Inmitten der majestätischen Türme und gepflegten Gärten, wurden wir herzlich von der Familie Collingwood empfangen. Alberts warmer Blick traf den meinen, als ich bei meinen Geschwistern stand. "Elizabeth, Sie sehen wirklich hinreißend aus heute Abend."
"Vielen Dank, Albert. Es ist eine wundervolle Gelegenheit, hier zu sein", erwiderte ich und versuchte mich an positiven Gedanken.
"Sie wissen wirklich, wie man eine Feier ausrichtet", mischte sich meine kleine Schwester ein.
"Absolut, Ihre Gastfreundschaft ist überwältigend", pflichtete mein Bruder höflich bei, während mein Blick unauffällig zu Henry glitt, der am anderen Ende des Raumes stand. Es fühlte sich an, als würde mein Herz im Dreieck springen und in meinem Bauch flogen sicherlich hunderte Schmetterlinge. Als unsere Blicke sich trafen, sah ich, wie seine Mundwinkel zuckten, doch ich konnte seine Reaktion nicht deuten.
Wir führten die Unterhaltung fort, doch in meinem Inneren machte sich Unbehagen breit. Während ich mit Albert und den anderen plauderte, konnte ich nicht ignorieren, dass meine Gedanken immer wieder zu Henry schweiften. Ebenso mein Blick, doch ich sah ihn nirgends mehr.
Stattdessen blickte ich meiner Mutter direkt in die Augen, die mich zu beobachten schien und lächelte. Ich meinte in ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, dass sie langsam begann, mir zu glauben, dass ich mit meiner Entscheidung, Alberts Antrag anzunehmen, glücklich war.
Albert suchte an diesem Abend beharrlich meine Nähe, sein Blick war voller Zuneigung. Doch als seine Hand sanft meine Schulter berührte, überkam mich ein Gefühl der Beklemmung. Es war, als ob der Raum um mich herum schrumpfte, und ich sehnte mich nach frischer Luft. Ich entzog mich höflich seinen Annäherungsversuchen und begab mich in den Garten. Der gepflegte Rasen erstreckte sich endlos vor mir. Mein Ziel war der Pavillon, jener Ort, der für mich eine besondere Bedeutung hatte.
Ich erinnerte mich an den Tag zurück, an dem ich Henry das erste Mal begegnet war. Sein vernarbtes Gesicht, gezeichnet von den ausgefochtenen Boxkämpfen, hatte mich fasziniert und zugleich erschüttert. Damals wusste ich nicht, was hinter dieser Narbe steckte. Heute wusste ich es besser. Es war ein Zeichen für seine Freiheit und seinen Mut.
Die sanfte Brise wehte den Duft der Blumen in meine Nase, während die Abendsonne den Garten in ein warmes Licht tauchte. In diesem Augenblick versuchte ich, mein Inneres zu sortieren. War meine Entscheidung, Albert zu heiraten, wirklich die richtige? Oder sehnte ich mich mehr nach etwas, das ich nicht haben konnte?
Plötzlich hörte ich Schritte und als ich mich umdrehte, stand Henry vor mir. Sein Blick war intensiv, als ob er die Unruhe in mir spüren konnte. Einige seiner dunklen Strähnen fielen ungezähmt über sein Gesicht. "Elizabeth", hauchte er leise und setzte sich neben mich.
Sein Blick war nach vorne gerichtet und an seinen Händen, die auffällig über seine Hose tanzten, konnte ich seine Nervosität erkennen. "Empfindest du etwas für Albert Collingwood?"
Ich konnte keine klare Antwort finden. Unsere finanziellen Schwierigkeiten konnte ich ihm nicht offenbaren, das war ein Familien-Geheimnis und das sollte es auch bleiben. Gleichzeitig wollte ich keinen falschen Eindruck bei ihm erwecken. "Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Liebe", begann ich. "Sicherheit, ein erfülltes Leben."
Doch Henry seufzte laut und sah in meine Augen. Für einen Moment verlor ich mich in seinen sturmgrauen Iriden. "Also geht es um Geld, ein Haus und all das", unterstellte er mir, womit er sogar recht hatte. Ich schämte mich und senkte meinen Kopf.
"Es kann sein, dass Albert heute um meine Hand anhalten wird und dann werde ich ja sagen. Ich muss. Das Wohl meiner Familie lässt mir keine andere Wahl. Doch glaub mir bitte - mein Herz schlägt nicht für ihn, sondern für einen anderen."
Henry wirkte verständnisvoll, doch ich sah auch Traurigkeit in seinem Blick. In einem ruhigen Atemzug zwischen den gesprochenen Worten wurde die Luft zwischen Henry und mir mit einer unerwarteten Intimität gefüllt. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als sich unsere Gesichter beinahe zufällig annäherten. Die Stille war wie eine leise Melodie, die in unseren Herzen erklang. Es waren zarte Schwingungen zu spüren, die mich fast schwindelig machten.
Es war, als ob die Welt für einen Augenblick innehielt und wir uns in einem geheimen Universum befanden, das nur für uns existierte. In dieser Nähe schienen Worte überflüssig zu sein. Unsere Blicke sprachen eine Sprache, die tiefer ging als jede Konversation. Knistern lag in der Luft. So einen Moment hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gespürt und obwohl es so fremd war, fühlte ich mich gut.
Die Begierde, die ich empfand, war wie ein unsichtbarer Faden, der uns miteinander verband. Als wären die Grenzen meines Verstandes überschritten. Gefühle, die tief in meiner Seele schlummerten, kamen an die Oberfläche.
Ich erkannte, dass dieser Moment etwas Unvergessliches war. Es war, als ob das Universum uns in diesem Moment zusammengeführt hatte. Wir waren vollkommen in der Magie dieses Augenblicks verloren.
Nur noch eine minimale Distanz trennte uns und es fühlte sich an, als könnte kaum ein Blatt Papier zwischen unsere Gesichter passen. Doch plötzlich durchzuckte uns beide ein Schreck, als wir Alberts Stimme vernahmen. Die knisternde Atmosphäre zwischen uns verpuffte schlagartig und die unsichtbare Barriere, die uns so nah gebracht hatte, wurde abrupt hochgezogen.
Henry stand auf, ohne ein weiteres Wort zu verlieren und nickte Albert zu, der sich aus der Ferne dem Pavillon näherte. Ich war mir sicher, dass er uns gesehen haben musste, doch er wirkte höflich und zuvorkommend, als er bei mir angekommen war.
"Wir warten schon so lange auf Sie. Möchten Sie uns beim Abendessen keine Gesellschaft leisten, Miss Lancaster?" Seine Worte waren freundlich, aber mir kam es so vor, als ob eine gewisse Distanz zwischen uns entstanden war.
"Doch, natürlich. Die frische Luft hat gut getan."
Wir gingen gemeinsam zu den anderen zurück, doch meine Gedanken drehten sich abermahls nur um diesen einen Augenblick mit Henry. Die Intensität, unsere Lippen, die sich fast berührt hatten - alles pulsierte in meinem Inneren. Ein leichtes Zittern durchzog meine Hände, als ich versuchte, die aufgewühlten Gefühle zu unterdrücken.
Unsere Familien versammelten sich am Tisch zum Essen. Das Klappern von Besteck und das Murmeln von Gesprächen füllten den Raum, doch meine Gedanken schwebten in einer anderen Sphäre. Henrys Augen, die mich durchdrungen hatten, verfolgten mich wie ein leises Flüstern im Wind.
Ich versuchte, mich auf die Unterhaltungen zu konzentrieren, doch es war schwierig, die Worte um mich herum wahrzunehmen. Als Albert vorsichtig mit einem Löffel gegen sein Glas klirrte und aufstand, breitete sich eine gespannte Erwartung im Raum aus. Ich spürte mein Herz schneller schlagen, als er das Glas in die Höhe hob.
Doch die Worte, die aus Alberts Mund kamen, zerschnitten die aufkeimende Hoffnung. "Ich möchte das Erscheinen unserer geschätzten Gäste würdigen. Vielen Dank, dass Sie hier sind," sagte er mit einer neutralen Stimme. Die Spannung stieg an, doch anstelle weiterer Worte von ihm folgte nur das peinlich berührte Räuspern seines Vaters. "Natürlich. Wir freuen uns, dass Sie heute unsere Gäste sind."
Kein Heiratsantrag, keine romantischen Gesten, nur eine nüchterne Anerkennung für die Anwesenheit seiner Gäste.
Ein Moment der Enttäuschung huschte über unsere Gesichter und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Mir wurde schlecht, denn mir war bewusst, dass es alleine meine Schuld war, dass es nun keinen Antrag gab. Keine Aussicht auf finanzielle Besserung.
Die Stille, die auf seine Worte folgte, war unerträglich und wie ein schwerer Vorhang, der über den Raum gezogen wurde. Alberts Blick streifte kurz den meinen, aber er vermied es tunlichst, mir länger als einen winzigen Augenblick Aufmerksamkeit zu schenken.
Es war deutlich zu erkennen, dass turbulente Gefühle sein Gemüt durchkreuzten. Ich schluckte schwer, versuchte meine Schuldgefühle zu verbergen und senkte meinen Blick, als wäre der Tisch plötzlich das faszinierendste Objekt in diesem Raum.
Der Abend verstrich in einem Wirbel aus ungesagten Worten und angespannter Atmosphäre. Alberts Entscheidung, keinen Antrag zu machen, ließ eine Lücke in meinen Erwartungen zurück. Henry und ich hielten Distanz, doch seine Augen fanden immer wieder die meinen, wenn er den Raum betrat, um den Tisch abzuräumen. Zwischen uns lagen Worte, die unausgesprochen blieben.
Ebenso ein Beinahe-Kuss, der im Raum hängen blieb wie eine unvollendete Geschichte.
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Royal Escape (ONC 2024)
Historical Fiction•• Mein Beitrag zum ONC 2024 •• Inmitten der Ballsaison im Jahre 1825 bereitet sich die Londoner High Society auf Vermählungen und familiäre Allianzen vor. Elizabeth, von ihrem Vater für eine Verbindung mit den Collingwoods vorgesehen, entscheidet s...