Kapitel 14b

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Als Flordelis den Falken zum ersten Mal an den Fenstern des Wegehauses zu Rabenwalde toben sah, war ihr bereits ins Bewusstsein gelangt, dass irgendetwas an der Aura des Tieres nicht mit den gewöhnlichen Waldbewohnern von Irden gleichzusetzen war. Als sie den Vogel dann im Kampf gegen die Vasenna-Soldaten beobachtete, als er ihre Blicke förmlich an seinem Gefieder fixiert gehalten hatte, da ahnte sie, dass mehr dahintersteckte.

Doch nicht einmal im Traum hätte sie an jene Legende gedacht, an ... die Märchen, die man sich in der Welt der Lehma über die Herkunft der Menschen erzählte. Sie hätte niemals ihren Frieden mit der Vorstellung geschlossen, dass dort ein anderes Wesen aus solch einer Legende durch ihre Welt spukte.

Weil ... die Legenden nicht real waren.

Schauergeschichten. Schauergefühle. Dinge, die man eben so sagte, wenn man sich unwohl fühlte.

Aber doch nicht ... nicht tatsächlich etwas aus ... der Kluft.

Mit Mos Erscheinen in den Katakombenanlagen unter dem Tempel hätte es vielleicht für sie offensichtlich werden müssen, doch was hatte sie sich innerlich gegen die bloße Möglichkeit einer solchen Sachlage gesperrt. Nein! Es durfte nicht sein. Nicht und niemals. Und doch ... Jede Minute, in der sie es leugnete, in der sie sich weigerte, es auszusprechen ...

Jede einzelne Minute strafte ihre eigenen Gedanken lügen.

Weil es nun einmal so war, wie es war.

Mo war eine Körperlose.

Ihre Seele konnte die Leiber der Toten erwecken, die Leichenhüllen wie ein Kleid an und abstreifen. Sie wechselte die Haut, das Alter, selbst das Geschlecht. Der Kern ihrer Seele kannte keine Form. Nicht in dieser Welt.

Noch vor der Zeit der Rabenkönige und lange vor der Erschaffung der Krone war das Land noch nicht derart gespalten gewesen. Die Völker lebten mal friedlich, mal weniger friedlich in einer Welt, die vor so vielen Jahren noch ganz anders als die zweigeteilte Landschaft des Kronlands gewesen war. Auseinandersetzungen. Ungereimtheiten. Das gab es bereits vor der großen Spaltung durch den Fluch, der Irden seit den Ereignissen um die Andersweltkluft in zwei ungleiche Teile teilte. Doch die kosmisch umwälzende Trennung kam eben erst mit den Ereignissen, die sich vor einigen Jahrhunderten unter dem Rabenberg abgespielt hatten. Und mit ihr, so sagten die Legenden, kamen eben auch die Wesen aus der anderen Welt.

Es begann mit einem Gefühl für Ungerechtigkeit.

Als das Volk der Obsidiane allmählich den Glauben an den Schöpfern herausforderte und sich zu fragen begann, weshalb die allmächtigen Erschaffer von Irden denn manche Völker ewiger gemacht hätten als die anderen. Denn weshalb sollte man dem Volk der Glaser beispielsweise eine Spanne von Jahrtausenden im Leben vergönnen, während die Obsidiane nur ein paar hundert Jahre auf Irden erhielten? Weshalb sollten die Urmächtigen manche der Ewigenvölker in ihrer Lebensspanne bevorzugen und anderen weniger Jahre zur Verfügung stellen? Wo manch neuigierige Forscher die Entwicklungen in den Stammbäumen der Völker suchten, wo sie Unterschiede im Alter der jeweiligen Gruppen aufzuspüren begannen, Unterschiede, die über ihre Verbindung zu den Energiekanälen Irdens Aufschluss gaben ... da machte sich eine Gruppe der Obsidiane vor Wut auf eine Reise in die Berge. Die heiligen Berge.

Unter dem Rabenberg dann gruben und schürften und fraßen sie sich in den Stein, gruben tiefer und tiefer, um zu den Schöpfern zu gelangen. Sie wollten sie zur Rede stellen, sie mir irdischer Macht konfrontieren. Den Urmächtigen gefiel dies herausfordernde Verhalten selbstverständlich nicht und so begannen sie, die Berge donnernd zu schütteln, das Land zu erschüttern, bis sich unter dem Rabenberg eine gewaltige Kluft wie ein Höllenschlund auftat. Aus diesem klaffenden Bergloch drang dann das erste Donnern der Donnerberge empor, während die Energie der Schöpfer allerlei Kreaturen durch den Spalt stürzen ließ. Durch den unendlich schwarzen Schleier wurden die ersten Menschen in die Welt Irden geschleudert, krochen wie erwachsene Neugeborene über den Stein des Rabenbergs und atmeten erstmals die Luft, die vor ihnen nur die Völker der Ewigen geatmet hatten. Mit ihnen floh eine Schar von pechschwarzen Vögeln aus dem Schlund, ebenfalls neugeboren, doch jahrtausende älter. Jene Raben sollten später eine fortdauernde Ära von Menschenkönigen unterstützen. Seine Majestät, König Laurin Rabenschwinge, begründete selbst noch in der neuen Zeitrechnung seine Macht auf diesen einen Moment. Doch seine Familie war nicht als einzige aus der Kluft gestiegen. Neben einigen anderen Menschenstämmen fanden sich noch weitere Kreaturen in der neuen Welt wieder, nachdem sie aus den Tiefen der Höllenkluft im Rabenberg gespuckt worden waren. Der Unterschied? Die meisten der Schöpfungskinder erstickten an der Luft Irdens, sobald sie ihren ersten Atemzug zu nehmen versuchten. Der heilige Berg verwandelte sich in ein Massengrab aus Kreaturen, die der Ursuppe der hochheiligen Schöpfer entsprungen sein sollten. Noch nicht fähig, in der Welt zu wandeln – und doch ein Funke des Heiligen in sich. Genau an diesem Funken Heiligen hangelte sich klammheimlich ein weiteres Volk seinen Weg in die Welt: die Körperlosen, deren Form auf Irden gar nicht in einem festen Gefäß existierte, retteten sich mit ihren Seelen in die Leiber der umliegenden Leichen. Und von dort wechselten sie die Haut von einem Toten zum nächsten weit hinaus in die Welt, wo sie sich mit ihrer scheuen Art vor den Augen der meisten zu verbergen versuchten. Denn gern gesehen waren sie nicht. Sie schändeten die Verstorbenen, hieß es. Sie störten die Ruhe. Also verschwanden die Körperlosen von der Bildfläche der historischen Ereignisse und galten schon bald als ausgestorben, zumal sie in so geringer Zahl in die Welt gekommen waren, dass sie sich bei ihrer Lebensweise selbst kaum begegnen konnten. Viele Magyr stellten ohnehin die Frage danach, ob es den Körperlosen in den toten Leibern möglich gewesen wäre, sich fortzupflanzen. Einige stellten überhaupt deren Existenz infrage. Viele Erzählungen aus der Zeit der Kluft wurden über die Jahre sehr bildlich überliefert und wenige Details ließen sich auf einen gesicherten historischen Kern zurückführen, insbesondere, da die Ankunft der Menschen auf Irden für die Lehma in den Zyklus der Schöpfungsgeschichte aufgenommen wurde. Denn für einige der Ewigenvölker galten die Kreaturen aus der Kluft als heilige Abbilder der Schöpfer, als Abgesandte, die von ihnen zur Wahrung des irdischen Gleichgewichts auf jene Welt geschickt worden waren. Zur Strafe für die Obsidiane, die sich an den Schöpfern versündigten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 09 ⏰

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Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt