Als Henry mein vorübergehendes Gemach betrat, verriet mir sein Blick, dass er in Gedanken versunken war, geplagt von der Herausforderung des Herzogtums. Erst gestern hatte er die traurige Nachricht überbracht, dass sein Vater gestorben war. Nun war er der Herzog und ich konnte nur annähernd erahnen, wie überwältigt er sich fühlen musste.
"Elizabeth", sagte er leise und trat näher. "Ich wollte Ihnen nochmals persönlich danken, dass Sie zu mir gekommen sind. Es bedeutet mir wirklich viel, besonders zu einer Zeit wie dieser."
Ich lächelte ihm zu, obwohl ich spürte, wie sich die Kälte des Winters in meine Knochen fraß. "Das ist selbstverständlich, Henry. In schweren Zeiten muss man füreinander da sein."
Er setzte sich zu mir und wir begannen uns zu unterhalten. Über das Leben, die Vergangenheit und die ungewisse Zukunft. Henry erzählte mir von seinen Plänen als Herzog, von den Erwartungen, die nun auf ihm lasteten. Doch in einem günstigen Moment lenkte er das Gespräch auf eine persönlichere Ebene.
"Erlauben Sie mir die Frage ... Was ist aus Lord Collingwood und Ihnen geworden?", fragte er vorsichtig. "Ich erinnere mich, dass Sie geplant haben, ihn zu heiraten."
Ein Stich durchzog mein Herz bei der Erwähnung von Alberts Namen. Ich schluckte schwer und suchte nach den richtigen Worten. Henry sah mich erwartungsvoll an und ich spürte, dass er die Wahrheit wissen wollte. Also erzählte ich ihm diese, auch wenn es mir schwer fiel. Ich berichtete von dem Druck, den mein Vater auf mich ausübte, von den finanziellen Sorgen der Familie und wie Albert als potenzieller Ehemann ins Spiel kam.
"Es war ein Fehler", gestand ich und senkte den Blick. "Ich hätte niemals zustimmen sollen, nur aus Pflichtgefühl gegenüber meiner Familie. Es gab einen Moment", begann ich zögernd, "als ich bei ihm war und ihn auf die Taschenuhr ansprechen wollte. Aber er ..." Meine Stimme versagte und ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Henry legte behutsam seine Hand auf meine und drückte sie.
"Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn es zu schmerzhaft ist", sagte er leise.
Doch ich war es ihm schuldig, die Wahrheit zu sagen. Also sammelte ich mich und fuhr fort. "Er drängte mich gegen eine Wand, er war mir so nah ...", flüsterte ich, unfähig, die Erinnerungen an jene bedrohliche Situation zu verdrängen.
Wut flackerte in Henrys Augen auf, als er meine Worte hörte. "Er hat Sie gegen eine Wand gedrängt und erpresst?" Er zog scharf Luft ein, und ich sah, wie sich seine Hand zu einer Faust ballte. "Das ist abscheulich", murmelte er, der Zorn in seiner Stimme war nicht zu überhören.
"William kam rechtzeitig dazu und hat ihn niedergeschlagen", berichtete ich mit einem stolzen Grinsen. "Er hat mich beschützt."
Ein Ausdruck der Bewunderung erschien auf Henrys Gesicht. "Ihr Bruder ist wahrlich ein guter Mann", sagte er ernst. "Er hat Sie gerettet, als Sie Hilfe gebraucht haben."
"Ich bin ihm sehr dankbar dafür."
Ein schweres Schweigen lag in der Luft, als die Worte aus meinem Mund herausflossen und die Wahrheit ans Licht brachten. Henry betrachtete mich intensiv und für einen Moment schien sich die Zeit zu verlangsamen. Dann brach er das Schweigen mit seiner sanften Stimme. "Elizabeth", flüsterte er und strich eine lose Strähne meines Haares zurück. "Du bist wunderschön."
Seine Worte trafen mich unerwartet und ich spürte wieder diese gewisse Vertrautheit zwischen uns. Plötzlich war der förmliche Herzog verschwunden und vor mir saß Henry, der Kämpfer mit der Narbe über seiner Augenbraue. Es war, als würden wir wieder an der Themse in London sitzen, unsere Gespräche von damals fortsetzen, doch die Kälte des Winters umgab uns und erinnerte uns daran, dass dies eine andere Zeit war.
Wir tauschten Blicke aus, unsere Gesichter ganz nah beieinander. Seine Hände strichen zärtlich über meine Wange und ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Ich spürte, wie mein Beckenboden sich automatisch zusammenzog und versuchte, die aufkeimenden Gefühle zu ordnen. Meine Lippen waren trocken, mein Mund ebenso und die Hitze breitete sich in meinem Inneren aus, während das Verlangen nach seiner Nähe immer stärker wurde.
Doch bevor ich den Mut fassen konnte, meine Sehnsucht zu äußern, unterbrach er den Moment. Seine Worte trafen mich wie ein kalter Windstoß.
"Nein", sagte er leise, doch mit Entschlossenheit in seiner Stimme. "Das darf nicht sein."
Ein Schmerz durchzuckte mein Herz, als ich verstand, was er meinte. Er wollte meine Ehre bewahren, die Grenze zwischen uns nicht überschreiten. Obwohl es ihm sichtlich schwerfiel, ließ er mich allein im Raum zurück, mit einem Wirrwarr von Gefühlen, die ich nicht zuordnen konnte. Ich blieb still sitzen, die Erinnerungen an den Moment, den wir beinahe geteilt hatten, hinterließ einen bittersüßen Geschmack auf meiner Zunge. Doch trotz des Schmerzes wusste ich, dass Henry recht hatte. Unsere Verbindung war kompliziert genug, ohne dass wir sie durch unerlaubte Handlungen weiter erschwerten.
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Als mein Bruder von seiner Stadtbesichtigung in Cambridge zurückkam, berichtete er stolz von den prächtigen Gebäuden und den geschichtsträchtigen Straßen, die er erkundet hatte. Doch trotz seiner Begeisterung lag ein ernster Unterton in seiner Stimme, als er mir erzählte, dass die Neuigkeiten vom Herzog sich wie ein Laubfeuer verbreitet hatten. "Weißt du, wie es dem Herzog geht?"
Ein Knoten zog sich in meinem Magen zusammen. "Ja", antwortete ich schließlich leise und sah meinem Bruder direkt in die Augen. "Ich hatte ein Gespräch mit ihm."
William runzelte die Stirn, vermutlich weil er meinen ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. "Er wirkt zerstreut, aber ich denke, er kommt zurecht."
"Dich bedrückt noch etwas anderes, Schwester. Ich kenne diesen Blick", sagte er und setzte sich auf eines der Polstersofas, die vor dem Kamin drapiert waren.
"Du hast recht. Meine Gefühle für Henry sind noch da, vielleicht sogar stärker als zuvor."
Ein Ausdruck von Verständnis huschte über das Gesicht meines Bruders. "Das habe ich geahnt. Und was bedeutet das für euch beide?"
Ich seufzte und ließ meinen Blick auf meinen gefalteten Händen ruhen. "Ich weiß es nicht", gestand ich. "Die Situation ist kompliziert. Henry ist jetzt der Herzog und er steht unter enormem Druck, seine Pflichten zu erfüllen und das Ansehen seines Vaters zu wahren."
Mein Bruder lächelte sanft. "Aber was ist mit euren Gefühlen füreinander?", fragte er leise. "Könnt ihr sie einfach so ignorieren?"
Ich schüttelte den Kopf, die Tränen drohten in meinen Augen aufzusteigen. "Nein, das können wir nicht", flüsterte ich. "Aber wir müssen vorsichtig sein. Ich hätte nicht gedacht, dass es so hart ist, in seiner Nähe zu sein."
William nickte verständnisvoll, doch ich spürte, dass er meine Bedenken verstand. Die Situation zwischen Henry und mir war voller Herausforderungen, dabei könnte es so einfach sein.
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Ein weiterer Tag war vergangen, als ich darüber nachdachte, ob wir zu unserer Familie zurückkehren sollten. Die Atmosphäre im Schloss war angespannt und ich fand, dass Henry und ich eine Auszeit gebrauchen konnten. Als ich gerade beschloss, ihm von meinem Vorhaben zu erzählen, klingelte es an der Tür.
Ich machte mich auf den Weg nach unten, wo bereits ein Bediensteter die Tür öffnete. Ich konnte sehen, wie Henry auf meine Eltern und meine Schwester Victoria zuging und sie freundlich begrüßte. Irritiert runzelte ich meine Stirn. Natürlich freute ich mich, sie zu sehen - doch warum waren sie hier?
Würde mein Vater wirklich so weit gehen und hier auftauchen, in der Hoffnung, es könnte eine Allianz zwischen mir und dem Herzog geben?
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Royal Escape (ONC 2024)
Historical Fiction•• Mein Beitrag zum ONC 2024 •• Inmitten der Ballsaison im Jahre 1825 bereitet sich die Londoner High Society auf Vermählungen und familiäre Allianzen vor. Elizabeth, von ihrem Vater für eine Verbindung mit den Collingwoods vorgesehen, entscheidet s...