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Paul

»Wie viel weißt du über die Prägung?«

Verwirrt sah Nuria mich an. »Die Prägung? Bezeichnet ihr so nicht eure Beziehungen?«

Ich schmunzelte. »So ähnlich. Die Prägung ist viel mehr als eine Beziehung. Sie lässt sich mit einer Seelenverwandtschaft vergleichen. Wenn man einmal auf jemanden geprägt wurde, kommt man nie wieder von dieser Person los. Man würde alles für sie tun und alles für sie sein: ein Liebhaber, ein Beschützer oder ein Freund.«

»Das klingt ja furchtbar«, sagte Nuria trocken.

»Bitte?« Verwundert sah ich sie an.

»Nie wieder von einer Person loszukommen, klingt grausam. Ich würde nicht wollen, mein ganzes Leben dazu verdammt zu sein, eine Person zu lieben.«

»So ist das nicht«, versuchte ich, die Situation zu retten. »Die Prägung ist etwas Schönes. Man findet damit eine Person, für die es sich lohnt zu leben.«

Skeptisch sah sie mich an. »Und was hat das mit mir zu tun?«

Tief durchatmen, Paul. Sie wird das Ganze schon entspannt aufnehmen.

Angestrengt atmete ich ein. »Nuria, ich bin auf dich geprägt worden.«

Stille. Nichts als Stille. Nuria sagte daraufhin nichts mehr. Als sie nach fünf Minuten immer noch nicht reagierte, sah ich sie abwartend an.

»Bitte sag etwas«, flehte ich.

»Was soll ich sagen, Paul? Ich verstehe nichts von eurer Prägung—«

Schnell unterbrach ich sie. »Dann lass es mich dir erklären.«

»Nein«, wehrte sie ab. »Ich bin nicht bereit, mir irgendwas von einer Seelenverwandtschaft anzuhören. Das letzte Mal, als ich an sowas geglaubt habe, bin ich gestorben.«

»Aber Nuria, ich würde niemals irgendetwas tun, womit ich dir wehtun würde. Im Gegenteil. Ich bin dazu da, um dich zu beschützen. Ich lebe dafür, dich zu beschützen. Das ist, wofür ich geschaffen worden bin.«

»Und ich bin dafür geschaffen, Menschen zu töten.«

»Damit wirst du mich nicht vergraulen. Es ist egal, was du sagst. Nichts wird an der Prägung etwas ändern.« Das klang besser, als wenn ich sagen würde: »Nichts wird an meiner Liebe zu dir etwas ändern.« Mir war durchaus bewusst, dass die Prägung auch ein freundschaftliches Verhältnis darstellen kann, aber dies würde mir nicht reichen. Ich wollte sie lieben, ihr sicherer Hafen sein und vor allem wollte ich ihr zeigen, dass es sie nicht umbringen würde, mich zu lieben.

»Sorry, Paul«, wehrte sie ab, »aber ich glaube nicht an die Seelenverwandtschaft. Ich hab keine Ahnung, was das hier soll, aber ich werde jetzt Carlisle suchen und zurück nach Hause fahren.«

Damit stand sie auf und versuchte, vor mir zu fliehen. Aber so leicht würde sie mir nicht davonkommen. Ich rannte ihr hinterher und hielt sie am Handgelenk fest. Ein angenehmes Kribbeln durchfuhr meine Haut. Sie versuchte sich mit vampirischer Stärke loszureißen, aber ich war stärker. Es hatte also doch seine Vorteile, ein Werwolf zu sein.

»Du wolltest doch, dass ich dir erkläre, warum ich so sterbenskrank war und plötzlich wieder gesund geworden bin, sobald du hier warst.«

Nuria wehrte sich nicht mehr gegen meinen Griff und sah mich nun durchdringend an.

»Ich halte nicht länger als eine Woche durch, ohne dich zu sehen. Bereits nach zwei Tagen fange ich an, krank zu werden. Nach einer Woche würde ich sterben. Sobald du bei mir bist, geht es mir besser. Ich spüre deine Präsenz, sobald du in meiner Nähe bist, und kann fühlen, was du fühlst. Ich spüre es, wenn du traurig bist oder wenn du glücklich bist. Ich spüre, wenn du in Gefahr bist und auch, wenn du in Sicherheit bist.«

»Das ist krank«, murmelte sie, bevor sie sich mit aller Kraft aus meinem Griff befreite.

»Das kann ich nicht abstreiten.« Sie hatte Recht, es war krank. Mein ganzes Leben war von ihr abhängig.

Angestrengt massierte sie sich die Schläfen. »Bitte sag mir einfach, dass es nur ein schlechter Scherz ist.«

»Sehe ich so aus, als ob ich Witze mache?« gab ich gereizter, als beabsichtigt, zurück. Immerhin hatte ich meinen Charakter durch sie nicht ganz verloren.

»Und was erwartest du jetzt von mir? Dass ich jeden zweiten Tag zu dir komme und dir den Kopf streichle, damit du nicht verreckst?« Abwehrend hob sie die Hände. »Sorry, Paul, ich hab's nicht mal geschafft, auf mein eigenes Leben aufzupassen. Ich kann dich nicht retten.«

»Ich erwarte nicht, dass du mich rettest«, gab ich zurück, »aber ich hab es mir auch nicht ausgesucht, abhängig von jemand anderem zu sein, als mir selbst. Ich weiß nicht, warum ich mich auf dich geprägt habe, nur dass es so ist.«

»Wir sind natürliche Feinde, du stinkst wie die Hölle. Niemals werde ich freiwillig einen Fuß in das Reservat setzen, nur damit es dir gut geht.«

»Gib mir doch einfach eine Chance. Was hast du zu verlieren? Du scheinst nicht gerade schwer beschäftigt zu sein.«

Daraufhin verdrehte sie nur ihre Augen. Ihre wunderschönen, grünen Augen.

»Warum sind deine Augen grün? Die deiner Geschwister sehen alle gleich aus.«

»Kontaktlinsen«, gab sie knapp zurück.

»Warum?«

»Das geht dich nichts an«, zischte sie, bevor sie auf dem Hacken kehrt machte.

Wie ein dummer Hund, der ich wahrscheinlich auch war, rannte ich ihr sofort hinterher.

Ich stellte mich vor sie, sodass sie nicht weiterlaufen konnte. »Komm schon, Nuria«, sagte ich nun eine Spur sanfter, »gib mir eine Chance.«

»Gibst du endlich Ruhe, wenn ich ja sage?«

Sofort breitete sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus. »Ja.«

»Fein, ich versuche, dich alle zwei Tage zu besuchen«, seufzte sie genervt, »und jetzt geh mir aus dem Weg, Köter. Ich will nach Hause.«

Ich leistete ihrem Wunsch Folge und machte einen Schritt zur Seite. »Bis in zwei Tagen, Nuria.«

»Erinnere mich nicht daran, Paul.«

Maybe in another life ║ Paul LahoteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt