„Woher kennst du sie?", fragte ich Lukas am Abend, als wir unsere Räder im Dunkeln nach Hause schoben.
„Die Stadt ist klein, wie du siehst. Wir gehen in dieselbe Klasse. Seit Jahren", meinte er schulterzuckend. Er und ich hatten eine Weile am Hafen gestanden und sie dabei beobachtet, wie sie Fotos von den Booten und Schiffen geschossen hatte. Irgendwann hatte Lukas gemeint, dass sich für mich bestimmt bald eine Gelegenheit ergeben würde, sie einmal kennen zu lernen. Er hatte es gesagt, als hätte er mir einen Gefallen tun wollen. Doch die Wahrheit war, dass mir dieses Mädchen ziemlich egal war.
„Diese Stadt hat eine seltsame Obsession für Sin. Zigarette?" Er blieb stehen, stellte sein Fahrrad ab, zog eine Packung aus der Innenseite seiner Tasche und hielt sie mir hin.
„Ich rauche nicht", sagte ich perplex, weil ich nicht glauben konnte, dass mein Cousin, der immer noch minderjährig war, an Zigaretten rangekommen war und sich nun tatsächlich eine aus der Schachtel zog, zwischen die Lippen steckte und mit einem kleinen, grünen Feuerzeug in aller Öffentlichkeit anmachte. Klar, es war dunkel draußen, aber wenn meine Mom mich beim Rauchen erwischt hätte, hätte sie mich mit dem Küchentuch gehauen und mir bis zu meinem achtzehnten Geburtstag Hausarrest aufgebrummt. Wahrscheinlich hätte sie mir auch noch eine ekelhafte Aufgabe gegeben, wie, den Staub von den Holzleisten unserer Wohnung zu picken oder die Fenster zu putzen. Ich hasste Hausarbeiten. Und sie hätte mir mein Taschengeld gestrichen.
„Was meinst du damit, dass diese Stadt eine Obsession mit ihr hat?", fragte ich, weil ich mir darunter nichts vorstellen konnte.
„Ist schwer zu erklären", meinte Lukas, blies den Rauch in die Luft und sah mich an. „Sin ist einfach... Sin. Das ist schon ein eigenes Adjektiv geworden, verstehst du?"
„Ein eigenes Adjektiv?"
„Naja, so gut wie. Sie ist einfach unbeschreiblich. Deswegen will ich ja, dass du sie kennen lernst. Dann siehst du es selbst."
Vielleicht war sie reich, dachte ich. Sinclair klang wie der Nachname einer reichen Person. Vielleicht die Tochter des Bürgermeisters oder so. Reiche Menschen wurden schnell mal gemocht.
„Und weißt du was?", fragte er.
„Hm?"
Lukas beugte sich zu mir, als wolle er mir ein Geheimnis verraten, den Qualm vorm Gesicht. „Keiner weiß, woher sie gekommen ist."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Was soll das denn heißen?"
Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und begann wieder sein Rad zu schieben. Ich ging neben ihm.
„Sie wurde als Baby in der Kirche abgegeben. Vorne auf dem Altar. Sie lag einfach plötzlich da. Der Reverend hat sie entdeckt, als sie geschrien hat, aber es war niemand in der Nähe und seiner Aussage zufolge, war er höchstens eine Minute in einem anderen Raum, als er plötzlich das Baby schreien hörte. Als hätte Gott sie geschickt."
Ich warf Lukas einen skeptischen Blick zu. „Ich glaube nicht an Gott."
„Das wirst du noch." Er blieb wieder stehen und bohrte seinen Zeigefinger in meine Brust, zog an seiner Zigarette und sah mich an. „Wenn du Sin erst einmal kennen gelernt hast, glaubst du an Gott. Du wirst an alles glauben, für das es keine Beweise gibt!"
Er meinte es völlig ernst und einerseits fragte ich mich, ob er einen Sprung in der Schüssel hatte oder mich auf den Arm nehmen wollte, aber gleichzeitig machte er mich doch neugierig auf dieses Mädchen. Ein Kind, das einfach so aufgetaucht war und eine ganze Stadt faszinierte? Sowas gab es in Boston nicht.
„Sin", seufzte Lukas. „Mein von Gott geschickter Engel..." Vielleicht war mein Cousin ja einfach nur in Sin verschossen und redete deswegen so einen Humbug.
Lukas warf die Zigarette auf den Boden und zerscharrte sie mit dem Fuß, bevor wir wieder weitergingen.
„Hast du morgen Früh schon was vor?", fragte er, als wir vor dem Haus meines Dads angekommen waren.
„Sehr witzig." Ich kannte hier nichts und niemanden, von Lukas und meinem Dad abgesehen. Welche Pläne hätte ich haben sollen, außer mich vor der gemeinsamen Zeit mit meinem Dad zu drücken?
„Ich kann dir zeigen, wo man hier die besten Pancakes bekommt. Weltklasse! Und dann kann ich dich meinen Freunden vorstellen. Wenn du über den Sommer schon am Arsch der Welt festhängst, dann doch lieber mit ein paar Losern als allein auf deinem Zimmer."
Ich war mir nicht sicher, ob es nicht besser war, allein auf meinem Zimmer zu hocken und Comics zu lesen, als mit Losern abzuhängen, aber ich wollte Lukas nicht vor den Kopf stoßen, also sagte ich zu und er meinte, dass er mich um neun abholen würde. Dann ging er die Straße noch ein Stück weiter hinauf, bis er sein Haus erreichte.
Müde schob ich das Fahrrad bis zum Hauseingang meines Dads. Das Meer machte die Luft feucht und meine Kleidung klebte juckend an meiner Haut. Ich brauchte dringend eine Dusche.
Mein Dad saß mit einem Bier und einem Sandwich vor dem Fernseher, als ich das Wohnzimmer betrat.
„War es nett?", fragte er mich, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
„Ja..."
„Ich hab Sandwiches gemacht." Das sah ich. „Deine sind im Kühlschrank. Ich wusste nicht, wann du kommst. Cola ist auch da."
„Okay. Danke."
Ich ging in die Küche, nahm den Teller mit den Sandwiches und eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und verschwand nach oben. Ich stellte das Essen auf dem schmalen Schreibtisch ab und trank die Cola unter der Dusche. Mit nassen Haaren und meinem Pyjama legte ich mich auf mein Bett, aß die Sandwiches und blätterte in einem Marvel Comic.
Müde von der Reise schaltete ich bald das Licht aus und wickelte mich in die Decke. Ich konnte den Fernseher dumpf hören und das Licht vorbeifahrender Autos fiel ab und zu durch mein Fenster.
Ich dachte an morgen. Obwohl ich sie nicht kannte, noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, waren meine letzten Gedanken bei Sin. Bei diesem (anscheinend) so unglaublichen Mädchen.
Das wollte ich mit eigenen Augen sehen.
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we were just kids
General FictionIch hatte sie am ersten Augusttag vor vier Jahren kennengelernt; und mit ihr eine Seite von mir, die ich zuvor nie gesehen hatte und niemals wieder erleben wollte. ☆ Die Sache mit Morgan Rubyn Sinclair war, dass sie tatsächlich nur ein einfaches Mäd...