Prolog

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Ich hatte sie am ersten Augusttag vor einigen Jahren kennengelernt; und mit ihr eine Seite von mir, die ich zuvor nie gesehen hatte und auch niemals wieder erleben wollte.

Meine Mom hatte mich über den Sommer zu meinem Dad nach Maine geschickt. Bar Harbor, eine kleine Hafenstadt, umzingelt von Waldstücken, mit etwas mehr als fünftausend Einwohnern und keinem einzigen gottverdammten Einkaufszentrum in der Nähe. Insgesamt waren hier wahrscheinlich mehr Fahrräder als Autos in Betrieb und das einzige Kino war so klein gewesen, dass es nur zwei Filme gespielt hatte.

Lieber wäre ich bei meiner Mom in Boston geblieben, da, wo auch mein bester Freund seine Ferien verbracht hatte, aber sie hatte gefunden, dass mir Zeit bei meinem Dad guttun würde. Ich fragte mich immer noch, wie zum Teufel sie auf diese Idee gekommen war, schließlich hatte sie sich von ihm scheiden lassen, weil ihr die Zeit mit ihm nicht gutgetan hatte. Aber ein Fünfzehnjähriger konnte sich schlecht gegen solche Anweisungen wehren und Dad hatte sich auf mich gefreut.

Also hatte ich meinen Koffer gepackt, war in den Zug gestiegen und nach Bar Harbour gefahren.

Dad hatte mich vom Bahnhof abgeholt, schweigend die Koffer in sein Auto geladen und mich gefragt, ob ich aufgeregt war, dass jetzt Ferien waren. Ich wäre aufgeregter gewesen, wenn es in Bar Harbour im Sommer warm genug gewesen wäre, um am Strand zu liegen und im Meer schwimmen zu gehen, aber das hatte ich ihm nicht gesagt.

Die Autofahrt zu seinem Haus war still gewesen. Mein Dad und ich hatten seit der Scheidung, die nun gut vier Jahre her gewesen war, kaum noch Kontakt. Nach der Scheidung war er zurück in seine Heimatstadt gezogen und wir hatten höchstens einmal im Monat telefoniert. Gesehen hatte ich ihn seither gar nicht. Ich hatte nicht einmal gewusst, was für einen Job er hatte, aber er hatte in einem Haus gewohnt und ich hatte mein eigenes Zimmer gehabt. Die Fassade war dunkelblau gestrichen gewesen, die Terrasse weiß.

Dad hatte mich meine Sachen in Ruhe auspacken lassen und ich hatte mich nicht bemüht, vor dem Mittagessen wieder nach unten zu gehen, um mit ihm zu reden.

Lukas, mein Cousin, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, der aber gleich nebenan gewohnt und meine Ankunft kaum hatte erwarten können, war am späten Nachmittag mit zwei Fahrrädern vor Dads Haus aufgekreuzt, hatte wild gegen die Türe gehämmert und mich angegrinst. Ich hatte ihn sofort erkannt, weil er mir so ähnlichgesehen hatte, obwohl er über zwei Jahre älter war als ich.

„Soll ich dir die Stadt zeigen?"

Ich war mit seinem alten Rad gefahren und die Tour war eine recht überschaubare Unternehmung gewesen. Lukas hatte mir alles gezeigt, vom Tierarzt über den kleinen Supermarkt, der gar nicht so super gewesen war, sondern eher mickrig, die Bibliothek, die Schule, auf die er gegangen war, die Polizeiwache, das Rathaus, die Kirche. Die Straßen der Stadt waren uneben, breit und weitläufig und die untergehende Sonne hatte alles in ein goldenes Licht getaucht.

„Aber es gibt eine Sache, auf die diese Stadt besonders stolz ist!"

„Und was ist das?", hatte ich gekeucht. Ich war nicht der sportlichste Mensch gewesen.

Lukas hatte nicht geantwortet, sondern war zielstrebig zu den Docks geradelt. Ich war ihm gefolgt und irgendwann, hatte er scharf abgebremst und in Richtung Meer gesehen. Mit ausgestrecktem Arm hatte er an den Pier gedeutet, auf dem ein Mädchen gestanden und Fotos mit einer riesigen Kamera von den Schiffen und Booten geschossen hatte.

„Das ist sie! Die einzig richtige Sehenswürdigkeit, die Bar Harbour zu bieten hat. Eine lebende Legende."

Ich hatte ihn angesehen, als sei er verrückt gewesen. „Ein Mädchen?"

„Nein. Morgan Rubyn Sinclair", hatte er mich ausgebessert, als hätte er damit alles gesagt. „Aber wir nennen sie nur Sin."

Morgan Rubyn Sinclair. Ein einfaches Mädchen. Ein Mädchen mit dunklen Haaren, einer blauen Jeansjacke und zwei verschiedenfarbigen Converse – einem weißen Schuh und einem blutroten. Ein Mädchen, das vielleicht ein bisschen älter gewesen war als ich. Nichts Besonderes, hatte ich gedacht. Ganz normal, hatte ich gedacht.

Die Sache mit Morgan Rubyn Sinclair war, dass sie tatsächlich nur ein einfaches Mädchen gewesen war, oder es zumindest hätte sein können. Zuhause in Boston hatte ich jede Menge Mädchen aus meiner Schule gekannt, die genauso gewesen waren wie sie. Vielleicht ein bisschen weniger abgedreht, aber genauso hübsch, genauso energiegeladen, vielleicht nicht ganz so schräg, aber alles in allem war sie kein Unikat gewesen.

In dieser Stadt jedoch, war sie herausgestochen und ich muss gestehen, dass sie eine Präsenz gehabt hatte, wie ich sie noch nie an einem Menschen erlebt hatte. Jede ihrer Bewegungen war ein Blickfang gewesen, wenn sie gesprochen hatte, hatte ich meine eigenen Worte vergessen, und sie war definitiv das hübscheste Mädchen der Stadt gewesen.

Aber vielleicht hatte auch diese Empfindung nur an ihrer Ausstrahlung gelegen.

Doch egal, wer oder was Morgan Rubyn Sinclair auch gewesen sein mochte -nichts rechtfertigte, was diese Stadt ihr angetan hatte.

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