12. Kapitel | Johannes 16:22 (Matteo)

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Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.

Heute sitze ich auf der seitlichen Kirchenbank neben Vera Fulson und der Pastor hält die Predigt.

Vera ist heute ganz in schwarz gekleidet und ich weiß, dass auch ihr Mann dunkle Kleidung unter seiner Robe trägt.

Sonntags finden keine Beerdigungen statt, aber ich weiß, dass heute der schwerste Tag des Jahres für die beiden ist, denn es ist der Todestag ihres einzigen Sohnes.

Thomas Fulson, der in etwa in meinem Alter war, als seine Eltern ihn gehen lassen mussten, starb vor vier Jahren ganz unerwartet an einer nicht entdeckten Lungenentzündung.

» ... und so wissen wir, dass wir diese Menschen wiedersehen werden«, predigt der Pastor mit fester Stimme.

Nur ich höre den Kloß in seinem Hals. Und vermutlich seine Frau, die mit auf dem Schoß gefalteten Händen neben mir sitzt.

»Dass sie bei uns sind bis dahin, über uns wachen und auf uns achten.« Mit einem leisen Rascheln blättert er die Seite um. »Und so sollten wir doch so leben, dass sie mit Stolz und Freude auf uns schauen können.«

So schmerzlich Erinnerungen wie diese auch sind, so sind sie auch immer in der Lage, die Relativität der Dinge wieder sichtbar zu machen. Für mich auf jeden Fall.

Urplötzlich wird mir bewusst, wie unwichtig und fruchtlos meine gestrige Wut war. Ja, ich war enttäuscht und fassungslos über das Verhalten dieser Wannabe-Gangster und wäre ich Hugo und seinem Kumpanen gestern noch einmal über den Weg gelaufen, hätte ich mich wahrscheinlich sogar von meinem Zorn verleiten lassen, Dinge zu tun, die ich hinterher mit Sicherheit bereut hätte.

Und wofür? Um meinem Ärger über ihr Verhalten Luft zu machen.

Hätte es etwas geändert? Das Geschehene ungeschehen gemacht? Sie zur Einsicht bewegt? Sehr wahrscheinlich nicht.

Eine Bewegung in meinem Augenwinkel lässt mich aufschauen. Beinahe lautlos und ganz ohne das einstige Knarren öffnet sich die Eingangstür und ausgerechnet Archie tritt herein.

Augenblicklich formen sich meine Augen zu misstrauischen Schlitzen.

Er schaut nach vorn, wirkt etwas irritiert, als sein Blick auf Pastor Fulson auf der Kanzel fällt. Anscheinend hat er nicht ihn dort erwartet. Er sieht zurück zur Tür, überlegt offenbar, dreht den Kopf noch einmal nach vorn und entdeckt mich plötzlich. Seine Augen weiten sich, für einen Sekundenbruchteil entspannt sich sein Gesicht, als wäre er erleichtert, und dann rutscht er schnell auf die hinterste Kirchenbank.

Was zum Kuckuck will er schon wieder hier?

Während des restlichen Gottesdienstes lasse ich den großen, vollkommen deplatziert wirkenden Mann nicht aus den Augen.

Da er sich bei seinem letzten Kirchenbesuch – mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich Zeuge seines letzten Aufenthalts in einer Kirche war und er seitdem keinen weiteren Gottesdienst besucht hat – unauffällig verhalten hat, gehe ich auch heute nicht davon aus, dass er irgendwelche Dummheiten anstellen wird.

Dennoch frage ich mich seit seinem Auftauchen unentwegt, was er hier will. Was seine ... Bande? Gang? Organisation? ... von mir will. Irgendwie sind es in letzter Zeit doch etwas viele Begegnungen, als dass das alles nur noch Zufälle sein können.

Ich bemühe mich um Fassung, rufe mir immer wieder ins Gedächtnis, dass er durchaus positive Absichten haben kann. Vielleicht mochte er den letzten Gottesdienst auch einfach?

Leider bin ich aber auch realistisch genug, um zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür nicht unbedingt null, aber doch sehr nah daran sein wird.

Als Pastor Fulson den Segen gesprochen hat und die anwesenden Gemeindemitglieder nach und nach die Kirche verlassen, erhebe auch ich mich neben Vera.

Ihre tränengefüllten Augen blicken mich an und ich schenke ihr mein aufmunterndstes Lächeln, während ich ihre gefalteten Hände mit meinen umschließe und sanft drücke.

Ihr Mann kommt zu uns, die Robe inzwischen abgelegt, und lächelt müde.

»Ich kann die Verabschiedung übernehmen«, biete ich sofort an. »Sie können beruhigt gehen.«

»Danke, Matteo.« Pastor Fulson nimmt die Hand seiner Frau und beide verlassen die Kirche mit langsamen, schweren Schritten.

Ich weiß, dass sie geradewegs zum Friedhof gehen und dort vermutlich den Nachmittag verbringen werden.

Ich selbst begebe mich zügig zum Kircheneingang, nehme den Kollektenbeutel, der dort auf einem kleinen Vorsprung liegt und in dessen Inneren bereits Münzen klimpern, und platziere mich neben der Tür.

Hände werden mir gereicht, dankende und mitfühlende Worte gesprochen. Der Großteil der Gemeinde weiß um Pastor Fulsons Geschichte, viele kannten seinen Sohn persönlich und waren tief erschüttert.

Schließlich sind alle Gottesdienstbesucher gegangen.
Bis auf einen.

Mit zögerlichen Schritten kommt der große Archie auf mich zu und blickt auf mich herab. »Hallo Matteo.«

»Archie«, entgegne ich knapp.

Ich weiß, es ist unhöflich, aber auch ich bin nur ein Mensch. Und dieser Mensch will jetzt vor allem erst einmal den Grund dieses Besuchs wissen und warum zur–

»Hast du Zeit für mich?«, fragt er unvermittelt und hält mir einen Schokoriegel mit gesalzenem Karamell entgegen.

Diese winzige Geste des Friedens lässt die trotzige Wut in meinem Bauch sich einfach auflösen.

Ja, ich bin noch zornig, aber nicht auf Archie. Archie hatte nichts mit dem gestrigen Verhalten von Hugo zu tun und es ist ungerecht von mir, meine Wut nun gegen ihn zu richten, nur weil die beiden offenbar zusammenarbeiten.

Und dieses Gefühl, über einen Kamm mit allen anderen geschoren zu werden, kenne ich selbst doch nur allzu gut.

Ich schenke ihm ein erstes, ehrliches Lächeln und nicke. »Sehr gern. Wollen wir dafür wieder in den Garten gehen?«

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt