Unsagbar

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Siobhan entschied, zuerst mit Boris zu sprechen. Zu ihm würde sie vermutlich schneller durchdringen als zu Roderick. Der Frosch quakte immer noch hinter verschlossener Tür wie die verzauberte Unke aus der Lieblingsgeschichte ihres jüngeren Bruders Finn. Nur würde sie Roderick das nie ins Gesicht sagen. Er nahm es sehr gern genau, dass er nicht zu der Familie der Unken gehörte, wenn seine Art diesen auch ähnlich gesehen hatte. Um vielleicht sein Gemüt zu beruhigen, hatte sie ihm seine Leibspeise vor die Tür gestellt. Sogar eine Glasglocke hatte sie über die Eier gestülpt, dass der „Naturgeruch" nicht 

Sie klopfte an die Tür. Eine Zeichnung mit einem Frosch und einer Maus mit Degen knisterte unter den Schlägen ihrer Faust.  Siobhan hörte Tapsen und mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Seine Augen waren gerötet und verquollen. Tränenspuren zogen sich über seine Wangen. Er schniefte. Sie hockte sich hin. Ihre Hüfte krachte nur ganz leicht. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete sie die Arme. Ein Schluchzen entfloh ihm und er stürzte sich auf sie. Gemeinsam plumpsten sie zu Boden. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihr Handgelenk, doch sie ignorierte es.

Boris' Worte lenkten sie zu sehr ab: „Ich will zu meiner Mami. Wo ist sie?"

Die Frage murmelte er so leise in ihr Hemd, dass sie sie kaum verstand. Doch die Worte vibrierten in ihrer Brust. War es Zeit? Nein, jetzt war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber anlügen oder weiter hinhalten schien ihr mit einem Mal auch grausam. Sie streichelte seinen Rücken, während sie überlegte.

„Hätte sie nicht längst kommen sollen? Sie ist immer da, wenn es mir schlecht geht. Das hat sie versprochen."

„Oh, Boris." Siobhan drückte ihn fester und küsste ihn auf den Scheitel.

Er wand sich frei und drückte sich so weit ab, bis er sie ansehen konnte.

„Habe ich alles so falsch gemacht, dass sie nicht mehr kommen mag, weil sie mich nicht mehr lieb hat?", schniefte er.

Siobhans Magen zog sich zusammen und ihr Herz drohte zu zerplatzen. Hinter ihren Augen brannte es und sie blinzelte. Sie räusperte sich. Der Kloß in ihrem Hals wurde trotzdem nicht kleiner.

„Deine Mami ... hat dich sehr lieb. So, so, so sehr. Wie könnte sie nicht? Du bist du und ... das ist so schön und toll und großartig. Aber ... Aber sie kann nicht bei dir sein ...nic- nicht zu dir kommen, weil-"

Ihre Stimme brach. Normalerweise folgte sie der Regel ‚Erzähl es so klar und direkt wie möglich. Bleib bei den Fakten, emotional wird es von selbst.' Aber in letzter Zeit war nichts mehr normal gewesen und die Schicksale von Kindern gingen ihr besonders nahe.

Boris war ruhig geworden. Er sah sie abwartend an.

„Weil du gestorben bist und sie noch lebt. Ich bin mir sicher, wenn sie könnte, würde sie sofort zu dir kommen. Aber so leicht ist das nicht."

Er war immer noch still. Zu still.

Als sie ansetzen wollte zu fragen, ob er verstanden hatte, zwickte er sich. Die Haut auf seinem Unterarm leuchtete rot.  „Das tut weh. Wenn etwas wehtut, ist es echt. Aber Toten tut nichts weh. Das hat Mami gesagt, als Oma gestorben  

„Das trifft zu, wenn sie gleich weiterziehen. Aber du bist hier, das heißt du bist noch nicht weitergezogen. Die Lebbar ist eine Zwischenstation für alle, die in der einen Welt schon tot sind, aber noch nicht bereit für das Ende. Verstehst du, was ich meine?"

„Ich bin ... nicht bereit? Natürlich kann ich nicht weiterziehen. Dafür braucht es doch ganz viele Kisten und Koffer. Das weiß ich noch, weil Mami mich all mein Zeug einpacken hat lassen und es in einen riesigen Laster getan hat. Sie hat gesagt, das müssen wir tun, um weiterzuziehen. Wohin weiß ich nicht mehr, aber sie wollte auf jeden Fall weg von Günther. Ich auch, der stinkt nach Fisch und Arsch."

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