„Dir."
„Nein, dir."
„Dir."
„Dir!"
„Dir?"
„Dir, Blödhammel! Siobhan, es plappert mir nach. Dabei will ich ihm doch nur das Stück Brot geben", maulte Boris beim Frühstück. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sein Kinn auf den Tisch fallen. Wassertropfen aus seinen vom Bad nassen Haaren bildeten eine Pfütze neben der besagten Brotscheibe. Kri schnappte sie sich mit einem leisen „Danke", während die Maske vor sich hin skandierte: „Dir. Dir, dir, dir, dir, dir, dir, dir."
Es war ja wirklich schön, wie stolz sie auf dieses neue Wort war und noch besser, dass das Wesen wirklich sprechen konnte. Aber Siobhan war schlecht gelaunt und nicht aufgelegt solche Missverständnisse aufzuklären ohne ihre Schwertkampfübungen. Die hatte sie heute vergessen, weil Roderick sich nach dem Gespräch des Vortages in sein Zimmer zurückgezogen hatte und nicht mehr herausgekommen war. Dabei hatte sie gedacht, das Gespräch wäre gut verlaufen und hätte ihn etwas beruhigt. Aber da lag sie wohl falsch, seitdem er sich verbarrikadiert hatte, quakte es ohrenbetäubend laut hinter der Tür hervor. Sie hatten das Frühstück in das rechte hinterste Eck verlegen müssen, um einander ein wenig zu verstehen. All ihre Versuche, mit ihm zu sprechen oder zu ihm durchzudringen, waren vergeblich. Er antwortete nicht, quakte nur herzzerreißend. Hätte er sie nicht um ihren Schlaf gebracht – im Gegensatz zu ihren Gästen brauchte sie den schon – hätte sie auch mehr Mitgefühl mit ihm.
„Mir dünkt, es teilt uns einen Namen mit", säuselte Kri. Jedes Mal, wenn sie sprach, war Siobhan überrascht, wie der Klang ihrer Stimme im Gegensatz zu ihrem Auftreten stand. Sie klang wie eine vornehme Dame aus den Historienfilmen und benahm sich wie ein kampferprobter Barbar aus eben diesen. Mit Ausnahme der Knickse.
„Dir? Das ist ein seltsamer Name", verkündete Boris und streckte dem Wesen die Zunge raus. Es schien, als hätte nicht nur Siobhan schlechte Laune.
„Boris ist nicht viel schöner. Der hat nichts Stattliches, sagt nichts aus. Siegfried hingegen oder Gunther. Das waren noch Namen, sehr hoheitsvoll." Kri seufzte verträumt.
Siobhan verkniff sich zu fragen, wie es um den Namen „Hagen" stand. Stattdessen ...
„Kri, willst du nach dem Essen mit mir eine Runde Schwertkampf üben? Boris, dir mag der Name seltsam vorkommen, aber unser Gast hat ihn gewählt und ist sicher ganz stolz drauf. Mach ihm nicht die Freude kaputt und frag dich lieber, ob es nicht auch an dir Dinge gibt, die Dir seltsam finden könnte."
Ihr Tonfall war harscher als beabsichtigt. Kri nahm es gelassen und antwortete: „Wie du wünschst." Ihre Augen funkelten voller Kampfeslust. Doch Boris nahm sich ihren Tonfall zu Herzen. Er kauerte sich zusammen, nahm das Kinn vom Tisch und presste die Ellenbogen an sich.
„Darf ich aufstehen? Ich habe keinen Hunger mehr", fragte er. Siobhans Ärger wurde von feinen Stichen schlechten Gewissens ersetzt. Boris reagierte sehr schnell auf ungehaltene Tonfälle. Sie vermutete, dass es etwas mit seinem Aufwachsen oder seinem Tod zu tun hatte, doch er wollte oder konnte nicht darüber sprechen. Normalerweise achtete sie auf ihre Ausdrucksweise und Lautstärke, aber gerade war ihr das misslungen.
„Natürlich, Kleiner. Ich bin etwas genervt, aber das hat nichts mit dir zu tun und hätte ich nicht an dir auslassen sollen. Das tut mir leid. Ich möchte nachher eine Geschichte hören, wenn du mir eine erzählen magst?" Boris richtete sich wieder etwas auf. Er kaute auf seiner Unterlippe, nickte aber. Erleichtert atmete sie auf, während er zu den Räumen nach hinten lief.
„Dir."
Siobhan wandte sich an Dir, das ihr eine Tasse in die Hand drückte. Es war dieselbe, aus der es den Kräutersud getrunken hatte. Es hatte sie sich nicht wegnehmen lassen und hatte seit dem ersten Mal schon fünf weitere Tassen geleert.
„Nummer sechs?", raunte sie.
Die Maske wippte auf und ab und der Mund öffnete sich weit.
„Wenn das so weitergeht, zeige ich dir-"
„Dir!"
„Ja, dir. Dann zeige ich dir, wie du das selbst machen kannst. Du bist ja unersättlich."
„Ssssselb?"
Kri stach mit ihrem Messer die Butter auf und schmierte den gesamten Brocken über die Brotscheibe. Er brach in der Mitte. Kri stach nun auf die Hälften ein und beförderte sie – zerstochen – auf den Butterteller. „Unser Gast hat wirklich einen außergewöhnlichen Wortschatz. Doch noch bewundernswerter ist sein Wille zu lernen", merkte sie spitz an, bevor sie von der Brotscheibe abbiss.
Siobhan ignorierte sie und wandte sich Dir zu. „Was willst du uns sagen?"
„Sssselb. Bsst. Selb.Bst."
„Ah, selbst. Das Wort interessiert dich? Dann bist du schon auf einem guten Weg. Mach nur keine Pause zwischen Selb und Bst. Es sind keine zwei Bs in dem Wort. Selbst, so? Hörst du das?"
Kri kicherte damenhaft. „Deine Erklärungen sind ganz und gar einzigartig. Ich bezweifle, ob unser Gast dir folgen kann." Damit drehte sie sich zu der Maske. „Es ist mehr ein „Sel" und „psst". Nur weicher. Selbst."
Dir sah sie ausdruckslos an. Nur der Mund, der seit diesem ersten Lächeln mehr Leben zeigte, rundete sich an den Rändern ab. „Sel-psst."
„Weicher."
„Sel-bsst. Sel-bsst. Selbst."
„In der Tat." Kri applaudierte geziert, indem sie leicht die Finger der einen auf den Handrücken der anderen tätschelte.
„Dir selbst!", verkündete Dir und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Die Schatten schlugen kleine Wellen, dass es so aussah, als würde Dir zittern. Vielleicht müssten sie keine neue Kommunikationsform erfinden. Wenn das so weiterging, würde Dir bald einen Satz bilden können.
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Bibliothek der Seelen
ParanormalDie "Leb-Bar" klammert sich an die Grenze zwischen Leben und Tod. Sie ist der Ort für all jene Seelen, die weder in die eine noch in die andere Welt ganz gehören. Sie ist für all jene, die zu tot sind zu leben und noch zu sehr am Leben hängen, um z...