag zu wünschen.

Ich hab's ihr mal hinterhergerufen. Da ist sie stehengeblieben und hat mich angesehen, als hätte ich ihr den Tod oder so gewünscht. Sie hat nur mit dem Kopf geschüttelt, und hat sich umgedreht und ist einfach gegangen. Nur so zur Info: Ein einfaches >>Danke, dir auch<<, hätte mich schon zufrieden gestimmt. Seitdem habe ich es nur noch einmal gesagt, aber nur gemurmelt, dass sie es nicht hätte hören können.

Ich lasse langsam meine Hände von meinem Gesicht sinken, damit sich meine Augen an das Licht gewöhnen und ich nicht wie ein Blinder durch mein Zimmer irren muss, wenn meine Wecker in einer Minute losgehen. Ich finde auch so den Weg, aber ich mag es halt mehr, wenn ich auch SEHE, wo ich hinlaufe. Kann ja sein, dass da irgendwas auf dem Boden liegt was da nicht hingehört. Auch wenn es das theoretisch nicht dürfte, weil bei mir nie irgendwelche Sachen rumliegen, als auf ihren vorhergesehenen Platz. Selbst wenn ich zu viel getrunken habe. Ich bin halt ein absolutes Wunderkind. Problem ist nur, dass das außer mir anscheinend noch niemand auf dieser gottverdammten Welt gemerkt zu haben scheint.

Mein erster Wecker geht los.

Warum zur Hölle lege ich mein Handy auch dahin und stelle ihn auch noch so ein, dass er jede Sekunde lauter wird und die nervigste aller Klingeltöne hat? Warum tue ich mir das eigentlich jeden Tag an?

Weil es der einzige Weg ist, mich aus dem Bett zu kriegen.

In Zeitlupe raffe ich mich auf, erfriere halb, als ich meine warme Decke zurücklasse, um diesen scheiß Wecker auszuschalten und den anderen gleich mit, da ich mein Handy gerne behalten würde. Weil ich den Drang, es gegen die Wand zu schmeißen widerstehen werde.

Ich schließe in der anschließenden angenehmen Stille die Augen. Und dann mache ich den Fehler und reiße meinen Kopf zu schnell herum. War ja klar, dass das passiert...

Die Kopfschmerzen, die ich so lange wie möglich vermeiden wollte, sind so stark, dass sie ich fast umhauen.

Wieso? Wieso musste ich diesem Drang widerstehen und mit Jonah und Luis mitgehen? War doch von Anfang an klar gewesen, dass wir uns gegenseitig hochschaukeln und am Ende alle zu viel trinken. Ich würde gerne sauer auf meine einzigen Freunde sein, aber die einzige Wut, die ich empfinde, ist die auf mich selbst. Wie fast immer.

Mein zweiter Wecker geht los.

Hab ich den nicht...? Nein, nein habe ich nicht. Wenn das schon so losgeht, kann dieser Tag ja nur der beste seit langem werden. Geht gar nicht anders.

Ich ziehe mich an, gehe runter, esse alleine an dem kleinem Tisch in der Küche und gehe dann wieder hoch, um mich im Bad "frisch" zu machen.

eigentlich vermeide ich es gerne, mich im Spiegel anzusehen, aber ganz alleine richtet sich mein Blick auf den Typen, der da steht und dessen langweiligen grauen, rot geränderten Augen mich aufs Übelste verspotten. Immerhin, meine brauen Haare sehe genauso aus wie immer, zerzaust. Da merkt niemand den Unterschied, dass ihr eigentliche Glanz immer mehr verschwindet. Meine Haut sieht blass aus, obwohl sie braun ist, aber jedem, der mich nicht länger als zwei Sekunden mustert, wird das sowieso nicht auffallen.

An mir gibt es eh' nichts besonderes, dass dazu einlädt, länger hinzusehen. Ich habe vielleicht den pünktlichsten aller inneren Wecker und Nerven so lang wie Bleistiftminen, aber sonst? Ach ja und ich kann jeden Tag genaustens vorhersagen.

Weil er wie der letzte ist.

Und wie der davor.

Würde ich Tagebuch schreiben, könnte ich ohne schlechtes Gewissen alles vom Vortag abschreiben. Es wäre nicht gelogen.

*

Ich sitze im Bus, scrolle durch verschiedene Profile von Menschen, die ihr aufregendes Leben gerne mit denen teilen, die nichts erleben und nicht zu erzählen haben, außer dem, was schon jeder weiß.

Bevor ich aus dem Haus gegangen bin ,habe ich noch versucht, mein Aussehen so normal wie möglich aussehen zu lassen. Nicht weil es irgendwem Sorgen bereiten würde, sonder einfach weil ich einfach weiß, wie scheiße ich gerade aussehe und mein Äußeres als einziges das Gefühl vermittelt, dass ich mein Leben halbwegs im Griff habe und alles okay ist.

Ich folge dem Schülerstrom auf dem Schulhof nach drinnen. Auf Jonah und Luis brauche ich nicht zu warten, Jonah wird nach gestern Abend gar nicht mehr oder so spät kommen, dass er gleich hätte zuhause bleiben können und Luis kommt höchstwahrscheinlich erst zur dritten. Die meisten Lehrer werden erst dann wach genug, um zu merken, wer da ist und wer nicht.

Ich bin nur noch da, weil ich nichts besseres zu tun habe. Nicht weil ich es toll finde, meine Zeit mit etwas zu verschwenden, was ich nie wieder in Leben gebrauchen kann, außer um damit anzugeben.

Ich achte nicht auf irgendeine der Gruppen, die überall verteilt rumstehen und wo jedes einzelne Mitglied davon wie ein Wasserfall redet. Sondern steuere auf den Korridor mit den Spinden zu und schlängle mich zwischen den anderen hindurch, achte nicht auf ihre Gesichter, die im Gegensatz zu mir, viel zu viel preisgeben.

Ich suche meine Sachen raus, drehe mich um, schlage die Tür währenddessen zu und mache einen Schritt nach vorne. ich stoße gegen etwas, dass mir den Weg versperrt. Dass einzige, was ich noch sehen bevor ich falle, sind ungewohnt hellbraune Augen, die mich überrascht mustern.

The Distance between usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt