Kapitel 10b

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Die Maus

Ihre flinken Pfoten trappelten über den Steinboden der Tempelruine, flitzten und flogen zwischen den Schluchten der Trümmer umher, krallten sich zwischen den Rillen des Mauerwerks fest, hievten sie über die Treppen. Ihr kleines Herz donnerte in doppelter Geschwindigkeit von innen gegen den Brustkorb und pumpte so viel Blut durch ihre Adersysteme, dass sie glaubte, der Körper müsste bald vor Anstrengung auseinanderbersten. Sie fühlte den Rausch des Adrenalins in Wogen über sich kommen; Hitze gegen die Kälte der uralten Steine im Bergwind. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie gar, als wollte Feuer der Sterne von droben am Himmel in ihren Pelz sickern.

Ihr Blick flog nach oben.

Das auseinandergestürzte Kreuzgewölbe des Tempelgangs entblößte noch einmal die Nacht über ihr. Das Licht von tausend anderen Welten, das ihr Leben lang über ihrer Seele wachte. Ein Flüstern und Wispern und Glitzern aus der Ferne ihrer tröstlichen Heimat, wie blinkende Punkte auf einer Decke aus schwarzblauem Mitternachtssamt. Schon bald würden die ersten Farben der Dämmerung hinter dem Horizont hervorbrechen und das silberne Funkeln hinter einem Schleier aus Orange und Pink verbergen.

Die Sterne würden verschwinden.

Aber an den Ort, an den die Maus eilte ... könnten sie ihr ohnehin nicht folgen.

Das kleine Tier hob sein Näschen schnuppernd in die Luft und suchte nach den vertrauten Gerüchen seines Freundes, nach Spuren, die vielleicht irgendwo in den Rillen der Ruinensteine haften geblieben waren. So viele Gänge aus meterdickem Mauerwerk türmten sich aus dem Boden gen Himmel, schoben sich wie ein zweiter Wald aus den Schlingpflanzen bis zu den Tempeldächern empor und ragten wie schwarze Mäuler aus dem Buschwerk. Düsternis sickerte aus jeder Pore des Steinwerks in die Nacht und versetzte die kalte Bergluft mit Gerüchen, die eine ganz eigene Geschichte über die Jahrhunderte des Verfalls erzählten. Allesamt waren sie mit Fackeln bestückt.

Stinkende Flammen aus dem Rachen eines Ungetüms.

Feuer.

Das Licht spiegelte sich in den Augen der Maus.

So viele Fackeln.

Durch welchen Gang müsste sie nun wohl eilen?

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt