Verwirrt sah ich auf meine Familie. Meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester. Was machten sie hier?
"Fröhliche Weihnachten", sagte der Herzog mit ruhiger Stimme. Er begrüßte freundlich meine Mutter, während ich mit meinem Vater Blicke austauschte, die alles hier drinnen zum Schmelzen bringen konnten.
Ich ahnte, weshalb er hier war. Wusste es tief in meinem Inneren. Und ich war sauer und aufgebracht. Henrys Vater war gerade erst gestorben. Er musste mit seiner Trauer umgehen und gleichzeitig die Aufgabe des neuen Herzogs erfüllen. Und mein Vater hatte nichts Besseres zu tun, als hierher zu kommen, weil er eine mögliche Allianz darin sah?
Mein Vater kam auf mich zu, lächelte und schloss mich in eine Umarmung, die ich gerade nur aus Höflichkeit erwiderte.
"Warum seid Ihr hier?", fragte ich mit scharfem Unterton, doch er antwortete nicht, begrüßte stattdessen Henry. "Vielen Dank für die Einladung, Euer Gnaden." Mein Vater machte sogar eine kurze Verbeugung der Dankbarkeit, während ich seine Worte sacken ließ.
Einladung?
Henry hatte meine Familie hierher eingeladen?
"Es ist mir eine Ehre, Euch und Eure Familie an den Weihnachtstagen hier zu haben. Fühlt Euch ganz wie zuhause", antwortete Henry höflich.
Mein Bruder William und meine Schwester Victoria kamen an meine Seite, während mir meine Mutter ein erwärmendes Lächeln schenkte.
"Henry hat unsere Eltern eingeladen?", fragte William und Victoria grinste. "Ja. In seiner Nachricht stand, dass er sich freuen würde, wenn die Familie Lancaster an Weihnachten zusammen wäre. Und auch er könnte in der schweren Zeit, die Gesellschaft einer friedvollen Familie gebrauchen."Ich hatte meinem Vater also Unrecht getan? Wobei ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen würde, dass er keine Hintergedanken bei diesem Besuch hatte. Alles, was er vermutlich sah, war, dass Henry nun ein potenzieller Gatte für mich war. Wahrscheinlich wusste er auch um meine Gefühle für Henry. Für ihn war es die perfekte Ausgangslage für meine Zukunft. Und doch wollte ich ihm den Wind aus den Segeln nehmen.
Sobald er alleine war, suchte ich ihn auf und sprach ihn darauf an.
"Es ist schön, dass Sie hier sind, Vater."
"Mich hat die Einladung auch sehr erfreut, Elizabeth. Der Herzog sollte in dieser schweren Zeit nicht alleine sein. Es war gut, dass ihr beide hergefahren seid."
"Ich werde das Gefühl nicht los,", begann ich vorsichtig, "dass Sie trotzdem einer Allianz nachstreben, Vater."
Als er etwas erwidern wollte, fiel ich ihm unhöflicherweise ins Wort. "Der Herzog hat gerade andere Sorgen. Er hat einen schweren Verlust hinter sich und dazu die Aufgabe des neuen Herzogs. Bitte, Vater, versprechen Sie mir, dieses Mal keine Geschäfte mit dem Privaten zu mischen."
Er ließ meine Worte sacken, atmete tief durch. "Ich gebe zu, dass mir der neue Status des Henry Jefferson zusagt. Und dass ihr eine Freundschaft hegt. Aber selbstverständlich bin ich nicht hier, um Geschäftliches zu besprechen. Er hat uns eingeladen, Elizabeth. Und ich freue mich, den morgigen Weihnachtstag mit meiner Familie zu verbringen. Mit der gesamten Familie", betonte er. Dankbar für sein Verständnis umarmte ich meinen Vater fest.
♕♕♕
Der Weihnachtstag war gekommen und ich konnte sehen, wie eine der Bediensteten damit begann, den prächtigen Tannenbaum im Salon zu schmücken. Das Knistern von Kaminfeuer verlieh dem Raum eine Wärme, die perfekt zur festlichen Stimmung passte.
"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich helfe?", fragte ich höflich, während ich nähertrat und die bedächtige Arbeit der Bediensteten bewunderte.
"Nicht im Geringsten, Miss Elizabeth", erwiderte sie freundlich. "Es gibt noch weiteren Christbaumschmuck in der Kammer. Ich hole ihn gleich."
Während sie sich auf den Weg machte, um weiteren Schmuck zu holen, wandte ich mich dem Tannenbaum zu und betrachtete die ersten zarten Anfänge der Dekoration. Ich nahm vorsichtig ein Papierornament aus der Kiste und hing es behutsam an einen Zweig. Dabei summte ich eine vertraute Weihnachtsmelodie vor mich hin und ließ mich von der festlichen Atmosphäre mitreißen.
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ein leises Räuspern meine Aufmerksamkeit erregte. Ich drehte mich um und sah Henry in der Tür stehen, sein Blick ruhig und aufmerksam, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.
In den vergangenen Tagen und Stunden hatte er viel Zeit mit der Arbeit verbracht und die Erschöpfung war ihm anzusehen. Doch selbst in diesem Moment konnte sie ihm seine natürliche Anmut und Schönheit nicht rauben.
Ich betrachtete ihn aus der Ferne, während er im Türrahmen stand. Seine dunklen Haare, die leicht über seine Stirn fielen und die vernarbte Augenbraue überdeckte, und seine grauen Augen, die mich durchdringend betrachteten. Der formelle dunkle Anzug war perfekt auf seine athletische Figur zugeschnitten. Sein Hemd war klassisch weiß und eine edle Krawatte vervollständigte sein Outfit. Als er einige Schritte auf mich zukam, strahlte er eine Aura von Eleganz aus.
"Elizabeth", begrüßte er mich mit einem warmen Lächeln, das einen Hauch von Müdigkeit verbarg. "Ich hoffe, ich störe nicht."
"Nein", antwortete ich. "Ich helfe beim Schmücken. Zuhause machen wir das immer gemeinsam und meine Schwester oder ich spielen dabei oft Lieder auf dem Klavier." Ich schwärmte ein wenig und auch Henry lächelte bei meinen Worten. Als seine Bedienstete mit dem Baumschmuck kam, nickte er ihr dankbar zu. "Vielen Dank, Margaret. Den Rest schaffen wir alleine."
Die Zofe machte einen leichten Knicks, nickte und ging zur Tür heraus. Ich runzelte die Stirn, verwirrt über Henrys Vorhaben, doch bevor ich etwas sagen konnte, rief er ihr nach. "Würden Sie die Familie Lancaster hierher schicken?"
"Jawohl, Sir", antwortete sie prompt.
Ein warmes Lächeln umspielte Henrys Lippen und während wir auf die Ankunft meiner Familie warteten, begannen wir, die weitere Kiste mit Weihnachtsschmuck auszupacken. Neben den üblichen Schmuckstücken zum Aufhängen, entdeckte ich kleine Sterne aus Holz und natürlich Kerzen, die wir später am Abend anzünden würden.
"Danke", sagte ich leise und lächelte, während ich die Äpfel und Nüsse sortierte, um meine Nervosität zu verbergen.
"Ich danke dir, Elizabeth", erwiderte Henry sanft. "Dafür, dass du hier bist und ich an Weihnachten nicht alleine sein muss." Wir beide wussten, dass er nicht wirklich alleine war, doch der Wert seiner Worte berührte mich dennoch tief.
Als meine Familie endlich kam, um gemeinsam den Christbaum zu schmücken, spürte ich eine Woge der Vorfreude in mir aufsteigen. Victoria, meine begabte Schwester, nahm sofort ihren Platz am Klavier ein und begann, weihnachtliche Melodien zu spielen. Die bekannten Töne erfüllten den Raum und verliehen mir das Gefühl von Heimat. Währenddessen machten sich der Rest der Familie und ich daran, den Tannenbaum zu schmücken. Jeder von uns wählte sorgfältig seine Lieblingsdekorationen aus und hängte sie an den Zweigen auf.
Die Herren betrachteten stolz das fertige Werk und mein Vater bedankte sich bei Henry mit einem kräftigen Händeschütteln.
"Es ist mir eine Freude, diese Tradition mit Euch zu teilen, Eure Hoheit. Vielen Dank, dass Ihr uns diese Möglichkeit gegeben habt", sagte mein Vater, während er sich ein Glas Wein einschenkte.
Henry lächelte bescheiden. "Es ist mir eine Ehre, Teil Ihrer Feierlichkeiten zu sein, Graf Lancaster. Aber bitte ... Sagen Sie einfach Henry."
Man konnte ihm ansehen, dass es ihm unangenehm war, plötzlich einen höheren Rang als meinen Vater, den Grafen, zu haben. Seine Bescheidenheit machte Henry zu etwas Besonderem. Mein Vater lächelte ihn an und nickte. "Also dann, Henry. Fröhliche Weihnachten."
Meine Mutter setzte sich zu mir auf das Sofa und betrachtete ausgiebig den geschmückten Tannenbaum. "Du wirkst glücklich", bemerkte sie und wandte mir ihren liebevollen Blick zu.
"Ich freue mich einfach, dass sich alles zum Guten wendet. Fast alles", antwortete ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Tief in mir sehnte ich mich nach Henrys Nähe, denn er hatte seit der ersten Begegnung mein Herz im Sturm erobert.
Meine Mutter legte sanft ihre Hand auf meine und sah mir einfühlsam in die Augen. "Es wird alles gut werden, meine Liebe. Lass uns das Fest genießen und die Liebe und Freude im Kreise der Familie und Freunde feiern."
Ich nickte dankbar und spürte, wie sich die Wärme der Familie um mich herum ausbreitete.
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Royal Escape (ONC 2024)
Historical Fiction•• Mein Beitrag zum ONC 2024 •• Inmitten der Ballsaison im Jahre 1825 bereitet sich die Londoner High Society auf Vermählungen und familiäre Allianzen vor. Elizabeth, von ihrem Vater für eine Verbindung mit den Collingwoods vorgesehen, entscheidet s...