Unerschütterbar

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Es war erschreckend, wie nicht erschreckend die Geschwindigkeit war, mit der wieder Normalität einkehrte. Jeder ihrer Gäste arrangierte sich so um, als wäre Roderick nie Gast gewesen. Sie fing keine Fliegen mehr und behielt sie auf. Boris erzählte nun Dir seine Geschichten. Kri weitete ihre Badezeit aus, nachdem nun niemand mehr nach ihr kam. Doch das war der Lauf der Dinge und sie kannte ihn schon gut. Zu gut, da vergaß sie oft, innezuhalten und sich über die erschreckende Nichterschreckendheit zu wundern. Deswegen genehmigte sie sich ein Gläschen Whiskey und tat genau das. Aber es gab noch mehr, das sie beschäftigte.

Krachend streckte sie ihr Bein aus und massierte ihr Schienbein. Die Haut ziepte und eine Vene darunter puckerte. Bald würde ein neues Knötchen kommen. Oder war das für Dir? Erkannte ihr Körper ihn endlich als Gast an? Denn seit seinem Auftauchen hatte sie keine neuen Beulen bekommen. Wirklich seltsam. Denn Beulen entwickelte sie sonst im Laufe der ersten Momente, wenn ein neuer Gast die Leb-Bar betrat. In manchen Fällen kündigten sie sich schon vorher an.

Aber Dirs Auftauchen hatte weder das eine noch das andere bewirkt. Was das wohl bedeutete? Vielleicht hieß das ja, er würde ... Nein, das war zu abgedreht! Viel zu sehr schönes Wunschdenken, um in Erfüllung zu gehen. Vor allem hatte Siobhan auch keinerlei Anhaltspunkte, Dir wäre gekommen, um zu bleiben. Außer seinem plötzlichen, recht ominösen Auftauchen und seiner Entwicklung. Seit er hier war, war er von komplett still zu einem eigenen Selbstbewusstsein gekommen, das er sehr deutlich machte. Doch eine ähnliche Entwicklung machten auch ihre üblichen Gäste durch, bevor sie über den Lebenswasserfall wieder verschwanden. Das gehörte zu dem Prozess des Weiterziehens. Der einzige Unterschied, sie war es langsam leid, als einzige ein Fels in der Brandung zu sein.

Das Glas klirrte, als Siobhans Finger vom Rand abrutschte. Gedankenverloren hatte sie darauf Kreise gezogen und erst jetzt in der Stille merkte sie, dass das Singen des Glases sie beim Denken begleitet hatte.

„Umso passender, jetzt diesen Bruch zu haben", dachte sie, „denn ich wusste gar nicht ... wie ich fühle." Aber ja, sie konnte und wollte es nicht mehr leugnen. Sie war es satt, einsam zu sein. So sehr sie die Leb-Bar liebte und ihre Gäste eine schöne Abwechslung waren. Niemand blieb und mehr als alles andere wünschte sie sich, jemand würde es einmal tun. Warum also nicht Dir? Schließlich war die Maske in sonst allem aus Siobhans Rahmen gefallen. Doch wenn sie eines von ihrer Zeit mit Todesmagie gelernt hatte: es war okay sehr direkt zu sagen, was man brauchte aber wenn es um Herzenswünsche, richtige Sehnsüchte ging, sollte sie vorsichtiger sein. Wünschte sie sich Dir an ihre Seite als ihr zweiter Fels, würde die Magie den Wunsch zwar erfüllen, aber Dir wäre von da an, ein Teppich oder nur mehr der Schatten in den Ecken ... Nein, danke, das würde sie und Dir unglücklich machen.

Beherzt stürzte sie den Rest ihres Whiskeys hinunter und stellte das Glas in die Spüle. Hinter ihr hörte sie, wie ein Stuhl über den Boden schabte. Das Schnauben und die kleinen „Woh"- Ausrufe verrieten ihr, dass Boris auf einen der Stühle an der Bar kletterte. Sie wusch das Glas aus und drehte sich anschließend zu ihm. Die Ellenbogen zu den Seiten gestreckt lag er beinahe auf dem Tresen.

„Was kann ich dir zubereiten?", fragte sie.

Automatisch tasteten ihre Finger bereits nach der Kakaopulverdose, doch Boris schüttelte den Kopf. Siobhan hielt inne und legte beide Hände übereinandergefaltet auf den Tresen. Etwas beschäftigte ihn.

„Bist du dir ganz sicher, Mama kommt nicht nach?", fragte er und saugte an seiner Unterlippe.

Sie atmete tief ein und aus. Es hätte ihr klar sein müssen, dass er das Thema nicht so schnell fallen ließ. Selbst wenn er seinen Tod akzeptierte. „Ich kann nicht in den Kopf deiner Mama sehen und kenne sie auch nicht, aber abgesehen davon, ja bin ich mir sicher." Sie hielt kurz inne. Sollte sie die Frage stellen? Es könnte ihn recht schwer treffen, aber vielleicht würde es ihn auch den rechten Anstoß geben.

„Bist du dir sicher, sie wird nicht kommen, weil ich tot bin und sie nicht? Und wenn sie kommt, heißt das, sie wär es auch? Also unbereit tot."

Er kam ihr zuvor. Boris hatte es auf den Punkt gebracht. Aber er sagte es so sachlich. In ihrem Magen zog sich alles zusammen und verknotete zu einem harten Klumpen. War das für ihn wirklich so okay oder tat er nur so?

„Das war mein Gedanke ... Wie geht's dir, wenn du das sagst?" Sie stützte sich auf dem Tresen ab und stemmte sich hoch, bis auf der Arbeitsfläche sitzen konnte. Ihre Hüfte zwickte zwar und ihr Knie krachte, als sie einen Fuß anwinkelt. Aber das war es wert. Boris' Kopf war nun vor ihr und leichter zu erreichen. Und sie musste nicht mehr stehen.

Er kaute weiter seine Unterlippe, biss zwischenzeitlich so fest zu, dass sich Siobhan fragte, ob das nicht wehtat. Bluten konnten alle ihre Gäste nicht, weil sie als Tote keinen Lebenssaft mehr in sich hatten. Was sie stattdessen durchdrang, fiel für Siobhan unter eines der weiteren Todesmagiemysterien.

„Unfair, so eine schwere Frage! Ich dachte, es reicht, wenn ich das mit dem Nichtkommen sage ...", maulte er und vergrub sein Gesicht in der Kuhle seiner Arme.

Siobhan legte ihre Hand auf seine Schulter. „Das ist kein Test und niemand wird bewerten, wie gut du darauf antwortest. Es gibt kein richtig oder falsch", versicherte sie ihm. Das schien das Falsche zu sein, denn er murrte und schüttelte ihre Hand ab.

„Grammatik ist besser, die hat Regeln und ein richtig oder falsch. Warum kann das nicht wie Grammatik sein?", nuschelte er.

Siobhan unterdrückte ein Lachen. Wenn etwas für sie fast ebenso wenig Regeln wie das Leben hatte, war das Grammatik. Denn da gab es zu viele Ausnahmen und vieles ging auch nach Gefühl, wenn sie sich recht an ihre Schulzeit erinnerte. Aber da die Grammatik, die Sprach, etwas war, das Boris so sehr mit seiner Mutter verband, wollte sie ihm das nicht nehmen.

„Weil es das Leben oder in deinem Fall das Nachleben ist. Du könntest es ja wie eine Grammatikregel angehen", schlug Siobhan vor, obwohl sie selbst keine Idee hatte, wie das aussähe.

Boris schniefte, wischte sich seine Nase auf den Unterarmen ab und sah sie dann an. „Wie meinst du das?"

Erwischt! Siobhan lachte und zuckte die Schultern. „Ich habe keine Ahnung."

Auch Boris lachte und trommelte auf den Tresen. „Warum sagst du das dann, wenn du selbst nicht weißt, was du meinst?"

Siobhan seufzte erleichtert. Das enge Knäuel in ihrem Magen lockerte sich etwas bei dem Anblick seines offen lachenden Mundes mit dem fehlenden Schneidezahn. „Um dich aufzuheitern", sagte sie, während sie sich vorbeugte und ihm einen Nasenstupser verpasste, „Und weil du dich besser mit Grammatik auskennst als ich. Wem, wenn nicht dir, fällt dazu was ein?"

„Das ist wirklich doof", sagte er, kicherte aber dabei.

War es, aber es war doof genug, um aufzuheitern. 

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