21. Kapitel | Es kann in meinem Kopf auch leise sein? (Archie)

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Okay, ich hab keine Ahnung, was hier gerade passiert, aber ich glaube, ich hab mich noch nie in meinem Leben so ... gut gefühlt.

Vor ein paar Sekunden dachte ich noch, ich kotze gleich in die Kirche – oder davor, denn ich stehe ja nicht drin, so aufgeregt und voller ... Angst war ich.

Und jetzt hat Matteo wirklich gerade gefragt, ob ich ihn nochmal küssen kann!

Schhhhhhhhhhhhht!

Es rauscht in meinen Ohren, als würde ein Güterzug hindurchfahren, als ich ganz vorsichtig meine Hand an sein hübsches Gesicht lege und mich zu ihm hinunterbeuge.

Mein Herz macht einen kitzelnden Hüpfer, als er sich auf die Zehenspitzen stellt, seine Hand meine Wange berührt und er unsere Lippen vereint.

Und plötzlich ist das Rauschen in meinem Kopf weg. Es ist einfach nur still und klar in mir, als wäre alles einfach ... richtig.

Matteos Lippen sind weich und warm und ich seufze leise, als meine Zunge auf seine trifft.

Viel zu schnell löst er sich von mir und das Chaos in meinem Kopf bricht wieder los, die Fragen und Gedanken stürzen regelrecht auf mich ein.

Hat ihn wohl mein Bart gestört? Er scheint sich jeden Tag zu rasieren, darum ist seine Haut ganz glatt und weich.

Bin ich ihm zu groß? Er ist so klein, er würde gar nicht so einfach an mich herankommen, selbst wenn er wollte.

Ich finde seine Größe toll, es wäre total merkwürdig, wenn er viel größer wäre.

Hat er das schon mal gemacht? Jemanden geküsst? Einen Mann geküsst?

Bereut er es, mich geküsst zu haben? Vielleicht wollte er nur höflich sein. Eigentlich wirkt er nicht wie jemand, der so etwas nur aus Höflichkeit macht, aber andererseits ist er ja tagtäglich höflich zu Menschen.

»Drehst du gerade durch?« Er lächelt mich an, seine Hand liegt noch immer an meiner Wange und seine braunen Augen mustern mich fragend.

Ich kann nur nicken.

Ich glaube, wenn ich jetzt losrede, sprudelt mein Kopf einfach über und dann könnte ich aus Versehen etwas sagen, was ihn verärgert und das will ich nicht.

»Melonen wachsen an rankenden Pflanzen auf dem Boden, ähnlich wie Kürbisse«, beantwortet er meine allererste Frage. »Ich habe leider keine Melonen im Garten gepflanzt, aber eine Kürbispflanze. Es ist zwar heute nicht das schönste Gartenwetter, aber ich zeige sie dir gern, wenn du magst.«

Wieder nicke ich.

Kürbis ist eklig, finde ich. Den gibt es in so saurem Saft schwimmend, das schmeckt mir gar nicht. Und zu Halloween dürfen Kinder da immer Gesichter reinschnitzen. Das wiederum finde ich ganz witzig, wobei–

Ich verliere schon wieder total den Faden!

Matteo steht da, hält mir die Kirchentür auf und schaut mich erwartungsvoll an.

Schnell mache ich einen Schritt nach drinnen und er schließt leise die Tür.

»Ist es in deinem Kopf auch manchmal laut?«, spreche ich meinen nächsten Gedanken aus.

Lächelnd nickt er und ich atme erleichtert auf.

Zumindest scheint er das Gefühl zu kennen.

»Mir hilft es oft, die Gedanken einfach auszusprechen oder sie aufzuschreiben«, erklärt er. »Dann fühlt es sich irgendwie an, als hätte man sie sortiert oder abgegeben.«

Ich blinzle. »Echt?«

Er zuckt mit den Schultern und blickt nach unten auf meine Hände, ehe er vorsichtig eine davon nimmt.

Seine Berührung lässt mein Herz wieder so einen kleinen Hüpfer machen.

»Gerade habe ich lauter Fragen an dich in meinem Kopf«, redet er leise weiter. »Aber ich habe Angst, dass du wieder wegläufst, wenn ich sie ausspreche.«

Schnell schüttle ich den Kopf und greife seine Hand ein wenig fester. »Ich ... ich laufe nicht mehr weg.«

Skeptisch runzelt er die Stirn. »Auch nicht, wenn es unangenehm wird?«

»Unangenehm?« Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen.

Hat er irgendeinen Fetisch, den er mir verheimlicht? Es gibt ja schon komische Sachen, auf die Leute so stehen. Manche wollen irgendwas mit Tieren machen oder mit Dingen, die meiner Meinung nach ins Klo gehören.

Gino hat mal erzählt, dass er es geil findet, wenn die Frauen, die er so aufreißt, ihre langen Fingernägel in sein Eier–

»Unsere Unterhaltungen«, stellt Matteo klar. »Bisher hast du ja gern die Flucht ergriffen, wenn das Thema unbequem wurde.«

Ich räuspere mich und kratze mir mit der freien Hand den Nacken.

Um ehrlich zu sein, würde ich auch jetzt schon wieder am liebsten weglaufen, aber dann war das heute mit Sicherheit das letzte Mal, dass Matteo mir die Tür aufgemacht hat.

»Tut mir leid«, murmle ich und schaue auf unsere Hände, die sich noch immer gegenseitig halten.

Krass, dass ich einfach seine Hand halte. Das ist so ... schön.

»Willst du sie jetzt sehen?«, fragt Matteo. »Die Kürbisse?«

Ich nicke, mache aber keine Anstalten, seine Hand loszulassen. Ich will ihn auf keinen Fall loslassen.

Lächelnd setzt er sich in Bewegung und zieht mich mit sich durch die Kirche, hin zu der Tür, die in den Garten führt. Als er sie öffnet, verzieht er überrascht das Gesicht.

Aus dem Nieselregen ist ein richtig fetter Schauer geworden, es rauscht richtig, so viel Wasser kommt herunter.

Als wollte sein Gott nicht, dass wir in den Garten gehen.

Matteo wendet sich wieder zu mir und zuckt mit einem entschuldigenden Lächeln mit den Schultern. »Die Kürbisse müssen dann erst einmal warten, fürchte ich.«

»Okay«, mache ich nur, denn meine Gedanken sind noch immer bei unseren Händen, die sich weiterhin halten und wie schön ich das finde. Und noch viel schöner fand ich es, Matteo zu küssen. »Kann ich dich dann einfach nochmal küssen?«

»Das fände ich sehr schön.« Da ist das Grübchen wieder, neben seinem Mund. Seine andere Hand, die, die nicht von meiner gehalten wird, legt sich auf meine Brust und er lächelt nach oben zu mir. »Aber können wir uns auch unterhalten?«

»Dabei?« Ich lege grübelnd den Kopf schief, als er auflacht.

»Das könnte schwierig werden«, sagt er kichernd. »Aber vielleicht bekommen wir es ja abwechselnd hin.«

»Okay.« Ich zucke gleichgültig mit den Schultern.

Nicht weil es mir gleichgültig ist, dass er sich mit mir unterhalten will, obwohl ich meistens nicht viel zu sagen habe. Oder weil er mich küssen will.

Vielmehr bin ich glücklich darüber, dass er mich nochmal küssen will und abwechselnd bedeutet ja auch irgendwie mehrmals. Und wenn wir es so machen und ich Matteo dann einfach mehrmals küssen kann, ist mir alles andere einfach ... egal.

Seine Hand in meinem Nacken reißt mich aus meinen Gedanken und als ich mich zu ihm nach unten beuge und endlich meine Lippen auf seine lege, kehrt wieder diese ungewohnte Ruhe in meinem Kopf ein.

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt